In den Ruinen des antiken Teos wurde ein obszönes Schmähgedicht aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. gefunden. Es könnte ein Werk des griechischen Lyrikers Anakreon sein.
Wir wissen nicht, wer Eunomie war. Vielleicht hat es sie nie gegeben. Aber wenn sie tatsächlich gelebt hat, konnte sie sich in Teos kaum blicken lassen. Einen guten Ruf hatte sie nicht. Zumindest, wenn man der Inschrift glauben will, die in den Ruinen der antiken Stadt in der Westtürkei gefunden wurde. Vor 2500 Jahren wurde sie geschrieben. Auf Griechisch, sorgfältig in einen grossen Marmorblock gehauen. Und was da steht, ist so ungewöhnlich wie verstörend.
Es ist keine Inschrift, wie man sie zu Dutzenden kennt. Keine Hommage auf einen Menschen, der nur aus guten Eigenschaften zu bestehen scheint. Im Gegenteil, es ist eine üble Schimpftirade gegen eine Frau. Eunomie heisst sie und wird auf derbste Weise als untreu, böse und als Hure geschmäht. Von einem Mann. Der Verfasser war vielleicht ihr Gatte, vielleicht ihr Geliebter – und möglicherweise einer der berühmtesten Dichter der griechischen Antike: Anakreon von Teos.
Vor gut zehn Jahren war der Stein entdeckt worden. Er war in die Umfassungsmauer der antiken Stadt verbaut, und der türkische Althistoriker Mustafa Adak sah sofort, dass er eine Inschrift trug. Aber sie war schwer zu lesen, und aus den erkennbaren Wortfetzen liess sich nicht schliessen, worum es geht. Sie ist in altertümlichen, zum Teil stark beschädigten Buchstaben geschrieben und konnte erst durch aufwendige Untersuchungen lesbar gemacht werden.
Zusammen mit dem Philologen Andrej Petrovic von der University of Virginia in Charlottesville und dem Althistoriker Christian Marek von der Universität Zürich gelang es Adak, den Text zu entziffern. Unter anderem mit einem Verfahren, das die Fläche dutzendfach in verschiedenem Licht fotografiert und die Aufnahmen digital zu einem dreidimensionalen Bild kombiniert.
«Die Niedertracht ihres Herzens»
Das Resultat war eine Überraschung. Zum einen wegen des hohen Alters der Inschrift. Sie entstand am Ende des 6., allenfalls Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. und gehört damit zu den ältesten griechischen Inschriften, die im Gebiet von Kleinasien gefunden wurden. Dann, weil der Text zu mehr als zwei Dritteln aus Versen besteht. Eine ähnlich lange Versinschrift aus dieser Zeit war bisher nicht bekannt.
Dazu kommt der Inhalt, der einzigartig ist: ein fünfzehn Verse langes Gedicht, an das sich ein Prosatext anschliesst. Im Prosateil legt der Verfasser fest, niemand dürfe am Gedicht etwas ändern, und verweist darauf, dass diese Verfügung unter dem Schutz der Stadt Teos stehe. Wer sich nicht daran hält, heisst das, muss damit rechnen, bestraft zu werden.
Der Inhalt des Gedichts schliesslich ist drastisch. Auch für antike Verhältnisse, wo Derbheiten ganz selbstverständlich zur Literatur gehörten. Der Autor gibt sich enttäuscht von der Frau, für die er die Inschrift errichten liess. «Ein einzigartiges Denkmal an einem begehrten Ort», steht am Anfang, als ob es sich um eine Grabinschrift handeln würde.
Einzigartig ist das Stück tatsächlich. Eunomie sei sogar vom eigenen Vater verachtet worden, so beginnt der Text. Und der Schreiber bekennt voller Selbstmitleid: «Ich glaubte, ein elendes Leben vor mir zu sehen, ein Leben in der Unterwelt, / als ich die Niedertracht ihres Herzens gesehen habe.»
Tödliche Verse
Dann geht er zum Angriff über und beschimpft die Frau auf übelste Weise: «Was du getan hast, hat einen Mann sicher erregt», heisst es da, und weiter: «Oft legt sie nach Einbruch der Nacht in einem neuen Hafen an, / und wenn sie wieder herauskommt, irrt sie in übler Raserei herum / bald zwei, bald drei Nächte lang schuftet sie im Bett / eines anderen Manns, um Ströme von Sperma aufzunehmen.»
Schmeichelhaft ist das nicht, und die Vorstellung, dass die Stele an einem «begehrten Ort», also wahrscheinlich an prominenter Stelle auf dem Marktplatz von Teos, aufgestellt war, erscheint aus heutiger Sicht ziemlich seltsam. Dass die Stadt eine Strafe für die Schändung des Denkmals androhte, erst recht.
Vom Ton her klingt das Gedicht allerdings nicht unvertraut. Schmähgedichte waren in der antiken Literatur eine eigene Gattung. Der Ahnherr der griechischen Lyrik, Archilochos von Paros, setzte im 7. Jahrhundert v. Chr. einen ersten Höhepunkt mit Hassgedichten auf seine Feinde, Männer wie Frauen. Der Legende nach soll er eines seiner Opfer mit Versen in den Selbstmord getrieben haben.
Archilochos fand Nachfolger. Einer davon kam aus Teos und lebte zu der Zeit, in der die Inschrift entstanden ist: der Lyriker Anakreon, der um 570 v. Chr. geboren wurde. Er war schon zu Lebzeiten ein Star und wurde bis in die Spätantike als einer der bedeutendsten griechischen Dichter verehrt. Seine Werke sind nur in Fragmenten überliefert, als Zitate bei anderen Autoren oder in Resten auf Papyrusfetzen, die bei Ausgrabungen gefunden wurden.
Liebe, Wein und Sex
Die Verse von der Inschrift aus Teos passen zu dem, was man von Anakreon kennt. Seine Gedichte handeln von Liebe, Wein und Sex, von schönen jungen Männern und Frauen, vom Genuss des Lebens und davon, wie rasch die Zeit vergeht. Da ist von Jünglingen die Rede, die den Dichter ignorieren, weil er graue Haare bekommt, von Eros, der mit dem roten Ball der Liebe um sich wirft, und ein junges Mädchen wird mit einem Fohlen verglichen, das gezähmt und beritten werden müsste. Vorgetragen wurden die Gedichte beim Symposion, dem feuchtfröhlichen Zusammensein unter Männern.
In diesen Kontext könnte auch das Gedicht über Eunomie gehören. Der Verfasser bezeichnet sich in einem der Verse selbst als Sänger – und zwar mit einem Wort, das sonst nur in einem einzigen Gedicht vorkommt, das den Stil des Anakreon imitiert. Und die Bestimmung, dass die Inschrift unter dem Schutz der Stadt steht, nimmt in der Formulierung so direkt Bezug auf ein Gedicht eines zeitgenössischen Dichters, dass man von einer bewussten Anspielung ausgehen muss.
Ist das seltsame Hassgedicht also ein Werk von Anakreon? Die an der Bearbeitung des Textes beteiligten Wissenschafter äussern sich zurückhaltend. Doch es deutet einiges darauf hin. Unter den Anakreon-Fragmenten findet sich keines, das so explizit obszön ist wie dieses. Dies spricht allerdings nicht gegen Anakreons Verfasserschaft. Erhalten sind von ihm rund hundert Fragmente, die längsten umfassen ein gutes Dutzend Zeilen. Das ist ein Bruchteil dessen, was er geschrieben hat. Die massgebliche antike Gesamtausgabe seiner Werke umfasste fünf Bände.
Seltsam bleibt, dass das Gedicht in Stein gemeisselt und öffentlich ausgestellt wurde. Wollte die Stadt Teos ihrem grossen Dichter ein Ehrenmonument errichten und stellte deshalb auf einer Marmorstele eines oder mehrere seiner berühmtesten Gedichte aus? Vielleicht zusammen mit einer Statue oder einem Porträt? Möglich wäre es, der erhaltene Stein ist oben abgebrochen. Dem Ruhm Anakreons wäre es angemessen. Auf der Akropolis in Athen befand sich seit dem 5. Jahrhundert auch ein Standbild von ihm, als einem der grossen Dichter der Griechen.
Warum Anakreon in Teos ausgerechnet mit einem Hassgedicht verewigt wurde, bleibt rätselhaft. Vielleicht, um zu zeigen, dass Gedichte den Lauf der Zeiten überdauern? Dieser Nachweis wäre eindrücklich gelungen. Ob Eunomie je gelebt hat oder nicht: Bis zum heutigen Tag wird sie vom Hass ihres ehemaligen Liebhabers verfolgt.