Montag, September 30

Wie die Benin-Bronzen in ein Land ohne Kolonien kamen – und warum sie es bald wieder verlassen könnten.

Die Gürtelmaske: in Benin ein Gebrauchsgegenstand, in Europa ein inventarisiertes Kunstobjekt.

Da sitzt der gefallene König, mit bitterem Gesicht, in einen prunkvollen Mantel gehüllt. Klein sieht er aus in seinem Korbstuhl, überragt von den drei Kolonialsoldaten hinter ihm. Besiegt, auf dem Weg ins Exil, seiner Schätze beraubt.

Das Bild, 1897 aufgenommen, zeigt Oba Ovonramwen, den Herrscher des Königreichs Benin, an Bord einer britischen Jacht, kurz nach der Zerstörung seines Reichs und seines Palastes. Das Bild, koloriert und auf Kartonkärtchen gedruckt, wird zum beliebten Sujet, mit dem Europäer in den Kolonien ihre Liebsten in der Heimat schön grüssen.

Der König eines jahrhundertealten Reiches, reduziert auf ein Postkartensujet.

Es ist das Ende einer britischen «Strafexpedition», wie sie damals gang und gäbe sind, um lokale Herrscher zur Unterwerfung zu zwingen. Nominell ist sie eine Reaktion auf die Tötung einer britischen Handelsdelegation. Das eigentliche Ziel aber ist die Kontrolle von Land und Bodenschätzen, etwa Palmöl, aus dem Produkte wie Margarine oder Seife hergestellt werden.

Im Februar 1897 greifen Kolonialtruppen Benin City an, die Hauptstadt des Reichs, das im Gebiet des heutigen Nigeria liegt. Die 1200 Briten nehmen die Stadt in Windeseile ein, dank moderner Militärtechnologie – etwa dem kürzlich entwickelten Maschinengewehr. Sie zerstören und plündern den Palast, brennen den Grossteil der Stadt nieder. Acht Briten kommen ums Leben – die Zahl der zivilen Opfer, wohl viele, ist bis heute unbekannt.

In Europa wird der Feldzug als Sieg über die «Wilden» gefeiert. Gross wird über die Menschenopfer berichtet, die der Oba zum Schutz vor den Invasoren begangen haben soll. Er selbst steht ohne Land, Macht und Würde da.

Vor allem aber verliert er etwas anderes: die in Messing gegossene, in Elfenbein geschnitzte Erinnerung seines Volkes.

Die verlorene Erinnerung

Rund zehntausend Objekte rauben die Briten aus dem Palast. Köpfe von Königen, für die Ewigkeit in Metall gegossen. Reliefplatten mit Figuren, die an der Wand aufgehängt die Geschichte dieses Reichs erzählen. Lange Stosszähne, die, auf einen Ahnenschrein gesetzt, dessen Heldentaten und Kämpfe erzählen.

Für das Königreich Benin, das über keine eigene Schrift verfügt, sind diese Objekte und ihre Anordnung im Palast wie ein riesiges Geschichtsbuch. Eines, dessen Seiten nun auseinandergerissen und zerfleddert auf der ganzen Welt verteilt werden. Denn die Objekte landen in Museen und Privatsammlungen in ganz Europa.

Nun stehen 25 dieser Objekte in Zürich. Da ist der massige Gedenkkopf eines seit Jahrhunderten toten Königs. Dort die Reliefplatte eines Prinzen, der seinen Lendenschurz anhebt – der Legende nach, um zu beweisen, dass er wirklich ein Mann war und keine Frau.

Oder der Elfenbeinzahn, auf dem ein Oba mit gelähmten Beinen gezeigt wird. Eine Schwäche, die er jahrelang vor seinen Untertanen verheimlicht – bis er auf dem Weg zu einer Konkubine entdeckt und daraufhin lebendig begraben wird.

Zwei Ausstellungen im Museum Rietberg und im Völkerkundemuseum Zürich zeigen die aus Benin geraubten Kunstschätze. Die Jahre sind nicht spurlos an den Objekten vorübergezogen: Bei einem sind noch die Brandspuren von 1897 zu sehen, ein anderes wurde grob zerteilt, einem dritten wurde ein neuer Kopf aufgepfropft, damit es «authentischer» aussieht.

127 Jahre nach ihrer Plünderung sind sie zu einem globalen Politikum geworden: den umstrittensten Raubgütern der Kolonialzeit – den sogenannten Benin-Bronzen.

Wie aber kamen 25 von ihnen nach Zürich, in ein Land ohne Kolonien?

Das Messing und die Sklaven

Die Geschichte der Benin-Bronzen, die meist gar nicht aus Bronze sind, beginnt lange vor der britischen Strafexpedition. Und sie ist eigentlich auch gar nicht so urafrikanisch, wie sie zuweilen dargestellt wurde.

Die Anfänge des Königreichs werden auf 600 nach Christus geschätzt, im 15. Jahrhundert wurde es zur regionalen Grossmacht. Zu dieser Zeit begann auch ein reger Handel mit Europäern, allen voran portugiesischen Händlern. Benin verkaufte Metalle, Pfeffer – und immer mehr auch Sklaven, die nach Amerika verschifft und zu Plantagenarbeit gezwungen wurden.

Im Gegenzug erhielt das Königshaus massenhaft Messing, das etwa aus dem deutschen Rheinland stammte. Es gab zuvor schon Giesskunst in Benin. Das Gros der später geraubten Metallobjekte entstand aber auf Basis des europäischen Imports – und damit des Sklavenhandels, der ihn finanzierte.

Der Oba und seine Gefolgsleute: nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Die Benin-Bronzen: von Anfang an ebenso globale wie lokal verankerte Objekte.

Auch diese komplizierte Geschichte machte der britische Überfall auf Benin unsichtbar. Wobei die Sklavengeschäfte des Oba den Kolonialherren – einst selbst führend im Sklavenhandel, bis sie ihn 1807 verboten – als weiterer Beweis seiner Barbarei dienten. Ebenso wie die Sklaven, die beim Überfall von 1897 angeblich befreit wurden.

Das Innere des Königshofes in Benin nach der Zerstörung 1897. Eine Reliefplatte, aus dem Kontext gerissen. Eine Reiterfigur, mit später nachgebildetem Kopf: Die Benin-Bronzen wurden unzimperlich behandelt.

Die Benin-Bronzen stellten ihre neuen Besitzer allerdings auch vor ein Problem: Wie konnte ein Volk, das angeblich so unzivilisiert war, so raffinierte Gegenstände herstellen?

Die Ahnenschreine Benins waren elaborierte Kompositionen: mit Messingköpfen von Vater und Mutter, aus denen die beschnitzten Stosszähne ragten, davor eine Reihe hauchdünn gegossener Glocken.

In Europa wurden sie zunächst als Ethno-Kitsch präsentiert. Unter dem Titel «Curiosities» bot ein Londoner Auktionshaus 1898 eine Sammlung von «Benin-Kuriositäten» zum Verkauf an. Anfangs kosteten sie wenig, zum Teil nur ein paar Pfund. Viele Objekte landeten in ethnologischen Museen wie dem British Museum in London.

Dann entdeckten Kunsthändler und Avantgardisten die Benin-Bronzen – und ihre Verwandlung in wertvolle Kunstschätze begann.

Der Dandy und die Bronzen

Wann genau der Zürcher Han Coray sein erstes Stück Raubgut kaufte, ist unbekannt. Klar ist aber, dass er 1931 – als sie ihm wieder genommen wurde – über eine der grössten Sammlungen von Benin-Bronzen in der Schweiz verfügte.

Coray war ein früher Förderer der Dada-Bewegung, ein Lebemann mit ausschweifendem Lebensstil. Aber er war auch ein Heimkind, 1880 als Sohn mittelloser Eltern in der Ostschweiz geboren. Der Vater war gewalttätig, verliess die Familie früh. Die Mutter starb kurz darauf. Karl Heinrich Coray, wie er damals hiess, landete im Waisenhaus. Dort gab er sich den Vornamen Han – in Anlehnung an ein chinesisches Kaisergeschlecht.

Coray wurde Lehrer, dann Schulleiter, dann Galerist und Buchhändler. Er verkehrte im Cabaret Voltaire, mit Dada-Grössen wie Hans Arp und Schriftstellern wie Friedrich Glauser. 1920 heiratete er die Tochter eines niederländischen Ölmagnaten, der sein Vermögen im kolonialen Niederländisch-Ostindien gemacht hatte, dem heutigen Indonesien.

Mit dem Geld des Schwiegervaters legte Coray eine Kunstsammlung an, die die NZZ einmal «zweit- bis drittklassig» nannte. Mit einer Ausnahme: den Objekten aus Afrika, darunter etliche aus Benin.

Für Männer wie Coray – aber auch andere Vertreter der künstlerischen Avantgarde, von Surrealisten bis Kubisten – waren diese Objekte Kunst. Als solche wurden sie auch zunehmend ausgestellt, so etwa 1931 im Zürcher Kunstgewerbemuseum unter dem Titel «Negerkunst».

Aus Verniedlichung wurde Bewunderung, aus Ethno-Kitsch Ästhetik. In dunklen Zimmern auf kargen Sockeln wurden sie gezeigt, dramatisch beleuchtet. Je mehr die Schönheit der Objekte im Zentrum stand, desto mehr verschwand ihre Geschichte. Und desto grösser wurde ihr Wert auf dem Kunstmarkt.

Han Coray allerdings nützte das wenig. 1928 beging seine Frau – zuvor bei Carl Jung in Behandlung, einem Pionier der Psychotherapie – auf tragische Art Selbstmord. Daraufhin verlor ihr Mann, vom Geldhahn abgeschnitten und hoch verschuldet, sein Hab und Gut.

Han Coray setzte sich mit seiner langjährigen Geliebten ins Tessin ab, wo er bis zu seinem Tod im Alter von 94 Jahren lebte.

Seine Kunstsammlung landete im Besitz der Schweizerischen Volksbank, die Coray hohe Kredite gewährt hatte. Sie beauftragte die völkerkundliche Sammlung der Universität Zürich mit der Bewertung der Benin-Bronzen, woraufhin diese einen Gutteil davon kaufte und im Uni-Turm ausstellte.

Damit wurde das ehemalige Raubgut zu Zürcher Staatsbesitz. Fast gleichzeitig, im Jahr 1935, stellte der Enkel des abgesetzten Oba die erste bekannte Rückgabeforderung an die europäischen Besitzer – die erste von vielen.

Die Museen und die Restitution

Die Benin-Bronzen in Schweizer Besitz wurden derweil mehr. Sechs Museen besitzen heute Objekte, die sicher oder wahrscheinlich aus der Strafexpedition von 1897 stammen. Insgesamt 53 sind es, wie Forschungen der Benin-Initiative Schweiz unlängst ergaben.

Man habe es als Pflicht gesehen, einige Zeugnisse dieser «für immer verschwundenen Kultur» zu retten, heisst es in der Begründung des frühesten bekannten Kaufs von 1899 aus Basel. Eine interessante Begründung, gibt es die traditionelle Messinggiesserei in Nigeria doch bis heute.

Andere Benin-Bronzen kamen erst später über den regulären Kunstmarkt nach Zürich. Das letzte Objekt wurde erst 2011 gekauft, vom Zürcher Museum Rietberg.

Es ist eine Gürtelmaske aus dem 17. oder 18. Jahrhundert. Einst als Anhänger über einem Wickeltuch getragen, hat sie seit 1897 eine wahre Odyssee hinter sich: London, Leipzig, Stuttgart, USA, Amsterdam, Montreal und schliesslich Zürich. Die gesicherte Abstammung aus dem Raubzug galt beim Kauf durch das städtische Museum als besonderes Gütesiegel – ein Beweis für Authentizität.

Nun stellt sich für die Schweizer Museen die Frage: Wie umgehen mit diesen Objekten und ihrer Geschichte? Wie etwas als Museumsstück zeigen, das längst zum politischen Gegenstand geworden ist, zum Symbol für koloniales Raubgut?

Zwei Ausstellungen – im Museum Rietberg und im Völkerkundemuseum – stellen sich ab heute diese Fragen. Und geben darauf sehr unterschiedliche Antworten.

Für Dekonstruktion hat sich das Völkerkundemuseum entschieden. Dort werden den Benin-Bronzen nach und nach die historischen Bedeutungsschichten abgezogen: die Verbindung nach Zürich, der koloniale Kontext, die Vorgeschichte in Benin.

Bis am Schluss nur noch das Handwerk da ist – in Gestalt eines heutigen Messinggiessers, der seine Kunst zeigt.

Eine neue Geschichte versucht dagegen das Rietberg zu erzählen. Eine mit zwei Perspektiven: jener der afrikanischen Kunst- und Kulturgeschichte. Und jener des westlichen Blicks auf die Benin-Bronzen.

Erst ihr Wechselspiel ist es, das die Vergangenheit der Objekte mit ihrer Gegenwart verbindet – und ihrer ungewissen Zukunft. Dort steht jene Frage, zu der jede Geschichte über die Benin-Bronzen unweigerlich führt: Zurückgeben oder nicht?

Das letzte Wort werden die Besitzer haben, in diesem Fall Stadt und Kanton Zürich. Die beiden Museen haben sich jedoch bereits für eine Rückgabe ausgesprochen. Auch europaweit deutet der Trend in diese Richtung – Frankreich und Deutschland haben in den letzten Jahren rund vierzig Benin-Bronzen nach Nigeria restituiert, über tausend weitere sollen folgen.

Gut möglich also, dass der Kopf des Oba, der Stosszahn mit den Brandspuren, die filigrane Gürtelschnalle gerade zum letzten Mal in Zürich zu sehen sind.

Oba Ovonramwen, ihr einstiger Besitzer, starb 1914 im Exil. Seine Schätze dagegen könnten 127 Jahre nach ihrem Raub dorthin zurückkehren, wo sie einst geschnitzt und gegossen wurden.

Museum Rietberg: «Im Dialog mit Benin», bis 16. Februar 2025. Völkerkundemuseum Zürich: «Benin verpflichtet», bis 14. September 2025.

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