Weisse Amerikaner begingen 1921 eines der schlimmsten Verbrechen der USA. Im Blutrausch töteten sie Hunderte von Afroamerikanern und zerstörten das Viertel Greenwood in Tulsa, Oklahoma. Entschädigt wurden die Opfer jedoch nie.
Eine der frühesten Kindheitserinnerungen von Viola Fletcher ist ein Pogrom an ihrer Gemeinschaft. Fletcher ist Afroamerikanerin und lebte als kleines Mädchen mit ihrer Familie im Stadtteil Greenwood in Tulsa, Oklahoma. In der Nacht vom 31. Mai 1921 wurden sie und ihre fünf Geschwister plötzlich von den Eltern geweckt. «Wir müssen weg», hätten sie gesagt.
In dieser Nacht begann das Massaker von Tulsa, bei dem ein weisser Mob innerhalb von 24 Stunden 300 afroamerikanische Einwohner ermordete und Greenwood dem Erdboden gleichmachte.
«Ich werde niemals die Gewalttätigkeit des weissen Mobs vergessen, als wir das Haus verliessen», sagte Fletcher 100 Jahre nach dem Massaker im Jahr 2021 vor dem amerikanischen Kongress. «Ich sehe immer noch schwarze Männer, die erschossen werden, Schwarze, die in den Strassen liegen. Ich rieche noch den Rauch, sehe das Feuer. Ich erlebe das Massaker jeden Tag neu.»
Klagen auf Wiedergutmachung abgewiesen
Heute ist Viola Fletcher 110 Jahre alt und eine der zwei ältesten Überlebenden des Massakers von Tulsa. Die zweite Frau heisst Lessie Benningfield Randle und ist 109 Jahre alt. Die beiden Frauen werden auch Mother Fletcher und Mother Randle genannt. Zusammen kämpfen sie dafür, dass das Massaker an ihrer Gemeinschaft von 1921 endlich aufgearbeitet wird.
Im Juni hatte der Oberste Gerichtshof von Oklahoma ihre Klage auf Wiedergutmachung abgewiesen. Diese Woche nun forderten die Frauen das amerikanische Justizministerium auf, eine Untersuchung einzuleiten. In einer gemeinsamen Erklärung schrieben Randle und Fletcher: «Unser Rechtssystem verweigert schwarzen Amerikanern nach wie vor die Möglichkeit, vor dem Gesetz Recht zu bekommen.»
«Mit eigenen Augen haben wir gesehen, wie weisse Amerikaner zerstörten, töteten und plünderten, das hat sich tief in unser Gedächtnis eingebrannt», sagten Randle und Fletcher in der Mitteilung. Trotz diesen offensichtlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei nicht ein einziges Mal Anklage erhoben worden, die meisten Versicherungsansprüche seien unbezahlt geblieben oder nur zu einem Bruchteil des Dollars beglichen worden. «Die schwarzen Tulsaner wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und in Angst zu leben.»
Die Presse schrieb den Lynchmob herbei
Das Massaker von 1921 ausgelöst hatte ein Zeitungsbericht der «Tulsa Tribune». Am 30. Mai war Dick Rowland, ein 19-jähriger Afroamerikaner, in einen Lift im Zentrum der Innenstadt gestiegen. Dort arbeitete Sarah Page, eine 17-jährige weisse Aufzugführerin. Möglicherweise stolperte Rowland, berührte Pages Arm, die einen Schrei ausstiess. Ein anderer Angestellter sah, wie Rowland wegrannte, und meldete der Polizei, dass Rowland versucht habe, Page zu vergewaltigen.
Das angebliche Opfer Page sagte aus, dass nichts Gravierendes passiert sei, und stellte keine Anzeige. Selbst die Polizei hielt den Fall für unbedeutsam. Doch die «Tulsa Tribune» schrieb einen sensationsheischenden Bericht, in dem sie zum Lynchmord aufrief. Überliefert ist der Bericht nur durch Zeitzeugen, denn die Originalberichte in den Archiven wurden später absichtlich vernichtet.
Am Abend des 31. Mai fand sich vor dem Gefängnis, in dem Rowland einsass, eine wütende Rotte weisser Einwohner zusammen. Zunächst gelang es, den Mob zurückzuhalten. Doch später in der Nacht eskalierte die Situation.
10 000 Weisse, teilweise mit Maschinengewehren bewaffnet, plünderten die Wohn- und Geschäftshäuser und setzten diese in Brand, auch die Kirche. Wer sich in den Weg stellte, wurde erschossen. Die afroamerikanische Bevölkerung des Stadtteils Greenwood hatte keine Chance.
Die Polizei, in der Nacht zu «Hilfssheriffs» ernannte Weisse und später die Nationalgarde entwaffneten und internierten systematisch alle afroamerikanischen Männer, so dass das Viertel noch schutzloser war.
Nach dem Massaker verliessen viele Überlebende die Stadt. Der Bürgermeister forderte gar eine verstärkte Segregation und die Ansiedlung der schwarzen Bevölkerung ausserhalb der Stadt. Die damals erhobenen Schadenersatzklagen beliefen sich auf 1,8 Millionen Dollar. Doch die Verfahren wurden Anfang der 1930er Jahre eingestellt.
Das Geschäfts- und Wohnviertel Greenwood, das einst den Namen «Black Wall Street» trug, wurde zwar wieder aufgebaut, fand jedoch nie mehr zu alter Blüte zurück. Der in den 1960er Jahren mitten durch das Viertel gebaute Highway stellte in den Augen vieler die zweite Zerstörung der «Black Wall Street» dar. Die Gentrifizierung tat ihr Übriges.
Mother Randle wurde 1980 aufgrund der Stadtentwicklungspolitik der Stadt Tulsa gezwungen, das Haus ihrer Familie in Greenwood zu verlassen.
Das Massaker totgeschwiegen
In den Jahrzehnten nach der Tragödie wurde in den USA nicht über das Massaker gesprochen. Erst zum 100. Jahrestag nahm Joe Biden 2021 als erster amerikanischer Präsident an einer Gedenkveranstaltung teil.
Der Anwalt Hannibal Johnson erklärte 2021 in der NZZ das Jahrzehnte dauernde Verschweigen mit einem «kollektiven Trauma», das sowohl Schwarze wie Weisse verfolge. «Die Weissen schämten sich für das Massaker. Einige hatten Angst, doch noch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sie wollten Tulsa als moderne, aufstrebende Ölstadt präsentieren», sagte er. Die Schwarzen hätten Angst vor einer Wiederholung der Katastrophe gehabt und ihre Nachkommen nicht mit den unerträglichen Erinnerungen belasten wollen.
Erst 1997 hat die Aufarbeitung begonnen, mit der sogenannten Tulsa Race Riot Commission. Die Arbeitsgruppe kam zu dem Schluss, dass die damalige Stadtverwaltung Mitschuld an den Ereignissen trug. Zudem sprach sie sich für Reparationszahlungen an die Überlebenden aus. Das Parlament von Oklahoma lehnte die Forderung jedoch ab.
2020 klagte die Überlebende Mother Randle gegen die Stadt. Im Jahr darauf erhoben weitere Überlebende Klagen, in denen sie den Institutionen vorwarfen, den damaligen Angriff auf Greenwood gebilligt, unterstützt und sich daran beteiligt zu haben. Zudem sollen sie nach der weitgehenden Zerstörung des Viertels den Wiederaufbau verhindert haben.
Nachdem der Oberste Gerichtshof von Oklahoma die Klage auf Entschädigungen im Juni abgewiesen hat, liegt nun die Hoffnung auf dem Justizministerium in Washington. Die Anwältin von Fletcher und Randle sagte am Dienstag: «Es ist an der Zeit, dass die Verwaltung nicht nur Mother Randle, nicht nur der Greenwood-Gemeinschaft, sondern dem schwarzen Amerika zeigt, dass sie in der Zeit der Not an unserer Seite steht.»