Mittwoch, Oktober 9

Von einer Frau, die gelernt hat, keinem zu trauen.

Wenn Katarina Tschan-Polgar die Kopfhörer aufsetzt, hört sie die Verbrecher reden. Sie hört sie über Drogenhandel sprechen, über Überfälle. Und über Menschen, die sie getötet haben. Oft reden sie aber auch über Alltägliches – im Auto, am Telefon.

Dass ihnen jemand zuhört, mit Kopfhörern bestückt, in einem Bürogebäude der Zürcher Polizei, das wissen sie nicht.

Katarina Tschan-Polgar ist Dolmetscherin. Sie übersetzt, wenn andere im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben. Für die Kantonspolizei Zürich überträgt sie lange Abhörprotokolle aus dem Serbischen oder Kroatischen ins Deutsche. Vor Gericht sorgt sie dafür, dass Beschuldigte oder Zeugen die Richter verstehen und umgekehrt.

Zum Beispiel während eines Mordprozesses im Januar 2024. Es ist ein langer Verhandlungstag, voller grausamer Details. Ein serbischer Grossvater, der die Frau seines Enkels getötet hat – weil sie die Scheidung wollte. In einem Rollstuhl sitzt der Mörder da, mit stoppeligem Haar und steinerner Miene.

Wenn er sein Opfer als «Hure» bezeichnet, wenn er erzählt, dass er sie «liebte wie eine Tochter», ist es Tschan-Polgar, die die Sätze auf Deutsch in den Gerichtssaal sagt. Gleich neben ihm sitzend, fast eingeklemmt in dem engen Raum, der zwischen Rollstuhl und Wand übrig blieb.

«Wenn man übersetzt, darf man nicht zu viel an den Inhalt denken», sagt sie. «Man darf nicht urteilen. Man darf sich nicht mit dem Opfer identifizieren.»

Man darf nicht – und kann manchmal doch nicht anders.

Als der Mörder spricht, wird ihr eiskalt

Einmal, es ist ein paar Jahre her, übersetzte Tschan-Polgar vor Gericht, in einem anderen Mordprozess. Der mutmassliche Täter wurde befragt. Der Mann hatte seine Frau getötet, nach Jahren der Gewalt.

Drohungen, dann Schläge, dann das Einsperren und der Psychoterror: Es ist eine langsame Eskalation der Gewalt, die die Dolmetscherin übersetzen muss.

Eine, die sie selber kennt. «Es war mir so vertraut, ich habe das in den Knochen gespürt», sagt sie. Während er erzählt, beginnt ihr Herz zu rasen, es wird ihr eiskalt in der Brust. Gegen aussen aber lässt sie sich nichts anmerken. Auch das hat sie früh gelernt.

Katarina Tschan-Polgar übersetzt, seit sie denken kann. 1964 wird sie geboren, im sozialistischen Jugoslawien unter dem Langzeitherrscher Tito. Ihre Eltern stammen aus der ungarischen Minderheit. Der Vater ist in Bosnien aufgewachsen, die Mutter in Serbien, zusammen leben sie in Kroatien. Die Familie hat zwölf Kinder, Katarina ist das neunte – «die Chefin der Kleinsten».

Sie vermittelt zwischen Älteren und Jüngeren. Zwischen Einheimischen und den Hausgästen der Familie – Touristen aus England, Italien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden.

Vor allem aber lernt sie früh, eine andere Sprache zu verstehen: die der Gewalt.

Ihr Vater, ein ehemaliger Militäroffizier, während des Zweiten Weltkriegs lange in Kriegsgefangenschaft, schlägt und terrorisiert seine Nächsten. Die Kinder drillt er mit Gewalt zu Höchstleistungen. «Wenn ich nicht mit einer Spitzennote nach Hause kam, gab es eine schwere Strafe», sagt Tschan-Polgar.

Jugend in einem Land ohne Zukunft

Als sie elf ist, verlässt der Vater die Familie. Die Mutter, geschwächt nach drei Herzinfarkten, kann nicht allein für die Kinder sorgen. Alle müssen helfen. Und doch sind sie froh, dass der Vater weg ist.

«Wir haben viel gehungert und gearbeitet, wo wir konnten», sagt Tschan-Polgar. Doch daneben musiziert die Familie auch, führt eigene kleine Theater auf, in verschiedenen Sprachen.

Um Geld zu verdienen, beherbergt sie Touristen. Die junge Katarina putzt und kocht und führt die Gäste herum. Statt dass sie umsorgt wird, umsorgt sie je länger, je mehr die anderen.

Ihre Mitschülerinnen erscheinen ihr kindlich mit ihren altersgerechten Sorgen. Sie fühlt sich ihnen fremd.

«Ich habe bis heute keinen engen Freund», sagt Tschan-Polgar. «Ich habe damals gelernt: Ich kann mich nur auf mich selbst verlassen.»

Sie studiert Deutsch und Spanisch, bekommt ein Angebot zum Doktorieren. Doch sie lehnt ab. Der Lohn hätte weder für sie, geschweige denn für ihre Familie gereicht. Andere, besser bezahlte Stellen habe sie nicht bekommen können. «Wir waren katholisch und dazu nicht in der Kommunistischen Partei – unmöglich», sagt sie. «Ich wusste: Ich habe hier keine Zukunft.»

Und immer die gewalttätigen Männer

Mit 24 verlässt sie Jugoslawien, geht als Au-pair nach England, macht auch dort eine Sprachausbildung. Kurz nachdem sie gegangen ist, zerbricht ihre Heimat. Die Jugoslawienkriege lassen das Land während eines Jahrzehnts des Grauens in unzählige Republiken zerfallen.

Tschan-Polgar wechselt nach einigen Jahren aus England in die Schweiz. Dort arbeitet sie als Krankenpflegerin und Putzfrau, im Hotel und in der Psychiatrie, hütet Kinder und wäscht Teller, wird schliesslich Sekretärin. Sie heiratet, bekommt Kinder.

Mit 39 findet sie den Beruf, der wie für sie bestimmt zu sein scheint: als Übersetzerin vor Gericht und bei der Polizei.

Tschan-Polgar spricht neben Deutsch fliessend Kroatisch, Serbisch, Bosnisch, Ungarisch, Spanisch und Englisch. Die Sprachen hat sie im Vielvölkerstaat Jugoslawien gelernt und durch ihre Emigration perfektioniert. Nun, nach einer zweijährigen Ausbildung, ermöglichen sie ihr in der Schweiz einen Neuanfang.

Ihr erster Einsatz ist in Winterthur, Anfang der nuller Jahre. Es geht um häusliche Gewalt, die Ermittler wollen das Opfer befragen. «Einer der häufigsten Fälle in meiner Arbeit», sagt sie. Alle paar Wochen ist sie mit Männern konfrontiert, die ihren Partnerinnen Gewalt antun. Es seien jene Fälle, in denen es ihr am schwersten falle, die Ruhe zu bewahren.

Ohne sie funktioniert die Justiz nicht

Im Kanton Zürich sind Gerichtsdolmetscherinnen Freelancer. Sie müssen sich beim Obergericht akkreditieren und arbeiten dann auf Auftrag. 486 solcher Dolmetscher gibt es, für 101 Sprachen. Sie leisten pro Jahr rund 27 000 Einsätze bei Gerichten, Polizei und Staatsanwaltschaft.

Normalerweise bleiben sie im Hintergrund, ihre Arbeit wird praktisch nie zum Thema. Nur manchmal, wenn eine Partei mit der Übersetzung unzufrieden ist, kann es ungemütlich werden. Auch Tschan-Polgar hat schon solche Situationen erlebt.

Übersetzer bei polizeilichen Überwachungsmassnahmen – sogenannte Sprachermittler – haben die wohl heikelste Aufgabe aller Dolmetscher. Darum gibt es von ihnen nochmals weniger. Insgesamt 58 sind es im Kanton Zürich. Tschan-Polgar ist eine von ihnen.

Die Anforderungen, um als Dolmetscherin oder Sprachermittlerin zu arbeiten, «gelten als die höchsten in der Schweiz», schreibt das Zürcher Obergericht der NZZ. Sie umfassen mehrtägige Kurse, Prüfungen im Übersetzen und in juristischem Grundlagenwissen sowie eine periodische Überprüfung der geleisteten Arbeit. Dazu kommt ein Deutschnachweis auf annähernd muttersprachlichem Niveau (C2).

Auf jeden Einsatz vor Gericht bereitet sich Tschan-Polgar penibel vor. Sie liest die Anklageschrift, lernt sie oftmals auswendig. Sie schlägt juristische Begriffe nach. Zum Teil in einer Datenbank, die sie selbst angelegt hat. Während des Prozesses sitzt sie gleich neben dem Täter oder dem Opfer, für die sie übersetzt, einen Schreibblock auf den Knien.

«Ich würde zugrunde gehen»

Zuhören, notieren, übersetzen, manchmal nachfragen: Jedes Wort muss in diesem Moment stimmen. Täte es das nicht, das zentrale Element des Justizwesens wäre dahin: das gerechte Verfahren, in dem sich jeder Angeklagte und jedes Opfer zu allen Vorwürfen äussern darf.

Und egal, ob sie in einem Mordfall übersetzt, bei einer Scheidung oder einem Fall von häuslicher Gewalt: Tschan-Polgar muss als Übersetzerin neutral bleiben. «Ich halte emotional Abstand von den Leuten. Ich muss», sagt sie. «Sonst würde ich zugrunde gehen.»

Fragt man sie nach dem Wichtigsten, was eine Gerichtsdolmetscherin können müsse, sagt sie nur ein Wort: «Zuhören.»

Dennoch gebe es immer wieder Fälle, die sie nicht losliessen. Etwa wenn sie für minderjährige Prostituierte übersetzt, Opfer von Menschenhandel, die versteckt in Schutzhäusern wohnen müssen. Diese Geschichten schreibt Tschan-Polgar – in fiktionale Erzählungen verpackt – nieder. Nur für sich. Die Texte zeigt sie niemandem.

Privates und Berufliches trennt sie strikt. Nur einmal, sagt Tschan-Polgar, habe sie eine Ausnahme gemacht. Und zwar bei der Gruppe von Teenagern, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution wurden. Für sie übersetzt Tschan-Polgar im Verlauf ihres Verfahrens immer wieder – bei Terminen mit der Polizei und Besprechungen mit ihrer Opfer-Anwältin. Sie lernt sie kennen, «Grossmutter» nennen sie sie.

Dann, nach dem Abschluss des Verfahrens, feiern sie in ihrem Versteck Weihnachten und laden Tschan-Polgar zum Fest ein. Die Übersetzerin geht hin. «Sie waren so warm und herzlich, trotz allem, was ihnen passiert ist», sagt sie. «Es war ein wunderschönes Fest.»

Exit mobile version