Montag, November 17

Sie galten stets als treue Unterstützer von Bashar al-Asad. Jetzt schwanken Syriens Alawiten zwischen Existenzangst und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Besuch in ihren Stammlanden.

Orwa Dib ist ein einfacher Mann. Der 38-jährige Alawit sitzt in Kapuzenpullover und Trainerhose hinter dem Tresen seines Lebensmittelgeschäfts in Latakia. Draussen rattern Autos durch die Strassen der verwitterten Hafenstadt an der syrischen Mittelmeerküste. Die Sonne scheint, und ab und zu kommt ein Nachbar oder ein vereinzelter Kunde in den tristen Laden.

Knapp eine Woche zuvor hatten die Islamisten der HTS, der Hayat Tahrir al-Sham, in Syrien nach einem Blitzfeldzug die Macht übernommen und den langjährigen Herrscher Bashar al-Asad aus Damaskus verjagt. «Natürlich bin ich froh, dass Asad weg ist», sagt Dib. Schliesslich habe der korrupte Diktator viel Unheil über das Land gebracht. «Aber sicher fühle ich mich nicht. Was, wenn die Islamisten jetzt Rache üben wollen?»

Sie zogen für Asad in den Krieg

Dib ist nicht der einzige Alawit, der sich Sorgen macht. Denn die Angehörigen der konfessionellen Minderheit, die in den syrischen Küstenprovinzen die Bevölkerungsmehrheit bildet, gelten als Stütze des Regimes. Nirgendwo hatten der ebenfalls alawitische Bashar al-Asad und sein Vater Hafez so viele treue Anhänger wie hier. Zu Tausenden waren die Alawiten in den Krieg gezogen, als das Regime nach dem Arabischen Frühling 2011 in Bedrängnis geriet.

Jetzt fürchten sie, dafür einen hohen Preis zu bezahlen. Zwar haben die neuen Machthaber in Damaskus um den islamistischen Milizenchef Mohammed al-Julani angekündigt, keine Rache zu üben und die Rechte der Minderheiten zu achten. Doch dieses Versprechen kann die Alawiten nur bedingt überzeugen. «Am Ende bedeutet das alles den Untergang der Minderheiten in Syrien», flüstert ein Mann nach ein paar Gläsern Anisschnaps in einem Restaurant in Latakia.

Die angespannte Stimmung ist in der Mittelmeermetropole – die als wirtschaftliches Zentrum der Alawiten-Gebiete gilt – allerdings nur auf den zweiten Blick erkennbar. Im Zentrum wird jeden Abend immer noch gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Doch es sind vor allem die Sunniten, die in der gemischtreligiösen Stadt singend und fahnenschwingend durch die Strassen ziehen und den Sturz Asads bejubeln. Viele Alawiten halten sich zurück.

Auf dem grossen Soldatenfriedhof am Stadtrand, wo die alawitischen Gefallenen der Asad-Armee aus dem Bürgerkrieg liegen, herrscht eine bedrückende Stille. Normalerweise hatten die Veteranenverbände des Regimes hier jeden Freitag die Angehörigen der Toten herbeigekarrt. Mit dem Umsturz wurde dieser kostenlose Service jedoch eingestellt.

«Der Asad-Clan hat die Alawiten in Geiselhaft genommen»

Die Märtyrerbilder der Regime-Soldaten, die hier bis vor kurzem noch in den Strassen hingen, sind ebenfalls verschwunden. «Dabei waren wir Alawiten doch genauso Opfer des Regimes», sagt Dib, dessen Bruder im Kampf für die Asad-Armee 2016 in Ghouta gefallen war. «Mein Bruder war kein Krieger. Er wurde zwangsrekrutiert, wie so viele, und starb, als er auf eine Mine trat. Er hatte das nie gewollt.»

Das Verhältnis der Alawiten zum Regime war komplex. Die Anhänger dieser Geheimreligion, die sich einst vom schiitischen Islam abgespalten hatten, fristeten lange Zeit ein ärmliches Dasein in ihren Bauerndörfern hoch oben im sattgrünen Küstengebirge von Latakia. Mit dem Putsch des Luftwaffenoffiziers Hafez al-Asad 1970 gelangte dann einer der ihren an die Schalthebel der Macht. Seither dominierten sie das Militär.

Doch nur wenige profitierten davon. Die Mehrheit der Alawiten, die rund 15 Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen, verharrte in Armut. Als Syrien unter Hafez’ Sohn Bashar dann nach 2011 in einen brutalen Bürgerkrieg abglitt, litten sie genauso wie alle anderen Syrer unter der wirtschaftlichen Talfahrt. «Die Frau meines gefallenen Bruders bekommt nur umgerechnet 20 Dollar Witwenrente im Monat», sagt Dib, der mit seinem Laden selbst kaum über die Runden kommt.

Trotzdem schickten die Alawiten ihre Söhne in den Kampf. «Der Asad-Clan hat die Alawiten regelrecht in Geiselhaft genommen», sagt Saad Mohammed, der selbst der Sekte angehört, aber das Regime ablehnt. Er empfängt in der hell ausgeleuchteten Wohnung eines Freundes in Tartus, einer Hafenstadt rund hundert Kilometer südlich von Latakia. Mohammed trägt ein graues Jackett, raucht ununterbrochen Zigaretten und sieht die Lage vorsichtig optimistisch.

Die Alawiten gingen einfach nach Hause

Das Ende der Diktatur biete den Alawiten die Chance, am Aufbau eines neuen Staates mitzuwirken, sagt er. «Asad hatte auf Angst gebaut und die Alawiten isoliert.» Das Regime habe seinen Glaubensgenossen eingebleut, ohne den Schutz der Asad-Familie würden sie von den dominierenden Sunniten ins Meer getrieben. Dass die Islamisten der Nusra-Front, aus der später die HTS hervorging, in den Alawiten-Dörfern während des Krieges grausame Massaker verübten, tat ein Übriges.

Auch deshalb bildeten die Alawiten Milizen – wie etwa die blutrünstige Truppe des bärtigen Kriegerscheichs Ali Khizam oder die gefürchteten «Shabiha», die Mördertrupps Asads, die in den Oppositionsgebieten für Terror sorgten. Andere gingen hingegen wie Mohammed in die Opposition und weigerten sich, bei dem sektiererischen Gemetzel mitzumachen. Jetzt hofft der Spross einer einflussreichen Familie die Wunden heilen zu können.

Dabei kommt ihm zugute, dass viele der verarmten Alawiten dem korrupten Regime inzwischen den Rücken gekehrt haben. Als die Asad-Armee Anfang Dezember zum Abwehrkampf gegen die vorstürmenden Rebellen antrat, zogen die treuen Prätorianer aus den Bergen gar nicht erst in die Schlacht. Stattdessen gingen die Alawiten einfach nach Hause. Überall auf der Autobahn von Damaskus nach Tartus liegen seither zurückgelassene Panzer und Truppentransporter.

Angesichts des Zusammenbruchs der Armee konnten die Rebellen nahezu ungehindert bis tief ins alawitische Kernland vordringen. Bis jetzt agiere die HTS mehrheitlich diszipliniert, sagt Mohammed. «Sie verhalten sich tatsächlich staatstragend. Aber die Zukunft ist natürlich ungewiss.» Er hoffe auf einen säkularen Staat, in dem alle Konfessionen Syriens Platz fänden. Mit Gleichgesinnten anderer Religionsgruppen arbeitet er deshalb an einem gemeinsamen Gesellschaftsvertrag.

Gerüchte sorgen für Angst vor Rache

Bis jetzt herrscht im Land aber vor allem Chaos. Das Benzin ist teuer, auf den Landstrassen fährt man am besten nur tagsüber, und in Tartus ist morgens Gewehrfeuer zu hören. In der Hafenstadt befindet sich auch die russische Marinebasis, die jene Truppe Moskaus versorgt, welche Asad mit einer gnadenlosen Bombenkampagne im Bürgerkrieg einst den Thron gerettet hat. Der Stützpunkt soll vorerst offen bleiben. Auf der Küstenautobahn sind russische Jeeps und Lastwagen unterwegs.

Weiter oben, in den Bergdörfern der Alawiten, herrscht hingegen bereits die neue Regierung. Oder zumindest deren Soldateska. In Kardaha, dem Heimatort des gestürzten Asad-Clans, fahren die Kämpfer mit ihren Toyota-Hilux-Trucks vor dem Mausoleum des toten Hafez vor. Man habe die Lage unter Kontrolle, sagt einer ihrer Anführer, ein bärtiger Mann namens Abu Odey. «Wir halten uns von den Zivilisten fern.»

Kurz darauf verbrüdert er sich demonstrativ mit einem der Anwohner. Ein paar Tage zuvor hatten HTS-Kämpfer allerdings noch das Grab von Hafez al-Asad geschändet und innerhalb der Kuppel des Mausoleums Feuer gelegt. Auch jetzt treten die Männer aus Idlib und Aleppo mit ihren Kampfstiefeln auf den verkohlten Überresten der Sargplatte herum und stossen Verwünschungen gegen den toten Diktator aus.

«Selbst meine Tochter hatte mehr Mut»

Unter den Alawiten machen derweil Videos die Runde, die angeblich Massaker und Racheakte der siegreichen Islamisten in alawitischen Dörfern zeigen. In Kardaha geht deshalb die Furcht um. Anwohner berichten über Einschüchterungen. «Wir schwanken zwischen Hoffnung und Angst», sagt Ghadir al-Khayer, ein Asad-kritischer Staatsangestellter, der seine geflohene Verwandtschaft aus Damaskus in seinem ärmlichen Haus untergebracht hat.

Sein Bruder, ein alawitischer Offizier der Regime-Armee aus der Hauptstadt, geht im Wohnzimmer umher und redet sich in Rage. Er ist wütend auf Asad. 34 Jahre lang habe er ihm gedient, ruft er – nur um dann mit ansehen zu müssen, wie der Präsident seine Leute im Stich gelassen habe und geflohen sei: «Selbst meine Tochter hatte mehr Mut als er. Als wir aus Damaskus flohen, wollte sie wenigstens die Hühner mitnehmen. Asad hingegen hat niemanden mitgenommen.»

Immer wieder hört man in den Alawiten-Gebieten den Wunsch, der fahnenflüchtige Führer solle doch am besten gleich in seinen Stammlanden aufgehängt werden. «Wir Alawiten waren nie alle für Asad», sagt Khayer. «Wir haben ja auch gesehen, was das Regime angerichtet hat. Und viele von uns landeten ebenfalls im Gefängnis.»

Als er kurz darauf einen Bekannten besucht, der gleich unterhalb des Mausoleums wohnt, sind plötzlich Schüsse zu hören. Die Anwesenden geraten in Panik. Man solle jetzt besser gehen, sagen sie. Auf der Strasse stehen finster aussehende Kämpfer mit Kalaschnikows. Ob sie zur HTS gehören oder zu einer anderen Gruppe, weiss keiner. «Schau uns gut an», sagt Khayers Bruder später zum Abschied halb im Scherz. «Schau ein letztes Mal in unsere Gesichter, bevor sie uns die Köpfe abschneiden.»

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