Samstag, September 28

Kamala Harris geht die Probleme im US-Gesundheitssystem aus der Perspektive der Geringverdiener an, die Mühe mit hohen Medikamentenpreisen haben. Das hätte auch Auswirkungen auf europäische Krankenkassen.

Wofür steht Kamala Harris? Das fragt sich die halbe Welt – und so manches Pharmaunternehmen. Im Gesundheitswesen könnte Harris als Präsidentin viel bewegen – wenn sie will und im Parlament eine Mehrheit erhält. Ihre Entscheide würden sich auch auf die weltweite Pharmaforschung auswirken und die Medikamentenpreise in Europa.

Das teuerste Gesundheitssystem der Welt

Starten müsste aber auch eine Präsidentin Harris mit dem bestehenden amerikanischen Gesundheitswesen: ein einzigartig teures System, das in manchen Bereichen Weltspitze ist, in anderen Bereichen absurd überteuerte Gesundheitsleistungen hervorbringt.

In den Vereinigten Staaten gibt es keinen Versicherungszwang, traditionellerweise zahlten die Arbeitgeber ihren Angestellten eine Krankenversicherung. Dieser Lohnbestandteil muss nicht versteuert werden, was das System für beide Seiten attraktiv macht, selbst wenn die Prämien stolze Höhen erklimmen. 8435 Dollar betrug die durchschnittliche Jahresprämie einer vom Arbeitgeber bezahlten Krankenversicherung gemäss der Kaiser Family Foundation (KFF), einem Think-Tank. Das sind rund 700 Dollar pro Monat oder ein bisschen mehr als die Durchschnittsprämie für die Grundversicherung im teuersten Schweizer Kanton, Genf.

Die Preise für Behandlungen und Medikamente sind höchst uneinheitlich, weil sie direkt zwischen Versicherern und Leistungserbringern ausgehandelt werden. Oft im Geheimen, weil grosse Versicherer so höhere Rabatte herausholen können.

Der Einfluss des Staats im Gesundheitswesen vergrösserte sich erst mit dem schrittweisen Aufbau von zwei staatlichen Krankenversicherern – Medicare für alle über 65-Jährigen und Medicaid für Personen unterhalb der Armutsschwelle. Präsident Joe Biden hat den Interventionsspielraum deutlich ausgebaut: Die 2022 verabschiedete Inflation Reduction Act (IRA) gibt der Bundesregierung erstmals die Macht, für Medicare direkt Preisverhandlungen mit den Pharmaunternehmen zu führen.

Wie sich Harris bisher positioniert hat

Wie würde eine Präsidentin Harris in dieses System eingreifen? Das ist schwierig vorherzusagen, weil sie in der Vergangenheit ihre Position radikal geändert hat. In den Vorwahlen 2019/20 hat sie sich als Präsidentschaftskandidatin noch für «Medicare for all» ausgesprochen, also für eine staatliche Einheitskrankenkasse. Davon ist sie wieder abgekommen, weil die Bevölkerung die Idee nicht goutiert.

Im jetzigen Wahlkampf hat Harris keine umfassende Gesundheitsstrategie präsentiert. Barack Obama hatte als letzter Präsident eine umfassende Gesundheitsreform durchgebracht: die Affordable Care Act, die zumeist als Obamacare bezeichnet wird. Sie sorgte dafür, dass sich die Zahl der Amerikaner, die nicht krankenversichert sind, etwa halbierte. Unter anderem müssen Krankenversicherer seither auch Personen mit Vorerkrankungen zu gleichen Konditionen wie Gesunde aufnehmen.

Eine Harriscare wird es kaum geben. Die Vizepräsidentin stellt Gesundheitsfragen vor allem als wirtschaftliches Problem für die Mittel- und Unterschicht dar. Harris will, dass die Wähler die positiven Folgen ihrer Politik direkt im Portemonnaie spüren. Einen bedeutenden Selbstbehalt müssen krankenversicherte Amerikaner aber praktisch nur bei Medikamentenkäufen zahlen. Daher nimmt die Wahlkämpferin Harris deren Kosten ins Visier.

Im Handel erworbene Medikamente machen in den USA gemäss einer Aufstellung der Centers for Medicare & Medicaid Services (CMS) zwar bloss 9 Prozent der Gesundheitskosten aus; mit anderer Berechnungsweise kommt man auf bis zu 15 Prozent. Das ist ein ähnlicher Anteil wie in Europa. Arztpraxen (20 Prozent) oder Spitäler (rund 30 Prozent) generieren deutlich höhere Kosten, verfügen aber ihrerseits über eine starke Lobby in Washington. Und fliegen oft unter dem Radar, weil die Amerikaner die hohen Spitalrechnungen nicht selbst zahlen.

Bidens Werk vollenden

Kamala Harris würde als Präsidentin vor allem Joe Bidens Gesundheitspolitik weiterführen, die auch ihre eigene ist. Sie hatte 2022 als Vizepräsidentin im Senat die entscheidende Stimme abgegeben, um der Inflation Reduction Act zum Durchbruch zu verhelfen.

Die IRA umfasst ein riesiges Bündel an Massnahmen, einige davon betrafen das Gesundheitssystem. Zum einen wird für Rentner der Selbstbehalt für Medikamentenkäufe gedeckelt: Sie zahlen höchstens noch 2000 Dollar pro Jahr. Zudem wird für sie der Preis für Insulin auf 35 Dollar pro Monat beschränkt. Zum anderen führt der Staat für Medicare fortan direkte Preisverhandlungen mit Medikamentenherstellern und kann so die Preise nach unten drücken – wie dies in Europa gang und gäbe ist.

Die Amerikaner unterstützen gemäss Umfragen all diese Massnahmen mit grosser Mehrheit – das gilt für Republikaner und Demokraten. Kein Wunder, will Harris die Preisdeckel auf alle Amerikaner ausdehnen. Und die Liste der Medikamente, deren Preise der Staat verhandelt, weiter ausbauen. Per 2026 umfasst die Liste erst 10 Präparate, darunter die beliebtesten beiden Blutverdünner im Land oder ein verbreitetes Herzmedikament von Novartis. Doch der Patentschutz all dieser Präparate läuft in wenigen Jahren ohnehin aus.

Die IRA sieht vor, diese Liste jährlich um 15, später um 20 Präparate zu erweitern, so dass gegen Ende der 2030er Jahre alle Medikamente, die Medicare heute besonders hohe Kosten verursachen, auf der Liste figurieren sollten.

Die IRA schränkt die Liste aber auch entscheidend ein: Es dürfen nur die Preise von weitverbreiteten Präparaten verhandelt werden, für die Medicare mehr als 200 Millionen Dollar im Jahr bezahlt. Die Medikamente müssen zudem bereits 9 bis 13 Jahre auf dem Markt sein.

Trotzdem wird das Jahr für Jahr grössere Auswirkungen mit sich bringen und das System verändern. Die Pharmafirmen beklagen, dass gar keine richtigen Verhandlungen stattfänden, sondern dass die Regierung die Preise regelrecht diktiere. Falls die Hersteller den neuen Maximalpreis nicht akzeptieren, müssen sie enorme Strafzahlungen entrichten.

Mehrere Pharmafirmen haben Gerichtsverfahren angestrengt, bisher ohne Erfolg. Die Unternehmen wissen, dass sie die IRA-Bestimmungen kaum mehr abschaffen können, hoffen aber, zumindest die Eckwerte der Preisverhandlungen anpassen zu können. Der Maximalpreis solle beispielsweise besser berücksichtigen, wenn ein Unternehmen weiter an einem Medikament forsche, so fordern die Hersteller. Etwa weil sich ein Wirkstoff auch gegen zusätzliche Krankheiten als nützlich erweise.

Für die Medikamentenhersteller geht es um viel. Denn die Rabatte, welche der Staat für Medicare herausholt, werden sich auch auf die Preisverhandlungen mit den privaten Krankenversicherern auswirken. Die Hersteller argumentieren, dass die Gewinnaussichten dann nicht mehr ausreichten, um an gewissen neuen Medikamenten forschen zu können. Das hätte Auswirkungen weit über die USA hinaus, denn das Land hat eine enorme Bedeutung für die Branche. Pharmaunternehmen generieren bis zu 40 Prozent ihres Umsatzes mit verschreibungspflichtigen Medikamenten in den USA.

So könnte Harris vorgehen

Als Präsidentin könnte Harris das von Biden geschaffene System deutlich ausweiten. Sie könnte etwa die Wartefrist für staatliche Preisverhandlungen verkürzen. Biden hat eine solche Verkürzung letzthin vorgeschlagen. Sein Vorstoss wird im jetzigen Kongress chancenlos sein. Aber wenn Harris eine solide Mehrheit in beiden Parlamentskammern erlangt, stünde ihr der Weg offen. Die Grossbank UBS gibt diesem Szenario aber bloss eine Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent.

Viel realistischer ist, dass die Demokraten die Präsidentschaftswahl und das Repräsentantenhaus gewinnen, aber gleichzeitig den Senat verlieren. Das würde es Harris verunmöglichen, grosse Gesetzesänderungen aufzugleisen oder die IRA zu modifizieren. Die Republikaner würden vieles blockieren, was sie vorschlägt.

Auf diesem Weg kann der Kongress aber nur Massnahmen beschliessen, die den Bundeshaushalt direkt beeinflussen. Vorgaben, welche die Verhandlungen zwischen privaten Versicherern und Medikamentenherstellern betreffen, gehören nicht dazu. Aus diesem Grund sehen viele Wirtschaftsvertreter – auch in der Pharmabranche – ein gespaltenes Parlament als bestes Ergebnis der Wahlen im November.

Und Trump?

Denn auch auf den Republikaner Donald Trump ist aus Sicht der Medikamentenhersteller kein Verlass. Wie Harris fokussiert er seine Gesundheitspolitik auf die direkten Ausgaben der Endkonsumenten. Das heisst, auch er könnte Druck auf die Medikamentenpreise ausüben. In seiner ersten Amtszeit war er diesbezüglich nicht sehr erfolgreich. Er ermöglichte in gewissen Fällen Parallelimporte aus Kanada, was aber nur wenig bewirkte.

Ob Trump oder Harris: Die Medikamentenpreise in den USA werden ein Politikum bleiben, denn sie sind im Schnitt deutlich höher als in Europa und Asien. Damit subventionieren sie die Medikamentenforschung für andere Länder quer. Die Amerikaner beklagen das verständlicherweise. Die amerikanische Politik könnte diese globale Quersubventionierung einschränken, wenn sie ihr Gesundheitssystem weiter europäisieren würde – etwa den Staat sämtliche Preisverhandlungen mit den Pharmaunternehmen führen lassen. Doch das bleibt unwahrscheinlich.

Von sich aus werden Europa und Asien kaum bereit sein, höhere Medikamentenpreise zu akzeptieren, schliesslich kämpfen Staaten weltweit mit knappen Haushaltsbudgets. Die Vereinigten Staaten könnten jedoch andere Wege suchen, die anderen Industriestaaten unter Druck zu setzen. Trumps Drohungen gegen Nato-Mitgliedsländer, die ihr 2-Prozent-Ziel für Militärausgaben nicht erreichten, mögen eine Vorlage für solche Verhandlungen sein. Für die Pharmabranche bestünde das Risiko, zwischen die Fronten zu geraten.

Ob Harris oder Trump die Wahl gewinnt, das Konfliktpotenzial wird nicht verschwinden. Die Europäer – auch die Schweizer – sollten selbständig Lösungen ausdenken und nicht auf Druck aus den USA warten.

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