Samstag, Oktober 5

Zu der katholischen Kirche mag sich kaum mehr jemand bekennen. Der Münchner Autor Tobias Haberl tut es. Als Christ fühlt er sich von einer angeblich toleranten Gesellschaft diskriminiert.

Tobias Haberl, Sie sind Journalist, schreiben Bücher und glauben an Gott. In «Unter Heiden» werfen Sie Ungläubigen vor, religiöse Menschen zu belächeln oder zu verunglimpfen. Wann fühlten Sie sich zuletzt in Ihrem Glauben gekränkt?

Moment, das werfe ich nur manchen Leuten vor. Die meisten bemerken es übrigens gar nicht, wenn das passiert. Es sind Halbsätze, subtile Blicke, die mir weh tun, weil ich merke, dass man meinen Glauben nicht ernst nimmt, als hätte ich den Sprung in die Gegenwart verpasst. Und es fällt mir auf, dass sich oft gerade jene Gruppen, die permanent Toleranz für Minderheiten fordern, verächtlich über Priester oder Bischöfe äussern, nach dem Motto: sowieso alles Verbrecher. Sie verunglimpfen meinen Glauben, indem sie ihn auf problematische Aspekte oder Verfehlungen Einzelner reduzieren.

Sie finden, dass die meisten Menschen in Ihrem Umfeld ihren Glauben verloren hätten und darunter leiden, ohne es zu merken. Woran machen Sie das fest?

Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen eine innere Leere spüren, vor der sie permanent davonlaufen. Sie stürzen sich in digitale Zeitvergeudungsangebote, soziale Netzwerke, dauernde Impulse und Reize. Leider werden Ängste, zum Beispiel vor dem Tod, dadurch nur übertüncht, dahinter tut sich der Abgrund weiterhin auf. Der englische Schriftsteller G. K. Chesterton hat geschrieben: «Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern an alles Mögliche.» In ihrer Sehnsucht nach Halt folgen sie lieber Ratschlägen überteuerter Life-Coachs und Tech-Gurus, reduzieren fremde Religionen auf die Aspekte, die ihnen leichtfallen oder nützlich erscheinen.

Aber was stört Sie daran, dass sich Menschen diesen Dingen zuwenden, wenn sie dabei Glück empfinden oder Sinnhaftigkeit?

Ich bin ein liberaler Mensch. Jeder kann glauben, woran er will. Aber ich habe das Gefühl, dass sich viele in die Tasche lügen. Hinter der Glücksfassade spüre ich viel Angst. Einen Kreislauf aus Erschöpfung und Ruhelosigkeit. Es stimmt eben nicht, dass das Leben freier wird, wenn Gott entsorgt wird. Im Gegenteil: Es entstehen neue Zwänge, neue Ängste, neue Süchte. Das Internet ist voller Menschen, die sich von Dopamin-Schub zu Dopamin-Schub hangeln, aber nirgendwohin gelangen, wo es schön ist. Die Befriedigung ist immer nur von kurzer Dauer. Als gläubiger Mensch möchte ich aber nicht befriedigt, sondern erlöst werden.

Noch vor dieser Erlösung muss man sich ein Leben lang an Pflichten und Regeln der katholischen Kirche halten. Warum sollte man sich freiwillig dieser Autorität unterwerfen?

Wissen Sie, was ich nie verstanden habe? Wie man sich von den Zehn Geboten gegängelt fühlen kann, während man sich von Tech-Propheten aus dem Silicon Valley konditionieren lässt wie eine Taube in der Skinner-Box. Gerade habe ich gelesen, dass ein durchschnittlicher Handynutzer sein Telefon jeden Tag 2600 Mal anfasst. Wo bleibt da die Freiheit? «Wenn Gott tot ist, ist alles verboten», hat Jacques Lacan gesagt. Das meint: Je atheistischer, desto stärker wird das eigene Unbewusste von Verboten beherrscht, die das Geniessen sabotieren. Anstatt Freiheit zu bringen, führt der Sturz der Unterdrückungsinstanz zu neuen und strengeren Verboten. Und so kommt es zu der neurotischen Vorsorgegesellschaft, in der wir leben, die jede Eventualität gnadenlos berechnen will.

Aber ein Grossteil der Ungläubigen teilt heute noch christliche Grundwerte wie etwa die Nächstenliebe oder die Überzeugung, dass jedes Menschenleben gleichwertig ist. Die Erklärung der Menschenrechte wäre undenkbar gewesen ohne diese christlichen Leitgedanken. Wozu braucht es da noch die Kirche?

Man kann auch ohne Kirche an Gott glauben. Aber individueller Glaube ist flüchtig, und wenn sich jeder seine Privatreligion zurechtbastelt, gibt es keinen Kern mehr, der das Ganze zusammenhält. Deshalb braucht es Institutionen, in denen christliche Werte wie Nächstenliebe, Vergebung und Barmherzigkeit eingeübt und gepflegt werden. Einen Ort, an dem die Menschen nicht nur reden, sondern zuhören. Das geschieht in der heiligen Messe und bei christlichen Festen. Rhythmus und Rituale sind wichtig, weil sie entlasten. Man geht auf Distanz zu sich selbst und fühlt sich gerade deshalb gehalten. Die Kirche hilft den Menschen, den Glauben nicht erkalten zu lassen. Sie erinnert immer wieder, worum es geht: Liebe statt Macht, Vergebung statt Rache, geistiger statt materieller Besitz.

Sie verteidigen im Buch ja nicht nur Ihren Glauben. Sondern sehr spezifisch auch die römisch-katholische Kirche. Warum sollten Sinnsuchende ihre Hoffnung auf eine autoritäre Institution, die offenbar nicht zu ihren Fehlern der Vergangenheit steht, richten?

Weil die Kirche nicht nur eine negative, sondern auch eine strahlende Seite hat. Sie haben vorhin die Nächstenliebe erwähnt, dazu würde ich gern etwas sagen: Viele verwechseln Nächstenliebe mit Solidarität, aber dabei fällt das Revolutionäre der christlichen Botschaft unter den Tisch. Seien wir ehrlich: Solidarität meint meistens Solidarität mit Leuten, die ähnlich denken. Oder Solidarität gegen Leute, die anders denken. Nächstenliebe heisst aber: Ich liebe alle Menschen, weil auch sie Kinder Gottes sind. Auch solche, die mir Unrecht tun. Auch böse Menschen. Auch Wladimir Putin. Der heilige Augustinus sagt: «Wir müssen unseren Nächsten lieben, entweder weil er gut ist oder damit er gut werde.»

Liebe deinen Nächsten – an dieses Gebot kann man sich auch halten, ohne Kirchensteuern zu bezahlen. Das Problem ist, dass sich die Kirche selbst nicht an die eigenen Gebote hält. Warum also verteidigen Sie die römisch-katholische Kirche?

Ich benenne die Fehler und Sünden der Kirche durchaus. Ich hadere auch mit ihr. Und natürlich ist der Missbrauch eine gewaltige Katastrophe. Es ist notwendig, darüber zu berichten und weitere Aufklärung einzufordern. Ich träume von einer Kirche, die beides ist: geheimnisvoll und verantwortungsbewusst, eine göttliche Offenbarung und eine vertrauenswürdige Institution. Mystik und Metaphysik auf der einen, Transparenz und Verantwortung auf der anderen Seite.

Wollten Sie nie austreten?

Nein. Die Kirche, das sind nicht ein paar Männer in scharlachroten Soutanen im Vatikan, das sind alle Getauften. Also auch ich. Und wenn ich möchte, dass sie besser wird, darf ich nicht davonlaufen, sondern muss mithelfen, dass sie besser wird.

Aber machen Sie jetzt nicht gerade das, was Sie den Ungläubigen vorwerfen, nämlich sich einfach das Beste aus einer Religion auszusuchen und den Rest zu ignorieren?

Ich ignoriere den Rest nicht, sondern beziehe ihn in mein Denken ein und komme zu dem Schluss, dass ich trotzdem bleiben will. Ja, der Zeitgeist weht mir ins Gesicht, aber ich halte die Kirche gerade in modernen Gesellschaften für kostbar. Als Wertegemeinschaft. Als orientierende Instanz. Als spiritueller Anker in einer Welt, die immer schneller wird. Ja, sie ist unzeitgemäss, aber was ist schlimm daran? Im Sinne der allseits geforderten Diversität darf es doch auch unzeitgemässe Perspektiven geben. Das Neue ist nicht automatisch das Richtige. Natürlich darf über eine liberalisierende Öffnung diskutiert werden. Ich bin zum Beispiel für die Segnung homosexueller Paare und kann mir einen freiwilligen Zölibat vorstellen. Aber eines ist auch klar: Die Kirche muss unbequem bleiben.

Verstehen Sie unter «unbequem bleiben», dass die Kirche weiterhin so tun darf, als wäre sie unfehlbar?

Die Kirche funktioniert nach einer anderen Logik als die säkulare Gesellschaft, die denkt, wenn wir heute etwas beschliessen, muss es morgen umgesetzt werden. Die Kirche muss über die nächste Legislaturperiode, das nächste Quartal, die Euphorie des Augenblicks hinausdenken – das macht sie ja so wertvoll. Es gibt sie seit 2000 Jahren, sie kann und darf nicht in Quoten und Klicks denken.

Sie können die katholische Kirche nicht verteidigen, ohne Position zu beziehen zu den sexuellen Missbräuchen durch Priester und andere Kleriker, die von der Kirche geduldet wurden.

Natürlich ist die Kirche, wie jede andere Institution auch, nicht frei von Fehlern, im Gegenteil, sie bezeichnet sich ja selbst als «Kirche der Sünder». Vor allem der Missbrauchsskandal und seine halbherzige Aufarbeitung haben Wunden hinterlassen, die sich lange nicht schliessen werden. Mein Punkt ist aber: Es gibt noch eine andere Seite der Kirche, die praktisch nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. Die Medien berichten nur noch über Rekordaustritte und den Missbrauchsskandal. Und ja, das war und ist leider notwendig. Nicht berichtet wird aber über Millionen Kleriker und Laien, die sich jeden Tag im Namen ihres Glaubens für Kranke, Einsame, Sterbende engagieren, ohne auf Instagram damit herumzuprahlen. Glauben Sie mir, ohne diese Menschen wäre unsere Gesellschaft ärmer und kälter.

Haben Sie dieses Buch geschrieben, um wieder mehr Menschen zum christlichen Glauben zu bringen?

Das klingt mir zu missionarisch. Ich möchte niemanden bekehren, sondern einladen, es einmal mit Gott zu versuchen. Und ich wollte erklären, was das eigentlich heisst: Christ sein. Ich glaube, dass viele Menschen ihr Glück in falschen Dingen und an falschen Orten suchen. Dass sie Sehnsucht nach etwas haben, das grösser ist als sie, etwas, das sie sich nicht erklären können. Und in diesem Buch steht, was das sein könnte.

«Da, wo Gott geleugnet wird, bricht am Ende auch die Vernunft zusammen.» Der Satz stammt vom deutschen Religionsphilosophen Robert Spaemann, den Sie im Buch zitieren. Er stellte sich gegen die unter Philosophen verbreitete Haltung, dass der Glaube an Gott intellektuell unredlich sei. Kann man gleichzeitig vernünftig und aufgeklärt sein und an die Existenz Gottes glauben?

Aber natürlich. Für mich war das nie ein Widerspruch. Viele bedeutende Naturwissenschafter stehen fest im Glauben. Der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg hat einen tollen Satz gesagt: «Der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott!»

Will heissen?

Dass der Glaube beginnt, wo die Vernunft an eine Grenze stösst. Es stimmt eben nicht, dass die Welt lückenlos erforscht ist. Und die Wirklichkeit ist nicht notwendigerweise die ganze Wahrheit. Es gibt hundert Milliarden Galaxien, und jede von ihnen hat viele Milliarden Sterne. Haben Sie den Eindruck, dass wir alles darüber wissen? Natürlich kann ich Gott nicht beweisen, man kann aber auch nicht beweisen, dass es ihn nicht gibt.

Sie glauben an etwas, das Sie weder sehen noch beweisen können, und das macht Sie frei und hoffnungsfroh?

Genau darum geht es! Ich brauche keinen Beweis. Glauben heisst doch, das Unglaubliche zu glauben, für alles andere gibt es Excel-Tabellen. Darin liegt ja der Reiz. Ich glaube nicht, obwohl, sondern weil ich Gott nicht beweisen kann. Ich empfinde das nicht als irrational, sondern als aufregend. Ich begebe mich auf einen Weg, von dem ich nicht weiss, wie er mich verändert und wohin er mich führt. Das ist ein grosses Abenteuer. Wer glaubt, muss das Risiko eingehen. Wer Gott halbherzig oder aus sicherer Distanz begegnen will, kann ihn nur verpassen.

Warum sollte man auf Vorrat lieben und vertrauen, auch wenn die Liebe gar nicht erwidert wird oder sich eines Tages in Luft auflöst?

Ist nicht auch jede menschliche Beziehung, die man eingeht, ein Risiko? Jede Freundschaft? Jede Ehe? Man weiss nicht, was einen erwartet. Man weiss nicht, ob es klappt. Man kann enttäuscht, gekränkt und hintergangen werden. Aber die Sehnsucht nach Liebe ist grösser, also stürzt man sich hinein. Und mit der Sehnsucht nach Gott ist es genauso.

Wie haben Sie eigentlich zum Glauben gefunden?

Ich habe nicht zum Glauben gefunden, er wurde mir bei der Geburt wie ein Eimer über den Kopf gestülpt. Vor allem mein Vater war ein frommer Mensch, der mich christlich erzogen hat. Übrigens nie streng oder autoritär, sondern mit einem grossen Herzen. Wir sind oft zusammen in die Messe gegangen. Und ich hatte zwar keine Ahnung von Religion, aber Gott war eine Selbstverständlichkeit. Ich fühlte mich von ihm geliebt und konnte mir gar nicht vorstellen, dass jemand nicht an ihn glaubt. Ich war schon als Junge davon überzeugt, dass es eine zweite, unsichtbare Welt gibt.

Kinder glauben viel leichter an Gott. Ich hatte selbst als Kind eine starke Faszination für die Ästhetik der katholischen Kirche: Das Kerzenmeer vor der Marienstatue, das Goldgeschirr des Pfarrers – mit derselben Faszination betrachtete ich meine Barbie, deren Ballkleid im Dunkeln leuchtete. Wie war es bei Ihnen?

Ganz ähnlich. Sehr naiv und kindlich. Die prächtigen Gewänder, die Farben, die Musik, der Weihrauch. Mein Zugang zum Glauben, aber eigentlich zum ganzen Leben, ist ästhetisch geprägt. Ich empfinde Sinneseindrücke ungeheuer intensiv. Das hat mich auch an der Kirche und der Liturgie immer angezogen. Die Ästhetik ist ein legitimer Einstieg, freilich darf man nicht dabei stehenbleiben. Aber für ein Kind – warum nicht? Welches Kind denkt schon über theologische Fragen nach? Genau das fasziniert mich ja am Glauben so. Dass er kompliziert und einfach zugleich ist. Kinder haben oft ein viel grösseres Gespür für das Göttliche, bis es ihnen nach und nach ausgetrieben wird.

Ich habe meinen Glauben früh verloren. Vermutlich etwa gleichzeitig mit der Realisation, dass es nicht das Christkind war, das mir Geschenke unter den Baum legte. Warum haben Sie es über diesen Punkt hinausgeschafft und ich nicht?

Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Aber ich kann Sie in einem Punkt trösten: Auch ich war lange weit weg von Gott. Grob gesagt, hat der Glaube in meinen ersten zwanzig Lebensjahren eine Rolle gespielt und sich dann für viele Jahre verflüchtigt. Zwischen 20 und 35 wollte ich einfach nur frei sein und alle Autoritäten abstreifen, Eltern, Lehrer, Gott. Ich hätte mich wohl nie als Atheist bezeichnet, aber ich habe meinen Glauben nicht praktiziert. Das fing erst vor einigen Jahren wieder an, seitdem drängt der Glaube mit Wucht in mein Leben zurück.

Vor etwa 17 Jahren haben Sie einen Herzstillstand überlebt. Hat Sie das näher zu Gott gebracht?

Der Moment war eine Zäsur in meinem Leben. Wenn man einmal erlebt, wie einen der Körper im Stich lässt, hat man Angst, dass es wieder passiert. Interessanterweise hat die Erfahrung meinen Glauben nicht beeinflusst. Ich habe danach weder fester noch weniger fest geglaubt. Nein, ich bin Gott nicht begegnet, als ich zusammengebrochen bin, trotzdem war da keine Angst. Ich habe den Augenblick des Sterbens als friedlich wahrgenommen. Ich war einverstanden, als würde sich etwas in mir vollziehen, worauf ich keinen Einfluss habe und worüber ich mir keine Gedanken zu machen brauche, weil ich es sowieso nicht verstehen, geschweige denn aufhalten könnte. Etwas, das immer so war und immer so sein wird, etwas Notwendiges, etwas Richtiges.

Heute stehen Sie fester im Glauben. Würden Sie anders mit diesem Schicksalsschlag umgehen, wenn er sich wiederholen würde?

Das kann ich nicht sagen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ja, ich glaube an Gott, trotzdem habe auch ich Angst vor dem Tod. Manchmal, wenn ich nachts aufwache und mir einfällt, dass es mich eines Tages nicht mehr geben wird, könnte ich heulen wie ein kleines Kind. Der gläubige Mensch kommt an den Tragödien des Lebens nicht vorbei, aber vielleicht kommt er besser durch sie hindurch. Da ist die Hoffnung, dass der Tod nicht das Ende, sondern eine Vollendung ist. Dass ich ein zweites Mal in eine andere, gültigere Welt der Liebe und des Friedens hineingeboren werde.

Ist Ihre nächtliche Angst nicht Ausdruck der Befürchtung, dass Gott eben doch nicht existiert?

Natürlich. Ein gläubiges Leben ohne Zweifel gibt es nicht. Das wird Ihnen jeder Pfarrer und jeder Mönch bestätigen. Sogar Joseph Ratzinger, immerhin ein späterer Papst, sprach vom «Ozean der Ungewissheit». Ich habe einmal einen jungen Benediktinermönch gefragt, ob er mehr an Gott oder der Kirche zweifelt. Seine Antwort: Ich zweifle an mir selbst.

Manchmal hatte ich beim Lesen Ihres Buches den Eindruck: Ihr Festhalten am Glauben ist ein Festhalten an der Glückserfahrung, die Sie früh in Ihrem Leben machten. Sie sind sehr privilegiert in eine Arztfamilie hineingeboren, hatten eine behütete Kindheit und wurden von Schicksalsschlägen verschont.

Da könnte etwas dran sein. Ich habe keine negativen Erfahrungen in der Kirche gemacht. Der Pfarrer, der Kaplan, der Religionslehrer, das waren lauter nette Menschen. Ich habe Gott auch nie als strafend, sondern immer als gütig wahrgenommen. Ich weiss, dass andere nicht so viel Glück hatten. Selbstverständlich habe ich Verständnis dafür, wenn sich Menschen, die schlechte Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben, von ihr abwenden.

Vielleicht ist es auch ein bisschen einfacher, an eine Botschaft der Hoffnung zu glauben, wenn man selbst immer nur Glück hatte. Dass Sie auf etwas hoffen, das vielleicht nie eintreten wird, könnte doch damit zu tun haben, dass Ihre Hoffnungen nicht oft enttäuscht wurden?

Da bin ich mir nicht so sicher. Wenn man sich anschaut, wo sich immer mehr Menschen zum Christentum bekennen, dann sind es ja vor allem die armen Weltgegenden in Afrika und Asien. Ist es nicht eher umgekehrt? Fest im Glauben stehen eher Menschen, denen es nicht so gut geht, in der Hoffnung, dass es ihnen irgendwann besser geht? In Deutschland wendet sich doch gerade jene Generation vom Glauben und von der Kirche ab, die vierzig, fünfzig Jahre lang ein eher angenehmes Leben führen konnte.

Aber vielleicht ist es für Sie als Mann einfacher, zur katholischen Kirche zu stehen. In der Schweiz haben kirchliche Institutionen mit Unterstützung der Behörden ledigen Müttern bis in die 1980er Jahre die Kinder weggenommen und die Frauen dann in Arbeitsanstalten gesteckt. Aus Sicht der Frauen ist die Säkularisierung der Gesellschaft ein Segen.

Einerseits ja. Aber Sie tun ja fast so, als gäbe es keine weiblichen Christen. Auch Frauen können unter dem Verlust von Spiritualität und Gemeinschaft leiden. Sie geraten zunehmend unter Druck in einer Welt, die sich immer weiter beschleunigt und – machen wir uns nichts vor – auch negative Auswirkungen hat: Stress, Burnout, Depression, Entfremdung. Ich bin mir im Klaren darüber, wie viele Menschen unter der Kirche gelitten haben, auch und vor allem Frauen, und zwar ohne dass ihre Schicksale an die Öffentlichkeit gekommen sind. Und wenn Menschen schlechte Erfahrungen gemacht haben mit der Kirche, dann bin ich der Letzte, der sagt: «Geh in die Messe.»

Im Buch drücken Sie sich um die Frage, welche Rolle den Frauen in der Kirche zukommen soll.

Weil ich hin- und hergerissen bin. Als Bürger bin ich gegen jede Form von Diskriminierung. Als Katholik bin ich offensichtlich bereit, eine Diskriminierung mitzutragen, weil ich sonst nicht mehr in der Kirche wäre. Einerseits dürfte im Sinne von Gottesebenbildlichkeit zwischen den Geschlechtern kein Unterschied gemacht werden, andererseits kann man fragen, ob sich dies notwendigerweise in der Besetzung von kirchlichen Ämtern widerspiegeln muss. Sagen wir so: Bei einer Abstimmung würde ich mich schwertun, weil ich manche Argumente nachvollziehen kann, aber auch verstehen kann, dass die Kirche nicht von heute auf morgen etwas richtig findet, was vorher 2000 Jahre lang falsch war.

Kann es sein, dass Gott nicht will, dass Frauen in seiner Kirche gleichberechtigt sind?

Ich weiss nicht, was Gott will. Ich finde richtig, dass darüber diskutiert wird, aber eine Sache ist wichtig: Veränderungen sollten nicht unter dem Druck der Medien oder aus Angst vor dem eigenen Überflüssigwerden vollzogen werden, sondern weil man sie für richtig hält.

Was, wenn Sie am Ende Ihres Lebens realisieren, dass es Gott gar nicht gibt? Dass Sie die ganze Zeit aufs falsche Pferd gesetzt haben? Würden Sie sich nicht betrogen fühlen?

Ich wäre enttäuscht, aber würde sagen: Es hat sich trotzdem gelohnt. Die Momente der Freude, der Hoffnung und der Stille haben mir geholfen, mein Leben einigermassen anständig zu meistern. Christliche Werte bleiben auch wertvoll, wenn der Jackpot ausbleibt.

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