Dienstag, Oktober 1

Einblicke in die digitale Parallelwelt der Propagandisten im Namen Allahs.

Mächtig erhebt sich der Hohe Kasten im Appenzellerland, sphärische Musik erklingt. Aus dem Off des Videos ertönt die Stimme eines Mannes mit britischem Akzent. Der Mann sagt auf Englisch: «Es wäre sehr blöd und unglücklich, wenn wir dieses Geschenk wegwürfen.» Das Instagram-Filmchen präsentiert eine gutgelaunte Wandergruppe, rund zwei Dutzend junge und meist bärtige Männer steigen auf schmalen Wegen und entlang von schroffen Felswänden dem Gipfel entgegen.

Die Stimme aus dem Off kommentiert: «Er ist die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.» Dann ertönt die Stimme eines Sängers. «Allah, Allah. Alhamdulillah.»

In der nächsten Einstellung des Videos knien die Männer in zwei Reihen auf einer Bergwiese. Sie neigen ihr Haupt und ihren Oberkörper zum muslimischen Gebet. Nach der Bergpredigt wandert die Gruppe ins Tal, durch saftige Wiesen einem Bergsee und der Sonne entgegen. Betitelt ist das Filmchen mit: «Brüder wandern».

Der Kanal, der das Video verbreitet, nennt sich «Al-Muddathir», was so viel wie «der Getarnte» oder «der Zugedeckte» bedeutet und auf die 74. Sure des Korans verweist. Der Account verbreitet Videos, die harmlos wirken. Es ist ein Mix aus gemeinsamen Unternehmungen und Tipps für Gläubige. Doch auf dem Kanal wird auch für stramm islamistische Propagandisten geworben.

Der Instagram-Kanal gehört zu einem seit Jahren wachsenden Internetphänomen. Eine Vielzahl von Accounts in den sozialen Netzwerken verbreiten fast identische Botschaften: Mach Sport, geh raus in die Natur – und schliess dich den Glaubensbrüdern an. Es sind Mitmach-Events, in denen islamistische Influencer ein erzkonservatives und radikales Weltbild propagieren. Es zählt nur eines: die Abgrenzung gegenüber allen, die nicht dasselbe Weltbild teilen.

Und die Recherche der NZZ zeigt: Die Propagandisten im Namen Allahs sind sehr aktiv. Auch in der Schweiz.

Der Vernetzer der salafistischen Szene

Die Macher hinter «Al-Muddathir» bleiben anonym. Klar ist: Der Account weist diverse Verbindungen in die Schweiz und nach England auf. Der Sitz sei in der Schweiz, heisst es in der Beschreibung zum Instagram-Konto, dem rund 4000 Personen folgen. Die Botschaften werden auf Deutsch und Englisch verbreitet. Als Ziel nennen die Macher: «Bringing Islamic events to Switzerland.»

Und diesen Auftrag nehmen die Macher offensichtlich ernst. Es finden sich Posts über Anlässe und Videos über die richtige Lebensführung. «Al-Muddathir» ist aber auch dabei, wenn die Stars der salafistischen Szene Auftritte in Schweizer Moscheen haben – in Biel, in Embrach oder in Zürich. Die Verantwortlichen hinter dem Account scheinen auch zu den Organisatoren der Anlässe zu gehören, jedenfalls sind Aufnahmen von Personen in Leuchtweste und mit dem Logo des Kanals bei den Events zu finden.

In einem der Videos wird ein muslimischer Geistlicher am Flughafen beherzt empfangen. Dabei handelt es sich um Scheich Musa Abuzaghleh, einen britischen Salafisten. In einer Moschee in Biel empfängt ihn später eine Kinderschar, die Gläubigen lauschen seinen Worten tief bewegt. Danach werden Raclette, Essiggurken und Silberzwiebeln aufgetischt. Der Prediger lässt sich mit einem Lächeln inmitten der Gläubigen filmen.

«Al-Muddathir» verkündet in den sozialen Netzwerken stolz, wenn bekannte Prediger zu Gast sind. Männer wie Marcel Krass, der zu den Leitfiguren der salafistischen Szene Deutschlands gehört und über den der deutsche Verfassungsschutz schreibt, er rufe zur Abgrenzung von Nichtmuslimen auf.

Auch das Video vom Besuch des Konvertiten Krass folgt dem gleichen Muster. Der Gast wird am Flughafen Zürich abgeholt, man verbringt den Tag zusammen. Dazu gehören ein weltlicher Programmpunkt (Bowling) und ein religiöser (gemeinsames Beten). In einer Moschee im Schweizer Mittelland lauschen die Männer dem umstrittenen Redner aus Deutschland.

Zufall oder nicht. Es ist das einzige Gotteshaus, dem auch der jugendliche Attentäter aus Zürich auf Instagram gefolgt ist. Bei einem Besuch der NZZ im Frühling versicherten Vertreter der Moschee: Wer radikale Inhalte verbreite, bekomme Hausverbot. Man halte sich hier in der Moschee streng an die schweizerischen Gesetze.

Der «Getarnte» vernetzt jedoch nicht nur Islamisten aus dem deutschsprachigen Raum, sondern versucht auch salafistische Influencer und Prediger aus dem englischen Sprachraum in die Schweiz zu bringen.

Wie bei Mohamed Hoblos, der unter dem Motto «Reviving the Ummah» (Wiederbelebung der Gemeinschaft der Gläubigen) durch die Welt tourt. Anfang dieses Jahres sollte der Australier auch in der Schweiz auftreten. Eingeladen wurde er von einer Gruppe junger Salafisten, darunter auch «Al-Muddathir». Den genauen Ort wollten sie erst in letzter Minute bekanntgeben. Klar war einzig: Der Anlass sollte irgendwo in der Region Zürich stattfinden.

Doch dann schritten die Behörden ein, wie der «Sonntags-Blick» in einem Bericht schreibt. Hoblos wurde kurz nach seiner Landung am Flughafen Zürich von Polizisten gestoppt. Er musste am Flughafen übernachten und reiste am nächsten Tag wieder ab.

Multiplikatoren für hirnrissige Ideen

Experten halten die Accounts für Einfallstore, um junge Muslime in die radikale Szene zu locken. Die Befürchtung: Was harmlos beginnt, wird rasch extremistisch und gefährlich. Inzwischen warnen die Schweizer Behörden vor dem Einfluss der digitalen Kanäle bei der Radikalisierung.

Der Bundesanwalt Stefan Blättler sagte gegenüber der NZZ, Jugendliche in der Schweiz radikalisierten sich nicht zuletzt in den sozialen Netzwerken. «Mit Plattformen wie Instagram oder Tiktok sind enorm reichweitenstarke Multiplikatoren entstanden, die hirnrissige Ideen ungefiltert in Kinderzimmer transportieren.» Und der Zürcher Oberjugendanwalt Roland Zurkirchen meinte kürzlich anlässlich seiner Bilanz nach hundert Tagen im Amt: «Vieles spielt sich im Netz ab, da müssen wir hinschauen.»

Was die Ermittler fürchten, sind Fälle wie jener Anfang März. Damals stach in Zürich ein 15-jähriger Teenager, der sich in den sozialen Netzwerken «Ahmed, das Biest», nennt, einen orthodoxen Juden nieder. Der Jugendliche bewegte sich zuvor während Monaten in der digitalen Welt der IS-Fanatiker.

Zwei Wochen später nehmen die Waadtländer und die Genfer Polizei drei Minderjährige fest, auch sie sind online als Sympathisanten von jihadistischem Gedankengut aufgefallen. Und im Juni gehen den Ermittlern in Zürich zwei Jugendliche ins Netz, die sich über einen Anschlag mit einem Lastwagen an der Zurich Pride austauschten. Auch hier führen die Spuren in die Abgründe der sozialen Netzwerke.

«Man will eben nicht reine Couch-Potato-Extremisten»

Saïda Keller-Messahli beschäftigt sich seit Jahren mit islamistischen Netzwerken in der Schweiz und Europa. Sie hat die Posts von «Al-Muddathir» analysiert und sagt: «Vordergründig geht es um Sport, Krafttraining, Wandern oder gemeinsames Gebet. Aber das ist nur Schein.» Denn die Botschaften seien durchsetzt mit islamistischem Gedankengut. «Hinzu kommt, dass Auftritte von radikalen Predigern beworben werden. Es geht den Machern also um das Heranführen an eine extremistische Szene. Das macht es gefährlich.»

Mit Spiritualität und Glauben habe das Ganze nichts zu tun, sagt Keller-Messahli. «Es geht einzig um die Verherrlichung einer islamistischen Ideologie.» Accounts wie «Al-Muddathir» versuchten zudem offenkundig, Extremisten aus dem englisch- und dem deutschsprachigen Raum zu vernetzen und transnationale Netzwerke zu bilden. «Das beunruhigt mich, denn England hat eine Szene, die sich nicht mehr beherrschen lässt. Von dort sind auch 850 Personen zum IS in den Irak oder Syrien gezogen.»

Auch der Forensikprofessor Jérôme Endrass sieht die Accounts als eine Art von Einsteigermittel. Ein Instrument, wie man es auch bei politischen Bewegungen beobachte. Es gehe darum, die Leute zu aktivieren. Es brauche etwas, woran die Leute emotional anknüpfen könnten.

«Man will eben nicht reine Couch-Potato-Extremisten, sondern möglichst viele Macher», sagt Endrass. Die Aktionen seien geprägt von einer Mitmachkultur, die einen Gruppenzusammenhalt erzeugen solle. Alles, was zu einer Handlungsorientierung führe, sei für extremistische Vereinigungen von Interesse.

Die Frage ist laut Endrass, was man damit bezweckt: Handle es sich um islamistischen Aktivismus mit dem Ziel, Leute zu mobilisieren, um für extremistische Anliegen auf die Strasse zu gehen? «Oder geht es darum, Leute dafür zu gewinnen, schwere Straftaten zu begehen?»

Endrass vermutet verschiedene Akteure hinter den Accounts, einer Graswurzelbewegung nicht unähnlich. Es brauche charismatische Führungsfiguren einerseits, die sich ausdrücken könnten und als Anführer die Menschen begeistern würden.

Und dazu kämen andererseits Event-Manager, die das Ganze organisieren würden. Schliesslich gebe es noch die neusten Player, Influencer wie «Al-Muddathir», die Accounts betrieben. Die funktionierten gleich wie ihre Pendants, die für Firmen werben würden.

Die Macher bleiben stumm

«Al-Muddathir» ist mit dabei, als im Dezember 2023 Marcel Krass und der Sänger Redlion für Gastvorträge in der Schweiz sind. Redlion erreicht mit seinem A-cappella-Gesang bei Youtube Hunderttausende. Die Liedtexte des Hamburger Salafisten und Sängers weisen laut Angaben des deutschen Verfassungsschutzes zwar keine extremistischen Inhalte auf. In den zugehörigen Videos werde aber eine klar salafistische Ikonografie verwendet.

Und das kommt an: Die Moschee, in der die Vorträge gehalten werden, ist gut gefüllt. «Al-Muddathir» kommentiert danach auf Instagram: «Alles in allem war es ein schöner und gelungener Abend.» Und ein User jubelt: «Tolle Arbeit, Masha’Allah. Ich liebe die Filmsequenzen, die Gemeinschaft wächst.»

Die NZZ hat die Macher hinter «Al-Muddathir» mit Fragen zu ihrem Vorgehen konfrontiert. Mit welchem Ziel verbreiten sie die Videos? Steht hinter dem Account eine Einzelperson oder ein Kollektiv? Sind sie ein Einfallstor in den radikalen Islamismus?

Antworten wollen sie auf diese Fragen offenbar nicht geben. Die Macher, die sonst so gern ihre Botschaften verbreiten, bleiben stumm.

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