Montag, Januar 13

Als Mädchen erlebt die Basler Jüdin das Leid geflohener Juden hautnah mit. Später setzt sich Dreyfuss-Kahn für Flüchtlinge aus aller Welt ein.

Im September noch ist Myrte Dreyfuss-Kahn in das «Goldene Buch» eingetragen worden. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) ehrt damit Personen, die sich um die jüdische Gemeinschaft in aussergewöhnlicher Weise verdient gemacht haben. Und Dreyfuss-Kahn, die am 6. Januar im Alter von 96 Jahren verstorben ist, setzte sich zeit ihres Lebens für Menschen ein, die auf der Flucht waren.

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«Der Mensch ist schon von seinem Schicksal abhängig», sagte sie in einem Interview mit SRF. Sie begriff es als ihr Schicksal, sich für Flüchtlinge einzusetzen. Denn sie war geprägt durch die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend.

Der Grossvater kommt ins KZ Dachau

1928 wird Dreyfuss-Kahn in Basel geboren. Ihre Eltern, der Bankier Hans David Kahn und seine Ehefrau Johanna Kahn-Weil, stammen aus Emmendingen bei Freiburg im Breisgau. Myrte Dreyfuss-Kahn erlebt eine wohlbehütete Kindheit in einem gutbürgerlichen Elternhaus. Doch der Horror des nationalsozialistischen Deutschland ist auch in der Schweiz für jüdische Familien spürbar.

Myrte Dreyfuss-Kahn ist fünf Jahre alt, als die Nationalsozialisten an die Macht kommen. Der Vater schärft der Tochter ein, das Jüdischsein nicht an die grosse Glocke zu hängen, nicht über die Vorgänge in Deutschland zu reden. Die Familie gewährt immer wieder Juden aus Deutschland, die in die USA weiterreisen wollen, vorübergehend Zuflucht. Sie besitzt ein Radio, vor dem sich die Nachbarschaft versammelt, um britische Sender zu hören.

Der in Deutschland lebende Grossvater wird nach der Pogromnacht am 10. November 1938 in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Er entrinnt dem Holocaust nur knapp. Der Familie Dreyfuss gelingt es, eine Kaution bei der Fremdenpolizei in Basel zu hinterlegen, so dass die Grosseltern in die Schweiz einreisen dürfen. Weil die Grosseltern sich nur in Basel aufhalten dürfen, verbringt die gesamte Familie die Kriegsjahre in der Grenzstadt. Die Lebensmittel sind rationiert, die Wohnung ist im Winter unbeheizt. Die Angst vor einem Einmarsch der Deutschen bleibt. Im SRF-Interview erinnert sich Dreyfuss, wie sie 1943 von der Schule heimkommt. Dort findet sie den Grossvater «schneeweiss im Gesicht» vor, einen Zeitungsartikel über Massenmorde an Juden vor sich liegend.

Erst nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands kehrt eine gewisse Leichtigkeit zurück. Myrte Dreyfuss-Kahn ist beim Roten Kreuz tätig, 1947 legt sie die Matura ab. Bald darauf zieht es sie zum Studium in die USA – entgegen dem Willen des Vaters, der die Tochter lieber in England gesehen hätte. So verdient sich die junge Frau den Lebensunterhalt selbst: Die Schweizerin arbeitet als Vermarkterin für niederländischen Käse. An der New Yorker Columbia University studiert sie Wirtschaft.

Auch wenn sie in Basel niemals offenen Antisemitismus erlebt hat, wie sie in Interviews schildert, ist das jüdische Leben in New York doch ganz anders, viel selbstbewusster. Werbung für Matze – die ungesäuerten Brotfladen – oder koscheres Fleisch ist hier selbstverständlich. Man sei in der Schweiz nicht gerade beschämt gewesen, doch man habe auch nicht herumerzählt, Jüdin zu sein, sagt Dreyfuss-Kahn später.

1955 wird sie in ihrer Heimatstadt Basel mit einer Arbeit über Frauenerwerbsarbeit in der Schweiz promoviert. Sie zieht nach Hannover, wo sie laut dem jüdischen Wochenmagazin «Tachles» als neutrale Instanz bei den bilateralen Verhandlungen zwischen Deutschland und der Türkei arbeitet. Sie nennt es «die interessanteste Zeit meines Lebens». Nach dieser Zeit habe sie nichts mehr erschüttern können, denn in der Politik werde von jeder Seite nur gelogen.

Im August 1956 heiratet sie den Elektroingenieur Marc Dreyfuss, mit dem sie drei Kinder bekommt und in Zürich lebt.

Zeitzeugin und wichtige Stimme in der Flüchtlingsarbeit

In den kommenden Jahren ist Dreyfuss-Kahn für diverse jüdische Organisationen im Einsatz und wird zu einer wichtigen Stimme der Schweizer Flüchtlingspolitik. Unter anderem fungiert sie von 1985 bis 1996 als Präsidentin des Verbands Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen, auch ist sie aktiv im Vorstand der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Sie kümmert sich um jüdische Geflüchtete aus Iran, um Exilanten aus der Sowjetunion und nach dem Zerfall Jugoslawiens um Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina.

Als sie zu Beginn der 1990er Jahre erfährt, dass der Schweizer Flüchtlingshelfer Paul Grüninger rehabilitiert werden soll, bietet sie dem St. Galler Kantonsparlamentarier, der den Vorschlag eingebracht hat, ihre Hilfe an. Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger hatte 1938 und 1939 rund 3000 Juden, die meisten aus Wien, gerettet, indem er sie trotz schweizerischer Grenzsperre einreisen liess. Er wurde entlassen und jahrelang verfemt. Es ist auch dem Einsatz von Myrte Dreyfuss-Kahn zu verdanken, dass Grüninger 23 Jahre nach seinem Tod rehabilitiert wurde.

Noch bis ins hohe Alter legt sie Zeitzeugenschaft ab, hält Vorträge in der Schweiz und im Ausland und ist als Stadtführerin mit Blick auf die jüdische Geschichte Zürichs tätig.

Mit dem Tod von Myrte Dreyfuss-Kahn verliert das Land eine bedeutende Zeugin Schweizer Geschichte.

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