Donnerstag, Oktober 10

Rekonstruktion eines westlichen Traumas.

Shou Zi Chew schaut in die Augen eines Mannes, der ihn verhört wie ein Schwerverbrecher. Es ist Ende Januar dieses Jahres, wir befinden uns in einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongress. Die Stimmung ist gereizt. Der Mann, der ihn verhört, stellt zwar Fragen, doch die Antworten will er nicht hören. Seine Meinung ist schon gemacht.

Parlamentarier: Welcher Nation gehören Sie an?

Chew: Singapur.

Parlamentarier: Sind Sie ein Bürger eines anderen Staates?

Chew: Nein.

Parlamentarier: Haben Sie sich jemals für eine andere Staatsbürgerschaft beworben?

Chew: Nein.

Parlamentarier: Haben Sie einen singapurischen Pass?

Chew: Ja, ich habe sogar in der singapurischen Armee gedient.

Parlamentarier: Waren Sie jemals ein Mitglied der kommunistischen Partei Chinas?

Chew (lacht ungläubig): Senator, nein. Ich bin Singapurer.

Shou Zi Chew ist kein Schwerverbrecher. Er ist CEO der mächtigsten App der Welt: Tiktok. Entwickelt im unfreien China, freigegeben für die freie Welt. Eigentlich geht es in der Anhörung um die Sicherheit von Kindern auf sozialen Netzwerken. Dennoch dreht sich alles nur um eine Frage: Ist Chews Firma eine chinesische Propagandawaffe? Eine Software, die Demokratien mit Desinformation und Hetze zu Fall bringen will?

Die feindselige Anhörung vor dem amerikanischen Kongress ist Zeichen für das tiefe Misstrauen des Westens gegenüber dieser App, die weltweit 1,5 Milliarden Menschen in ihren Bann zieht – und jeden einzelnen von ihnen durchschnittlich für eineinhalb Stunden ans Smartphone fesselt, pro Tag. Das schafft kein anderes soziales Netzwerk.

Doch je beliebter Tiktok wird, desto stärker wächst das Unbehagen. Politiker befürchten, China nutze die Plattform als Propagandawaffe. Um ihre Bürger auszuhorchen, sie mit Fake-News in die Irre zu führen, und damit die Demokratie zu destabilisieren. Auch zahlreiche Experten warnen deshalb vor Tiktok.

Diese Diskussionen sieht man gerade auch in den USA. Die Politik hat dem Unternehmen ein Ultimatum gestellt: Entweder ihr verkauft den amerikanischen Teil der Videoplattform an amerikanische Eigentümer – oder wir verbieten sie. So lautet das Gesetz, das am Mittwoch vom Repräsentantenhaus mit einer grossen Mehrheit angenommen wurde. Rutscht es ähnlich leicht durch den Senat, könnte Tiktok in den USA in einem halben Jahr verboten sein.

Bereits jetzt haben Indien und Nepal Tiktok aus ihrem Land verbannt, aus Sicherheitsgründen. Und in Kanada, Österreich, Frankreich, in den Niederlanden und den USA dürfen Regierungsmitarbeiter die App nicht auf ihren Diensthandys installieren, ebenso wenig die Angestellten der EU-Kommission und jene des EU-Parlaments.

Innerhalb weniger Jahre ist damit aus einer scheinbar harmlosen Unterhaltungsapp mit kurzen, belanglosen Tanzvideos ein Spielball der Geopolitik geworden.

Wie konnte das passieren?

Aufstieg einer App, die süchtig macht

Alles beginnt 2012 mit einem unscheinbaren Mann in Peking. Dieser Mann heisst Zhang Yiming. Er ist 29 Jahre alt und macht gerade den ersten Schritt, um zum grossen Rivalen der westlichen Übermacht im Silicon Valley zu werden.

Zhang ist Softwareingenieur und liest täglich die News. Doch er findet es furchtbar, dass er erst durch Dutzende Medienportale scrollen muss, um an interessante Inhalte zu kommen. Zhang will eine App, die ihm diese Arbeit abnimmt. Eine App, die ihm jeden Morgen eine Auswahl von Artikeln präsentiert, für ihn persönlich zusammengestellt. Weil es einen solchen Empfehlungsalgorithmus noch nicht gibt, entwickelt er ihn selbst.

Aus dem Empfehlungsalgorithmus wird ein Programm, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Es lernt mit jedem Klick, mit jedem Scrollen, mit jedem Innehalten auf einem Beitrag – und gibt den Nutzerinnen und Nutzern damit mehr von dem, was sie wollen. Und zwar sofort.

Genau damit wird Tiktok seine Nutzer später so süchtig machen.

Zhang nennt seine News-App Toutiao, «Schlagzeilen». Sie wird ein Grosserfolg. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung, 2013, erreicht das Startup in China 10 Millionen Nutzer und wächst stetig weiter. Doch Zhang will mehr. Er will ein Unterhaltungsimperium schaffen, einen chinesischen Konzern, so gross wie Google oder Meta. Zhang nennt seine Firma Bytedance, das spätere Mutterunternehmen von Tiktok.

Während seine News-App ständig wächst, merkt der Unternehmer, dass ein Format immer beliebter wird: Kurzvideos. Zhang beschliesst im Frühjahr 2016, ein Portal für kurze Filmchen zu entwickeln. Aber nicht irgendeines. Zhang will es besser machen als alle anderen. Er lässt 100 solcher Portale aus der ganzen Welt analysieren.

Schnell sieht er, dass die meisten davon in der Bedienung zu kompliziert sind. Manche sparen bei der Rechenleistung und sind langsam, andere unterstützen nur Videos in schlechter Qualität. Und das Schlimmste: Viele davon sind nicht auf das Smartphone zugeschnitten.

Mit diesem Wissen gründet Zhang Douyin, ein Kurzvideoportal. Der Name ist eine Kombination der Wörter dou (vibrieren) und yin (Ton). Das Logo ist eine Musiknote, die zu vibrieren scheint.

Douyin soll ein Selbstläufer werden, genau wie Toutiao. Doch nach der Veröffentlichung kommt die grosse Ernüchterung. Der Erfolg bleibt aus. Zhang schaltet teure Werbekampagnen, bezahlt Stars von anderen sozialen Netzwerken dafür, dass sie Videos von sich auf Douyin posten. Und er lädt einflussreiche chinesische Influencer in sein Büro ein, die ihm helfen, die App noch besser zu machen. Das funktioniert.

Die Plattform wird in China beliebter. Plötzlich tauchen Influencerinnen mit Schminktipps auf, Magier, die Zaubertricks vorführen oder Köchinnen mit Ratschlägen für das perfekte Menu. Und dann folgt das, wovon alle sozialen Netzwerke träumen: Trends, die nur auf Douyin zu sehen sind. Sogenannte Challenges, Herausforderungen. Sie sind ein Zeichen dafür, dass es eine App geschafft hat, cool zu werden.

Plötzlich fordern sich Tausende Nutzerinnen und Nutzer heraus, in der Dusche zum gleichen Lied zu tanzen – selbstverständlich voll bekleidet, denn nebst vielem anderen ist die Darstellung von Nacktheit in China verboten.

Doch Zhang wird bald klar, dass er früher oder später wegen seiner Videoplattform Ärger bekommen wird. Wer in China ein digitales Netzwerk betreibt, ist den Zensurregeln unterworfen: keine gleichgeschlechtliche Liebe, kein Feminismus, keine Kritik an der Führung der kommunistischen Partei.

Für Douyin wird es immer schwieriger, die Zensur zu gewährleisten. Denn täglich laden Nutzer Tausende von Videos hoch. Nicht jedes davon können die Content-Moderatoren, also Kontrolleure für unangemessene Inhalte, vor der Veröffentlichung prüfen. Das ist auch Gründer Zhang Yiming bewusst. Und er weiss, dass seine Plattform woanders besser wachsen könnte, als in seinem Heimatland.

Es ist 2016, und der Unternehmer entscheidet sich, Douyin der chinesischen Zensur zu unterwerfen. Für den Rest der Welt schafft er eine zweite App: Tiktok, die unartige Zwillingsschwester von Douyin. Sie soll eine Plattform für die Aussenwelt sein, eine, auf der das möglich sein kann, was in China verboten ist. So ist es nur logisch, dass Tiktok in China bis heute gesperrt ist.

Technisch jedoch unterscheiden sich Douyin und Tiktok kaum. Beide Apps verwenden fast den gleichen Programmcode, den gleichen Empfehlungsalgorithmus, das gleiche Logo: die vibrierende Musiknote. Auch das chinesische Entwicklungsteam, das neue Funktionen in die Apps einfügt, ist dasselbe. Dies nährt das Unbehagen gegenüber der App und liefert Munition für Tiktok-Kritiker.

Für Zhang sind die vielen Synergien aber gut fürs Geschäft. Sein Tech-Unternehmen Bytedance mit Hauptsitz in Peking ist nun eine der schnellstwachsenden Firmen weltweit. Tiktok wird in Süd- und Südostasien immer beliebter. Doch etwas fehlt dem erfolgreichen Unternehmer: eine breite Nutzerbasis in den lukrativen Märkten Europas und den USA.

Der Kauf

Es ist 2018, und Zhang entscheidet sich für den Schnellzug Richtung Erfolg – mit der Übernahme einer bereits erfolgreichen App: Musical.ly. Die Anwendung macht im Grunde dasselbe wie Tiktok: Sie ist ein Videoportal, das bei Teenagern und jungen Erwachsenen beliebt ist. Musical.ly wurde ebenfalls von einem Chinesen gegründet und hat bereits 200 Millionen Nutzerinnen und Nutzer, viele davon im Westen.

Bytedance zahlt 800 Millionen Dollar für die Fusion. Damit hat Tiktok auf einen Schlag 280 Millionen Nutzerinnen und Nutzer weltweit. Rund die Hälfte davon stammen aus reichen, westlichen Ländern.

Während Zhang Yiming im Ausland damit einen grossen Erfolg feiern kann, gerät er zu Hause in China massiv unter Druck – und zwar wegen seines immer mächtiger werdenden Konzerns Bytedance. Er spürt das, was anderen Tech-Unternehmern vor ihm bereits widerfahren ist: die harte Hand der kommunistischen Partei.

Das hat vor allem mit Partei- und Staatschef Xi Jinping zu tun. Als er 2013 an die Macht kam, endete für Chinas Privatwirtschaft eine wilde, mehrheitlich unregulierte Zeit. Sie wurde abgelöst von vermehrter staatlicher Kontrolle.

Xi hatte es vor allem auf den Technologiesektor abgesehen. Auf die ganz grossen, ganz mächtigen Konzerne – so wie Alibaba, den Online-Händler. Alibaba-Gründer Jack Ma hatte 2020 die Regulierungsbehörden öffentlich kritisiert. Daraufhin verschwand er monatelang aus der Öffentlichkeit. Sein Tech-Imperium wurde in sechs Teile zerschlagen und verlor massiv an Marktanteilen.

So etwas blüht auch Zhan Yiming. Im Jahr seiner Fusion mit Musical.ly wird ihm in China eine andere Plattform zum Verhängnis. Sie heisst Neihan Duanzi – zu deutsch: zweideutiger Sketch.

Neihan Duanzi, eine der ersten Apps von Bytedance, ist eine Ansammlung von lustigen Illustrationen, Comedy-Videos, aber auch von dem einen oder anderen Witz unter der Gürtellinie. Innerhalb von sechs Jahren ist sie auf etwa 30 Millionen Nutzerinnen und Nutzer angewachsen. Alle schätzen den Humor hier, und sie vernetzen sich auch im echten Leben, organisierten Veranstaltungen, erfinden eine Art Erkennungszeichen, indem sie am Rotlicht einmal lange und zweimal kurz hupen.

Das passt der autokratischen Regierung nicht. Zu viel der Bürgerorganisation. Die Partei befürchtet, der Humor könnte politisch werden. Sie zwingt Zhang dazu, die Plattform zu schliessen – offiziell wegen vulgärer Inhalte. Die Regierung zensiert sogar das Lied «On Earth», eine Art inoffizieller Markensong der Plattform. Auch das Hupzeichen an den Rotlichtern verbietet sie.

Nach dem Aus von Neihan Duanzi 2018 publiziert Zhang im April 2018 eine öffentliche Entschuldigung. Er habe «versagt», schreibt er, er sei «voller Reue und Schuld» und könne nicht mehr schlafen, weil sich die Inhalte auf seiner App «nicht mit den sozialistischen Werten vertragen» hätten.

Die App habe zu wenig «positive Energie» verbreitet. «Positive Energie», das ist in China eine beschönigende Umschreibung für Inhalte, die Partei und Regierung in einem guten Licht darstellen. Propaganda also.

Zhangs Verhalten ist typisch. Er lebt in einem Land, in dem der politische Wind von einem auf den anderen Tag drehen kann. In einem Land, in dem weltbekannte Unternehmer wie Jack Ma verschwinden können. Wenn er nicht mit der Regierung kooperiert, werden er und seine Firma Bytedance vom übermächtigen Staat marginalisiert. Dem will Zhang zuvorkommen.

Zhangs Kniefall hinterlässt auch bei der chinesischen Zwillingsschwester von Tiktok Spuren. Auf Douyin gibt es seither eine Rubrik mit dem Titel «positive Energie». Zu sehen sind Lobeshymnen auf die Regierung und Videos zur Schönheit Chinas.

Der ahnungslose Westen

Von all dem bekommt man im Westen aber nichts mit. Auch der Zusammenschluss von Tiktok mit Musica.ly wirft keine hohen Wellen. Im Silicon Valley, der bislang unangefochtenen Wiege der Tech-Welt, ist die Übernahme nur eine Randnotiz.

Kenner der Branche halten Tiktok für eine von vielen Apps aus China, die eben mal etwas Erfolg haben. In einer Teenie-Plattform sehen die meisten keine ernstzunehmende Konkurrenz.

Was für eine Fehleinschätzung.

Einer, der früh erkennt, was da heranwächst, ist der westliche Gegenspieler von Zhang Yiming: Facebook-CEO Mark Zuckerberg. Bereits Ende 2018 lanciert er die Video-App Lasso. Sie kopiert das Konzept von Tiktok. Es ist der erste Versuch, der chinesischen Plattform einen Klon aus dem Silicon Valley entgegenzusetzen – und er scheitert kläglich.

Denn Zhang ist auf den Angriff vorbereitet. Mit einer raffinierten Finte stellt er sich dem Kampf gegen Instagram, Facebook und Twitter. Er lässt zu, was die anderen verbieten: dass Nutzerinnen und Nutzer Videos von Tiktok herunterladen und auf anderen Plattformen posten können.

Damit verbreiten sich die aufregendsten Tiktok-Videos auf Facebook, Instagram und Twitter, immer versehen mit einem Wasserzeichen, der mittlerweile weltberühmten Musiknote.

Das Logo zeigt allen: Seht her, die coolsten, spannendsten und aufregendsten Dinge geschehen woanders. Auf Tiktok.

Das Markenzeichen der App sind die ultrakurzen Videos von rund 15 Sekunden. Sie passen ausgezeichnet in eine Welt, in der die Aufmerksamkeitsspanne immer kleiner wird.

Wer sich eine halbe Stunde durch die Plattform scrollt, sieht rund 120 unterschiedliche Videos. Im Schnitt ist das rund vierzig mal mehr als auf Youtube. Hier beträgt die durchschnittliche Länge eines Videos 11 Minuten.

Genau diese Geschwindigkeit macht den Tiktok-Algorithmus so überlegen. Weil die App in viel kürzerer Zeit viel mehr Videos abspielt, lernt sie schneller als ihre Konkurrenten, was den Nutzern wirklich gefällt. Die Plattform wirkt attraktiver, verführerischer.

Der Tiktok-Code

Doch auch für die Hersteller der Videos ist Tiktok verlockend. Sie brauchen nicht wie auf anderen Plattformen erst Tausende von Followern, damit ihre Inhalte zu Hits werden. Sie können bereits mit dem ersten Video viral gehen und damit über Nacht zu Tiktok-Stars werden.

Der Tiktok-Code funktioniert so: Nachdem eine Nutzerin ein Video geteilt hat, spielt es die App auf den Handys von etwa zehn fremden Nutzern ab. Wenn ihnen das Video gefällt, sie es also anschauen, liken, kommentieren und weiterverbreiten, dann stuft der Algorithmus den Inhalt als besser ein. Er verteilt ihn an hundert Leute, dann an tausend. Stösst das Video bei ihnen ebenfalls auf Anklang, kann es sich weiter hochschaukeln – bis zu einem Megahype.

Das ist auch Oluyomi Scherrer passiert. Der Schweizer Koch ist Mitte 20 und verbreitet unter dem Namen «Thispronto» Rezeptvideos von Fastfood. Sein Markenzeichen: Er nutzt ein Apple-Tablet als Schneidebrett.

Scherrer motzt Burger mit noch mehr Käse auf, oder Süssigkeiten mit noch mehr Schokolade. Am Schluss seiner Videos nimmt er jeweils einen genussvollen Bissen vom heiss-dampfenden Snack. Es sind Filmchen von ein paar Sekunden. Doch Scherrer erreicht damit ein riesiges Publikum. Sein Account zählt aktuell rund 16 Millionen Follower, fast doppelt so viele, wie die Schweiz Einwohner hat.

Mit Tiktok ist es ein wenig wie mit Scherrers Fastfood. Nach jedem Video will man mehr, noch einen Bissen, immer weiter. Jedes Filmchen gibt uns einen neuen Dopamin-Kick, eine weitere kleine Belohnung. Umso schwieriger wird es, die App zu schliessen und das Telefon beiseite zu legen.

Tiktok macht nicht satt.

Das ist der Kern des Geschäftsmodells von sozialen Netzwerken. Jede Minute, die wir auf ihren Plattformen verbringen, zieht Werbekunden an. So ist es nicht erstaunlich, dass die Konkurrenz den Tiktok-Sog kopieren will.

Im Sommer 2020 führt Instagram sogenannte Reels ein, eine Plattform für Kurzvideos. Der Gigant Youtube muss ebenfalls auf den Rausch der kurzen Clips reagieren und setzt auf sogenannte Shorts. Das mag einige von der Abwanderung abhalten, doch es führt nicht dazu, dass die Jungen zurückkehren. Sie bleiben auf Tiktok.

Damit ist der Gegenangriff der Tech-Giganten aus den USA zumindest teilweise gescheitert. Denn Tiktoks Einfluss wächst weiter. Auch bei über 25-Jährigen. Sie nutzen die App längst nicht mehr nur zur Unterhaltung. Bereits 2020 sagte jede fünfte Nutzerin, sie informiere sich auf der Plattform über aktuelle Ereignisse. Drei Jahre später, 2023, hat sich dieser Anteil verdoppelt. Das gilt sowohl für Deutschland als auch für die USA.

Insgesamt nutzen heute 1,6 Milliarden Menschen die Plattform. In Deutschland und in der Schweiz ist jeder Vierte im Tiktok-Bann.

Kein Ende in Sicht: Seit seiner Gründung wächt Tiktok Jahr um Jahr.

Anzahl Tiktok-Nutzer, die mindestens einmal im Monat auf die App zugreifen, pro Quartal, in Millionen

Tiktok tickt anders

Zum ersten Mal hat es eine chinesische App geschafft, tief in den Alltag der Menschen auf der ganzen Welt vorzudringen. Mit dem Boom von Tiktok gehört eine alte Überzeugung beerdigt: dass chinesische Unternehmen nur schlechte Kopien von westlichen Innovationen herstellen.

Heute ist es genau umgekehrt. Westliche Software-Unternehmen haben das kopiert, was diese Plattform aus China erfolgreich gemacht hat.

Doch Tiktok tickt anders. Das merken einige Nutzerinnen und Nutzer bereits 2019. So auch die 17-jährige Feroza Aziz.

Die Schülerin aus New Jersey veröffentlicht im November 2019 ein Video, bei dem es vordergründig darum geht, wie man eine Wimpernzange benutzt. Mittendrin wechselt sie abrupt das Thema und kritisiert «was in China passiert, wie sie Konzentrationslager schaffen und unschuldige Muslime darin einsperren». Aziz nimmt damit Bezug auf die Unterdrückung der Uiguren in der chinesischen Region Xinjiang.

Teen embeds message about Xinjiang Uyghurs in TikTok make-up vid

Das Video wird fünf Millionen Mal angeklickt. Tiktoks Reaktion ist bezeichnend: Als sogenannte Content Moderatoren Aziz’ Tarnung entlarven, löschen sie das Video und blockieren ihr Profil.

Der Fall zeigt, dass es die chinesische Regierung geschafft hat, ihre roten Linien auch ausserhalb ihrer Landesgrenzen durchzusetzen.

So wie Feroza Aziz geht es vielen Nutzerinnen und Nutzern. Ihnen fällt zunehmend auf, dass bestimmte politische Themen, die in China heikel sind, auf Tiktok kaum Publikum finden. Dazu gehört das Tiananmen-Massaker von 1989 in Peking, die Debatte über eine Unabhängigkeit Taiwans, der Tibet-Konflikt. Die User fragen sich: Entscheidet die chinesische Partei auch bei uns, was wir sehen, und was nicht?

Tiktok reagiert auf die Zensurvorwürfe mit der Flucht nach vorne. Das Unternehmen bestreitet sämtliche Vorwürfe und gründet lokale Teams in zahlreichen Ländern. Sie sollen bestimmen, was auf der Plattform publiziert werden darf. Das USA-Team etwa rühmt sich, besonders viel Meinungsfreiheit zuzulassen – und das, obwohl es unter anderem Feroza Aziz’ Video gelöscht hat.

Die Indizien

In den folgenden Jahren bestätigen sich die Zensurvorwürfe immer wieder, zuletzt in einer Analyse der Rutgers Universität in den USA. Forschende untersuchten im Herbst 2023, wie sich Hashtag-Kampagnen auf Tiktok verbreiten und verglichen dies mit Instagram.

Anfangs überprüften sie Hashtags zur Popkultur und fanden keine Unterschiede. Posts mit den Schlagwörtern #TaylorSwift und #ChristianoRonaldo kommen auf Tiktok und Instagram ungefähr gleich oft vor.

Ganz anders sieht es bei Inhalten aus, die chinakritisch sind. Beiträge mit den Hashtags #Uyghur, #Tibet, #DalaiLama, #HongKongProtest oder #Tianmensquare sind auf Tiktok massiv unterrepräsentiert.

Die Forschenden kamen deshalb in ihrem Bericht zu folgendem Fazit: «Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass Inhalte auf Tiktok entweder verstärkt oder unterdrückt werden – je nachdem, ob sie den Interessen der chinesischen Regierung entsprechen.»

Tiktok selbst reagierte empört. Die Firma bemängelte die Studie der Rutgers Universität als «fehlerhaft» und erklärte, mit Hashtag-Analysen liessen sich keine korrekten Aussagen über die Inhalte auf der Plattform treffen. Allerdings hatte das Unternehmen kurz davor exakt dieselbe Methode für eine eigene Analyse eingesetzt.

Kurze Zeit später nahm Tiktok das Datentool offline, mit dem die Forschenden der Rutgers-Studie ihre Hashtag-Analyse erstellt hatten. Damit verschwand das einzige öffentliche Werkzeug zur Auswertung von Inhalten auf der Plattform.

Frühere Recherchen kamen bereits zu ähnlichen Ergebnissen. Journalisten des Portals «Netzpolitik »fanden heraus, dass Begriffe wie «Arbeitslager», «Umerziehungslager» oder «Konzentrationslager» in der automatischen Untertitelung von Videos mit Zensur-Sternchen versehen wurden. Aus dem Wort «Arbeitslager» wurde «arbeits************», aus «Internierungslager» wurde «internierung************». Auch hier reagierte Tiktok umgehend auf die Kritik – und sagte, man habe fälschlicherweise veraltete «Sprach-Schutzmassnahmen» angewandt.

Brisant sind solche «Fehler» vor allem bei Themen, die gerade hochpolitisch sind und unter Umständen Wahlen beeinflussen können. Die Rutgers-Studie legte etwa nahe, dass der Hashtag #StandWithUkraine auf Tiktok unterdrückt wird. Dasselbe gilt für den Hashtag #StandWithIsrael.

Die Beispiele zeigen, dass die kommunistische Partei Chinas und die Entscheidungsträger bei Tiktok scheinbar deckungsgleiche Haltungen vertreten. Allerdings gibt es bis heute keinen harten Beweis dafür, dass die chinesische Regierung tatsächlich aktiv bei der Plattform mitmischt. Doch die Indizien mehren sich. Davon gehen auch die US-Geheimdienste aus.

Die Angst vor Tiktok

Wie wichtig Tiktok für China selbst geworden ist, zeigt die Reaktion der Regierung, als der damalige amerikanische Präsident Donald Trump bereits im Sommer 2020 ein Verbot der App oder einen Verkauf an amerikanische Investoren forderte.

Als sich hochrangige Käufer wie Oracle und Walmart meldeten, intervenierte die chinesische Regierung. Sie verbietet den Verkauf von Algorithmen und anderen KI-gestützten Technologien. Das heisst: Tiktok darf nicht in ausländische Hände fallen.

Dass China lieber ein Verbot der App in den USA riskiert, als die Plattform ins Ausland zu verkaufen, wirft Fragen auf. Offenbar ist Tiktok zu wichtig für die Regierung – und das, obwohl es im eigenen Land auf der Schwarzen Liste steht.

Was aber die Angst vor der chinesischen Beeinflussung am meisten nährt, ist das Mutterunternehmen von Tiktok, Bytedance. Es operiert im chinesischen Umfeld und ist damit dem chinesischen Gesetz unterstellt.

Dort muss jede Einzelperson oder Firma, egal ob privat oder staatlich, mit der kommunistischen Partei kooperieren – zum Zweck der Staatssicherheit. Der chinesische Nachrichtendienst könnte von Tiktok verlangen, Nutzerdaten preiszugeben. Die staatliche Propaganda-Abteilung könnte versuchen, zu beeinflussen, welche Inhalte auf Tiktok verbreitet werden, und wie die einzelnen Themen gewichtet werden.

In jeder grösseren Firma in China sitzen Parteizellen. Das sind Mitglieder der Kommunistischen Partei, die bei vielen Entscheiden mitreden. Bei Personalfragen, bei Geschäftsmodellen, oder bei der Wahl eines geeigneten Standorts. Oft haben sie fachlich keine Ahnung. Ihre Aufgabe ist es, das Unternehmen im Sinne des chinesischen Staats zu beeinflussen.

Das ist auch bei Bytedance der Fall. Und es kommt sogar noch etwas dazu. 2021 hat die Partei sogenannte goldene Aktien gekauft einer wichtigen chinesischen Unternehmenseinheit von Bytedance. Damit erhielten Parteimitglieder Einsitz in den Vorstand.

Hinzu kommt, dass laut einer Linkedin-Analyse von «Forbes» bei Bytedance Hunderte Angestellte arbeiten, die einst in staatlich kontrollierten Medien tätig waren und damit Hand in Hand mit den Zensurbehörden kollaborierten. Gemäss der Recherche erhielten einige von ihnen sogar Gehälter von Staat und Bytedance gleichzeitig.

Doch nicht nur bei Bytedance mehren sich die Indizien. Auch Tiktok selbst ist in kleinere Skandale verwickelt. So etwa musste sich die Firma nach einer Recherche der britischen Zeitung «The Guardian» Ende 2022 entschuldigen. Mindestens vier Tiktok-Angestellte hatten erfolglos versucht, mit der App zwei Journalistinnen auszuspionieren.

Sie wollten dabei die Handys orten, mit denen die Journalistinnen Tiktok nutzten. Sie wollten sehen, ob sie sich mit anderen Mitarbeitenden getroffen hatten, von denen man befürchtete, dass sie Tiktok-interne Dokumente der Öffentlichkeit zuspielen wollten.

Aktuell ist Tiktok vor allem wegen sogenannten Fake-News in den Schlagzeilen. Laut Experten eignet sich die App besonders gut für irreführende Kampagnen. So entlarvte etwa die BBC ein Netzwerk aus gefälschten Konten, das massenhaft Videos postete, um den früheren ukrainischen Verteidigungsminister Olexi Resnikow zu Fall zu bringen.

Resnikow war eine Schlüsselfigur in den ukrainischen Bemühungen, westliche Militärhilfe zu beschaffen. Die Kampagne zielte darauf ab, die Integrität der ukrainischen Elite im europäischen Ausland infrage zu stellen. Resnikow musste im September 2023 auf öffentlichen Druck hin zurücktreten.

Jüngst zeigte sich schliesslich, wie populistische und extremistische Akteure versuchen, sich den Tiktok-Algorithmus zunutze zu machen. Dazu gehört etwa Martin Sellner, das Aushängeschild der Identitären Bewegung. Oder Exponenten der rechtsextremen Jungen Tat. Akteure wie sie publizieren erst harmlosere Videos, um möglichst viele Follower zu erhalten. Dann folgen immer extremistischere Inhalte.

Dieses Prinzip beherrscht etwa die AfD in Deutschland hervorragend. Laut einer aktuellen Studie erreicht ein Video der rechtspopulistischen Partei auf Tiktok etwa 400 000 Menschen. Bei anderen deutschen Parteien sind es hingegen nur maximal 80 000 Menschen. Damit erfährt die AfD nicht zuletzt durch Tiktok gerade einen grossen Zuwachs von sehr jungen Sympathisanten.

Was sagt Bytedance zu all diesen Vorwürfen?

Eine Medienanfrage lässt das Unternehmen unbeantwortet. Dafür reagiert Tiktok. Gleich zwei Kommunikationsexperten kommen für ein Hintergrundgespräch in die NZZ-Redaktion nach Zürich. Einer von ihnen ist Tim Klaws. Er ist Leiter der Government-Relations-Abteilung von Tiktok im deutschsprachigen Raum und damit eine Art Chef-Lobbyist des Unternehmens in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Klaws ist in Eile, er war gerade beim Schweizer Fernsehen wegen einer Dokumentation zum Thema. Nun sitzt er hier und sagt: alles falsch. Man gewähre keiner Regierung Zugriff auf Nutzerdaten. Genauso wenig könne China Einfluss auf die Inhalte der App nehmen. Denn Tiktok sei gar kein chinesisches Unternehmen. Es habe zwei Firmensitze, in Los Angeles und in Singapur – also ausserhalb von Chinas Einflussbereich.

Klaws sagt: «Die Tiktok-Nutzerdaten werden in Datenzentren ausserhalb von China gespeichert.» Was aber ist mit Bytedance, dem chinesischen Mutterunternehmen von Tiktok? Das seien zwei völlig unterschiedliche Firmen, suggerieren Mediensprecher immer wieder.

Wirklich? Eine strikte Trennung der beiden Firmen scheint unplausibel. Man denke sich, Mark Zuckerberg würde plötzlich behaupten, Instagram und Meta seien zwei voneinander völlig unabhängige Unternehmen.

Klaws versucht, die Zweifel gegenüber Tiktok mit einem Projekt namens Clover zu beseitigen. Dahinter verbirgt sich der Plan, sämtliche Daten von europäischen Nutzern auf Servern in Europa zu speichern. Tiktok baue dafür eigene Datenzentren, sagt Klaws. Zwei in Irland und eins in Norwegen. «Das sind Investitionen von zwölf Milliarden Euro.»

Ein externes Sicherheitsunternehmen, die NCC Group, überwache zudem, ob wirklich keine Nutzerdaten nach China flössen. Klaws sagt: «Wenn Sie Tiktok selbst nicht glauben, dann glauben Sie vielleicht einem externen Sicherheitsunternehmen.»

Wie unabhängig die NCC Group ist, lässt sich nicht überprüfen. Die Firma hat eine Medienanfrage zum Thema unbeantwortet gelassen.

China-Kenner zweifeln an der Argumentation von Tiktok. Einer von ihnen ist Kai von Carnap. Der unabhängige Experte für chinesische Technologiefirmen weist auf die enge strategische Zusammenarbeit von Bytedance und Tiktok hin. Er sagt: «Die Steuerung von Tiktok liegt bei Bytedance. Und Bytedance ist an Peking gebunden.»

Für ihn ist deshalb klar: «In den entscheidenden Momenten ist die Kommunistische Partei Chinas die Entscheidungsträgerin bei Bytedance.»

Das Unbehagen bleibt

Desinformationskampagnen, radikale Videos und die Unterdrückung von chinakritischen Inhalten: Es sind viele Indizien, die da zusammen gekommen sind. Zu viele für die USA. Nur so ist zu erklären, wie zwei völlig zerstrittene Parteien wie die Republikaner und die Demokraten geeint gegen Tiktok vorgehen.

Das war bereits vor zwei Monaten abzusehen. Damals, als der Tiktok-CEO Shou Zi Chew im amerikanischen Kongress Platz nehmen musste. Das Verhör ging weiter.

Parlamentarier: Sie waren der CFO von Bytedance?

Chew: Ja.

Parlamentarier: Wo haben Sie damals gelebt?

Chew: In China, fünf Jahre lang.

Parlamentarier: Joe Biden sagte, Xi Jinping sei ein Diktator. Sind Sie damit einverstanden?

Chew: Ich werde keinen Kommentar zu irgendwelchen Machthabern abgeben.

Parlamentarier: Haben Sie Angst, dass Sie Ihren Job verlieren würden? Dass Sie verhaftet und verschwinden würden, wenn sie das nächste Mal nach China gehen?

Chew (schüttelt resigniert den Kopf): Sir . . .

Die Frage, wie viel China in Tiktok steckt, wird Shou Zi Chew nie loslassen. Und alle anderen auch nicht.

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