Donnerstag, Dezember 26

Erstmals erhält Nordirland eine pro-irische Regierungspräsidentin. Michelle O’Neill setzt auf Sachpolitik – doch verliert sie das strategische Ziel ihrer Partei Sinn Fein nie aus den Augen.

Der Weg von Michelle O’Neill an die Spitze der nordirischen Regionalregierung war keineswegs vorgezeichnet. Die heute 47-Jährige wuchs während des nordirischen Bürgerkriegs in einem Dorf in der Grafschaft Tyrone auf, der Vater sass als Mitglied der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) im Gefängnis. Im Alter von 16 Jahren wurde sie schwanger. Dass sie als unverheiratete Jugendliche ein Mädchen zur Welt brachte, sorgte im katholischen Dorf für Aufsehen.

Historischer Moment

Seit dem Wochenende ist die Mutter von zwei Kindern nun die erste Regionalpräsidentin Nordirlands, die nicht zum Lager der probritischen Unionisten zählt, sondern zu jenem der proirischen Nationalisten. Ihre Ernennung ist ein historischer Moment für ihre Partei Sinn Fein, die bei den Wahlen von 2022 erstmals zur grössten Kraft avancierte.

Gemäss dem Karfreitagsabkommen von 1998 regieren Protestanten und Katholiken in einer Koalition, wobei die stärkste Partei den Regionalpräsidenten und die zweitstärkste den faktisch gleichberechtigten Vizepräsidenten stellt. Mit einer Blockade hatte die unionistischen Democratic Unionist Party (DUP) die Regierungsbildung zwei Jahre lang torpediert.

Sinn Fein galt früher als politischer Arm der terroristischen IRA und strebt nach wie vor die Vereinigung der britischen Provinz mit der irischen Republik im Süden an. Doch ist Michelle O’Neill eine Vertreterin einer neuen und unbelasteten Generation von Sinn-Fein-Vertretern, die nach dem Ende des Bürgerkriegs in die Politik einstieg.

Nach ersten politischen Gehversuchen auf lokaler Ebene stieg sie rasch ins Regionalparlament in Belfast auf. Die Parteispitze berief sie 2011 zur Landwirtschafts- und 2016 zur Gesundheitsministerin. In dieser Funktion beendete sie das Blutspende-Verbot für Homosexuelle und setzte damit im religiös-konservativen Nordirland ein Signal der gesellschaftspolitischen Öffnung.

Grosser Generationenwechsel

2018 kam es bei Sinn Fein zum grossen Generationenwechsel. Mary Lou McDonald übernahm von Gerry Adams das Zepter als Parteichefin und Anführerin von Sinn Fein in der irischen Republik. O’Neill wurde zur Vizepräsidentin sowie Leaderin in Nordirland gekürt, wo sie in der Regionalregierung die Nachfolge des IRA-Veteranen Martin McGuinness antrat.

Die zwei Power-Frauen sollten der Partei ein moderneres Image verleihen, doch schlug O’Neill Skepsis entgegen. Kommentatoren bezeichneten sie als Marionette von Adams, der im Hintergrund die Fäden ziehe. Während der Pandemie verstummten die Kritiker, als O’Neill als Vize-Regionalpräsidentin gesundheitspolitischen Sachverstand bewies und vielfach den richtigen Ton traf.

O’Neill setzt eigene Akzente. So nahm sie entgegen der republikanischen Tradition am Begräbnis von Königin Elizabeth II. und an der Krönung von Charles III. in London teil. Doch ideologisch grenzt sie sich nicht klar von der Vergangenheit ab. Sie stammt aus einer IRA-Familie und nahm 2020 im Widerspruch zu den Covid-Massnahmen am Begräbnis eines IRA-Veterans in Belfast teil.

Einheit als strategisches Ziel

Sinn Feins strategisches Ziel ist die irischen Einheit. Doch im politischen Alltag ist das Thema spürbar in den Hintergrund gerückt. Bei den nordirischen Regionalwahlen setzte O’Neill auf Probleme, die der Bevölkerung unmittelbar unter den Nägeln brennen – wie die steigenden Lebenshaltungskosten oder die Wartelisten im Gesundheitswesen.

Als Regionalpräsidentin will O’Neill sachpolitische Kompetenz beweisen und Sinn Fein damit für immer breitere Kreise wählbar machen. In Dublin könnte McDonald laut den Umfragen bald zur irischen Regierungschefin avancieren. Diese Chancen wollen die Power-Frauen nutzen, um die politische Kooperation zwischen Nordirland und Irland zu vertiefen – und damit die irische Einheit offensiv voranzutreiben.

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