Freitag, Oktober 18

Über den israelischen Grenzübergang Kerem Shalom gelangen seit Dezember Treibstoff und Nahrungsmittel nach Gaza. Eine Gruppe von Aktivisten hat sich zum Ziel gesetzt, diese Lieferungen zu verhindern. Was treibt sie an?

Ein paar junge Männer machen den ersten Schritt. Sie reissen den Metallzaun nieder und rennen mit lautem Gebrüll los. Die Soldaten auf der anderen Seite sind in der Unterzahl und können nur wenige aufhalten. Die anderen erreichen jubelnd ihr Ziel: den Grenzübergang Kerem Shalom zwischen Israel und Gaza. Ihnen folgen Frauen, ältere Männer, Familien mit Kleinkindern. Mehrere hundert Menschen sind laut den Organisatoren an diesem Februarmorgen gekommen, um humanitäre Hilfslieferungen nach Gaza zu blockieren.

Zwei Stunden zuvor: Es ist ein verregneter und kalter Morgen, etwa 50 Menschen stimmen sich an einer Tankstelle 40 Kilometer weiter östlich auf die heutige Blockadeaktion ein. Viele schwenken Israel-Flaggen, tragen Kippa und Tzitzit, die vier geknoteten Fäden an den Ecken des Hemdes, als Zeichen ihrer Frömmigkeit.

Shir Dahan passt äusserlich nicht dazu. «Ich bin heute zum ersten Mal dabei», sagt die 26-Jährige. Die junge Frau mit Ponyfrisur und Halstuch ist aus der Nähe von Jerusalem gekommen, wo sie Modedesign studiert. «Dieser Protest ist der einzige, der tatsächlich etwas bewirkt, weil wir die Hilfslieferungen physisch blockieren.»

Wie die meisten hier ist Dahan überzeugt, dass die gesamte humanitäre Hilfe direkt an die Hamas geht. «Es ist eine Tragödie, was in Gaza passiert», sagt sie. «Aber die sogenannte Hilfe erreicht die Menschen dort nicht – sondern verlängert nur den Krieg und ihr Leid.»

72 Prozent der Israeli lehnen die Hilfslieferungen ab

Nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober hatte Israel den Gazastreifen zunächst komplett abgeriegelt. Ende Oktober erlaubte die israelische Regierung erste Hilfslieferungen durch den Rafah-Übergang an der ägyptischen Grenze. Ende November erklärte sich Israel auf internationalen Druck hin bereit, täglich 200 Lastwagen nach Gaza passieren zu lassen. Um diese Kapazität zu erreichen, öffnete es auch den Übergang Kerem Shalom an der israelischen Grenze. Seit dem 17. Dezember rollen hier Camions mit Hilfsgütern in den Küstenstreifen.

Doch Ende Januar begannen israelische Aktivisten, die Lieferungen zu blockieren. Teilweise mussten die Transporte über Ägypten umgeleitet werden. Kurz darauf erklärte die israelische Armee den Übergang zu einer militärischen Sperrzone, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Die Gegner der Hilfstransporte kamen trotzdem. Vergangene Woche wurden 30 von ihnen kurzzeitig festgenommen.

Der Grenzübergang Kerem Shalom

Die neuen Bestimmungen haben den Protestzug erfinderisch werden lassen. Nach einer Dreiviertelstunde verlässt ein Tross von etwa 50 Autos die Tankstelle östlich von Kerem Shalom. Die Aktivisten vermeiden den direkten Weg über die Autobahn – dort befinden sich Polizeisperren. Der Konvoi fährt stattdessen über sandige Feldwege, die auf keinem Navigationssystem eingezeichnet sind, und durchquert sogar einen kleinen Bach. Normalerweise würde die Fahrt nach Kerem Shalom 35 Minuten dauern, auf den Schleichwegen im Niemandsland braucht man über eine Stunde.

Auf dem Weg passieren die Demonstranten einige Landwirtschaftsbetriebe und nehmen weitere Sympathisanten in ihren Konvoi auf. Ein Arbeiter neben einem Gewächshaus reckt den Daumen in die Höhe. Laut einer Umfrage des israelischen Fernsehsenders Kanal 12 lehnen 72 Prozent der Israeli die Hilfslieferungen ab, solange die verbleibenden 136 Geiseln in Gaza festgehalten werden.

«Ich bin kein Nazi»

So sind auch die Soldaten und Polizisten in Kerem Shalom wenig motiviert, die Demonstranten aufzuhalten, nachdem sie den Zaun durchbrochen haben. Zu einem der wenigen, den sie festhalten, sagt ein Soldat: «Ich bin wie du, ich bin kein Nazi.» Sobald die Menschenmasse zu den LKW marschiert, geben die Sicherheitskräfte auf. Später machen einige Fotos von den Blockierern und unterhalten sich freundlich mit ihnen.

Ein junger Soldat mit schwarzen Haaren und Dreitagebart zieht die Schultern hoch, als er auf den Protest angesprochen wird. «Als Soldat darf ich das nicht befürworten. Aber als Privatperson finde ich das richtig», sagt er. «Ergibt es etwa Sinn, dass wir unserem Feind helfen?», fragt er, als er auf die wartenden Camions mit Hilfsgütern zeigt.

«Die Hilfe tötet mehr Menschen auf beiden Seiten»

Nachdem sich die erste Euphorie gelegt hat, machen es sich die Demonstranten bequem. Einige haben Campingstühle mitgebracht, andere setzen sich zum Picknick vor die Grenzmauer. Wenn von der anderen Seite, aus Gaza, Detonationen zu hören sind, jubeln einige und rufen: «Gut gemacht!»

Viele derjenigen, die zu den Protesten kommen, sind Nationalreligiöse und Siedler. Rabbi Leo Dee ist einer von ihnen. Er lebt in Efrata, einer israelischen Siedlung im Westjordanland. Im vergangenen April töteten Hamas-Terroristen bei einem Überfall seine Frau und zwei seiner fünf Kinder.

Trotz dem Verlust seiner Familie setzt sich Dee nach eigenen Angaben seither für Frieden mit den Palästinensern ein. Den kann es seiner Ansicht nach nur geben, wenn Israel Stärke demonstriert. Der Rabbi findet es daher falsch, Hilfe nach Gaza zu lassen. «Der Westen nennt das humanitäre Hilfe, wir nennen das Nachschub für Terroristen», sagt er. Ein Grossteil der Hilfe gelange sofort in die Hände der Hamas, verlängere so den Krieg und würde mehr Menschen auf beiden Seiten töten. «Wirklich humanitär wäre es, die Hilfslieferungen komplett einzustellen», sagt er.

Mit anderen Worten: Dee will den Gazastreifen aushungern, um die Hamas zur Aufgabe zu zwingen. Dass Israel völkerrechtlich zum Schutz von Zivilisten verpflichtet ist, scheint ihn nicht zu stören. Im Gegenteil. Er ist überzeugt, dass Israel in diesem Krieg zu viel Rücksicht nimmt und so einen Nachteil erleidet. «Wir befinden uns in einer Situation, die es in der Geschichte der Kriegsführung so noch nie gegeben hat: Wir werden dazu gezwungen, unseren Feind mit Nahrung und Treibstoff zu versorgen.»

Die Technoparty am blockierten Grenzübergang

Organisiert werden die Proteste von der Gruppe Tzav 9. Rachel Touitou engagiert sich dort seit dem Beginn und ist eine der Mediensprecherinnen. Die 32-Jährige spricht schnell. Sie ist aufgebracht. «Wir können es nicht zulassen, dass unsere Soldaten gegen Terroristen mit vollen Mägen und zusätzlichem Treibstoff kämpfen», sagt sie. Für sie geht es seit dem 7. Oktober um die Existenz des Staates Israel und damit auch um die Sicherheit von Juden weltweit.

Touitou leugnet, dass im Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe herrscht. «Was wir in den Medien sehen, spiegelt manchmal nicht die Realität wider», sagt sie. «In den sozialen Netzwerken sehen wir Bilder von Palästinensern, die auf den Markt in Khan Yunis gehen, wir sehen geöffnete Falafel-Imbisse.» Manche Menschen in Gaza befänden sich in einer Notlage, gibt Touitou zu. «Aber die meisten verhungern nicht wirklich. Schau dir die ganzen LKW an: Wir mästen sie.» Einwände, dass über die Hälfte der Häuser in Gaza zerstört sind, dass achtzig Prozent der Bevölkerung vertrieben sind, Hunger herrscht und Krankheiten um sich greifen, lässt sie nicht gelten.

Plötzlich wird das Gespräch mit Touitou von lauten Bässen und elektronischer Musik übertönt. Wenige Meter entfernt haben die Protestierenden ein DJ-Pult und ein Buffet aufgebaut. Die Jüngeren tanzen zu Techno-Beats, die Restlichen packen Hummus, Fleischbällchen, Pita und Krautsalat auf Plastikteller.

Nach einer Stunde Party ergreift einer der Organisatoren ein Megafon und verkündet, dass die Truppe an diesem Grenzübergang die Durchfahrt von 132 LKW mit Hilfsgütern blockiert habe. Die umstehenden Zuhörer jubeln und applaudieren. Danach dröhnt die Musik wieder in voller Lautstärke, die Menge tanzt. Die dumpfen Explosionen aus dem Gazastreifen sind nicht mehr zu hören.

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