Dienstag, März 4

Kathrin W. ist gerade in einem Bekleidungsgeschäft, als in der Innenstadt von Mannheim ein vierzig Jahre alter Deutscher mit seinem Auto in Menschenmengen fährt. Reportage aus einer Stadt, die zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit unter Schock steht.

Es ist Viertel vor zwölf, als Kathrin W. das Geschäft in der Innenstadt von Mannheim betritt. Sie hat ihr Fahrrad in der Nähe angeschlossen und verschwindet im Untergeschoss des Bekleidungsdiscounters. Was dann geschieht, macht diesen sonnigen, vorfrühlingshaften Rosenmontag zu einem der schlimmsten Tage im Leben der 50-jährigen Lehrerin.

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Das Geschäft, in dem Kathrin W. ein paar Kleidungsstücke anprobieren will, befindet sich in der Planken, der Einkaufsstrasse in der Mannheimer Innenstadt direkt am Paradeplatz. Etwa zu dem Zeitpunkt, an dem sie in das Tiefgeschoss geht, muss ein Kleinwagen am etwa 800 Meter entfernten Wasserturm in die Planken eingebogen sein. Am Steuer sitzt mutmasslich ein vierzig Jahre alter Deutscher aus dem benachbarten Bundesland Rheinland-Pfalz. Sein Name wird später im Netz auftauchen.

Kathrin W. hat frei an diesem Tag, so wie viele Menschen in Baden-Württemberg. Die Innenstadt ist voll, am Paradeplatz und an anderen Orten locken Jahrmarktstände und Imbissbuden die Massen an. In einem Container der Tourist-Information neben «Süsser Basar» und «Lango Länge» hängt ein Stoffbeutel im Fenster mit dem Aufdruck «Mannheim ist kein Ort. Mannheim ist ein Gefühl».

Sie fragt sich, ob es vielleicht brennt

Die Planken gehört zu den meistbefahrenen Strassen der Stadt, allerdings nahezu ausschliesslich mit Strassenbahnen. Für den normalen Autoverkehr ist die Planken gesperrt. Vor dem Wasserturm, wo die Strasse beginnt, ist das Abbiegen verboten. Dort steht ein Riesenrad, um das sich am Tag zuvor die Massen gedrängt hatten. Mehrere zehntausend Menschen waren am Sonntag in der Innenstadt unterwegs, um dem Fasnachtsumzug beizuwohnen.

Kathrin W. ist vielleicht eine halbe Stunde in dem Geschäft, als eine Durchsage gemacht wird. Es herrsche eine Gefahrensituation, die Polizei habe eine Evakuierung angeordnet, heisst es. Sie solle alles stehenlassen und das Geschäft verlassen. Ein Brand?, fragt sie sich. Aber sie kann keinen Geruch wahrnehmen, der darauf schliessen liesse. Sie nimmt die Treppe nach oben, tritt aus dem Laden und steht direkt vor einem rot-weissen Absperrband der Polizei.

Das ist etwa der Zeitpunkt, zu dem die Handys der Menschen in Mannheim in einem penetranten Ton zu dröhnen beginnen. Auf dem Bildschirm erscheint eine Warnmeldung: «Einsatzlage der Polizei», heisst es da, «lebensbedrohliche Lage. Warnstufe: extreme Gefahr». In der City laufe ein gross angelegter Polizeieinsatz, die Leute sollten den Bereich grossräumig meiden. Nun wissen es so gut wie alle in der Stadt: Es muss etwas im Gange sein, das Lebensgefahr birgt.

Kathrin W. weiss in dem Moment, in dem sie das Geschäft verlässt, noch nicht, was genau passiert ist. Die Beschreibung dessen, was sie nun mit eigenen Augen sieht, gibt sie der NZZ am Abend per Telefon. Da sind die Geschehnisse gut sechs Stunden her. Sie wirkt gefasst, konzentriert und sachlich, als sie die Ereignisse schildert.

Schaulustige filmen und fotografieren

Zunächst nimmt sie mehrere Strassenbahnen wahr, die leer auf den Gleisen stehen. Dann sieht sie auf der Strassenseite gegenüber einen Körper am Boden liegen, ein paar Meter entfernt noch einen. Weiter oben stehen Polizeimotorräder um etwas, über das eine Decke oder Plane gebreitet wurde. Ein Krankenwagen rast heran, Sanitäter steigen aus, schauen kurz nach dem Körper unter der Decke, steigen wieder ein und fahren zum nächsten Opfer.

Sie sieht Menschen, die ihre Handys in die Höhe halten, die mutmasslich fotografieren und Videos machen von denen, die auf der Strasse liegen, um ihr Leben kämpfen, denen Fremde helfen, die sie zu reanimieren versuchen. Sie sieht Teile auf der Strasse liegen, die ihr Gehirn einem Auto zuordnet, Teile einer Stossstange, einer Radverkleidung. Jemand in der Nähe, so sagt Kathrin W., habe gemeint, der Täter sei bestimmt wieder ein Afghane oder ein anderer Ausländer gewesen.

«Der schöne blaue Himmel, das tolle Wetter und dann die Nähe des Todes, das war total surreal», sagt sie am Abend. Erst langsam habe sie realisiert, was passiert sei. Während sie Kleider probierte, muss in nur wenigen Metern Entfernung ein Auto die Planken heruntergerast und in Menschenmengen gefahren sein. Die Polizei wird später von zwei Toten und zehn Verletzten sprechen, fünf von ihnen schwer verletzt.

Mannheim ist eine gebeutelte Stadt

Kathrin W. will weg, schnell diesen Ort verlassen. Doch als sie über die Strasse will, rasen Autos die Planken herunter, schwarze Limousinen, getönte Scheiben, Blaulicht, Höllentempo. So erinnert sie sich, und sie habe sich gefragt, wer das nun wieder sei. Mit grosser Wahrscheinlichkeit waren es Fahrzeuge des Sondereinsatzkommandos der Polizei. Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, ob es sich um einen Einzeltäter handelt.

Mannheim ist eine gebeutelte Stadt. Gut 300 000 Menschen leben dort an der Grenze zu Rheinland-Pfalz, eine Multikulti-Stadt mit einem hohen Anteil von Einwanderern. Ende Mai vergangenen Jahres tötete dort ein geduldeter afghanischer Asylmigrant den Polizisten Rouven Laur. Gerade hat in Stuttgart der Prozess begonnen. Die Tat ereignete sich auf dem Marktplatz am Rand der Veranstaltung einer islamkritischen Organisation.

Der Angriff war der Auftakt einer Reihe tödlicher Attacken in Deutschland. So raste kurz vor Heiligabend ein aus Saudiarabien zugewanderter Mann mit einem Auto auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg und tötete fünf Menschen. Mitte Februar fuhr ein afghanischer Asylmigrant in einen Demonstrationszug in München und tötete zwei Menschen.

Eine Frau würde gern Blumen niederlegen

Am Nachmittag fahren die Strassenbahnen am Wasserturm noch immer nicht nach links in Richtung Innenstadt, sondern werden umgeleitet. Die Zufahrt zur Planken ist mit rot-weissem Band abgesperrt. Polizisten stehen dahinter, eine ältere Frau wartet mit ihrem Ehemann davor und fragt, wann sie durch dürfe, um Blumen niederzulegen. Das könne sie noch nicht sagen, sagt eine Polizistin, die Frau solle doch in den nächsten Tagen auf den Social-Media-Kanälen der Polizei oder der Stadt nachschauen. Dort werde bekanntgegeben, wann die Innenstadt wieder freigegeben werde.

In der Strasse, die der mutmassliche Amokfahrer entlanggerast ist, sind Polizisten zu sehen. Manche tragen Uniform, manche lediglich eine Weste mit der Aufschrift «Polizei» über Zivilkleidung. Unten auf dem Paradeplatz steht der Pressesprecher der Polizei und sagt, in der Planken liefen noch die kriminaltechnischen Untersuchungen. Solange die Spuren noch nicht vollständig gesichert seien, dürfe niemand durch.

In der Mitte des Paradeplatzes befindet sich die Grupello-Pyramide, ein Brunnen mit jahrhundertealten Figuren. Der Polizeisprecher sagt, am Abend würden die noch amtierende Innenministerin Nancy Faeser und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann erwartet. Dann steigt er auf ein improvisiertes Podest, so dass er von den Medienvertretern vor ihm gut gehört werden kann, und teilt mit, was ohnehin schon weitgehend durchgesickert war.

Auf den Schock folgt die Wut

Ein 40-Jähriger aus Rheinland-Pfalz sei in Menschen gefahren. Es habe zwei Tote und zehn Verletzte gegeben. Die Polizei gehe derzeit davon aus, dass es «keinen politischen Hintergrund» gebe. Deswegen könne auch über das Motiv bis anhin nichts gesagt werden.

Eine weitere Einordnung nimmt der Sprecher nicht vor. Er spricht nicht von einem Angriff, nicht von einer Attacke, auch nicht von einer Amokfahrt. Später heisst es von der Staatsanwaltschaft, es gebe Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung des Täters. Ein Vertreter der Gewerkschaft der Polizei spricht vor Medien von einer Amokfahrt.

Kathrin W. ist zu diesem Zeitpunkt schon längst wieder zu Hause. Sie sagt, nach dem mutmasslichen Mord an dem Polizisten im vorigen Jahr habe sie Sorge gehabt, dass dies «von gewisser Seite» ausgeschlachtet werde. Doch die Stadtgesellschaft sei zusammengestanden und habe sich nicht auseinanderdividieren lassen.

Spätabends meldet sie sich noch einmal per Handynachricht. Nach dem Schock, schreibt sie, mache sich «jetzt langsam die Wut darüber breit, dass Menschen so etwas tun und damit das friedliche Zusammenleben und Miteinander in unserer Stadt kaputtmachen».

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