Dienstag, November 26

Vor 100 Jahren wurde Unseld geboren. Er gehörte zur Aufbaugeneration und scharte die geistige Elite einer ganzen Epoche um sich. Mehrere neue Publikationen zu dem Verleger machen den Kosmos dieser kulturellen Epoche lebendig.

Der Schriftsteller Rainald Goetz erinnert sich an seine erste Begegnung mit Siegfried Unseld. Wie ihm der grossgewachsene Verleger quer durch die Halle des «Bayerischen Hofes» in München im Seemannsgang entgegensegelt. Die eine Hand ergreift mit einigem Druck die Schulter des Jungautors, die andere hat in der eigenen Hose noch etwas zu regeln, hat «die lose Last dort etwas zu heben und zu lockern».

«Von dieser herrlich fein abgestimmten Unkultiviertheit war ich sofort hingerissen, nicht nur als Punk, der ich damals, im Frühjahr 1983, kurz vor Erscheinen des Romans ‹Irre›, im Herzen noch war, sondern auch als Menschenbegeisterter», schreibt Goetz. In dieser Miniatur ist er beinahe ganz zu lesen: der Büchermacher Unseld als Vitalist. Der Mann, der in einer Mainacht 1944 bei seiner Flucht vor den sowjetischen Truppen auf der Krim ins Schwarze Meer gesprungen war und stundenlang den Schiffen entgegenschwamm, die ihn schliesslich retteten. Später werden es jeden Tag um sechs Uhr früh die Hallenbäder Frankfurts sein, in denen Unseld vor dem Tagwerk seinen Körper stählt.

Deutsches Patriarchat in jedem Sinne

Das Trainierte und die Ausdauer gehören zum Mythos rund um den Suhrkamp-Verleger. In den Runden des Literaturbetriebs mischt sich heute ins Bedauern, dass es Figuren wie ihn nicht mehr gibt, auch gelinde Genugtuung. #MeToo und so. Siegfried Unseld war deutsches Patriarchat im geistigen, aber auch im körperlichen Sinn. In den wildesten Zeiten sollen sich Betrieb und Triebe fürsorglich ergänzt haben. Die Suhrkamp-Autoren Martin Walser und Max Frisch waren Komplizen und Teilnehmer dieses Treibens. Man hat sich Frauen zugeschoben. Auch das gehört zur Geschichte des Verlags, zu diesem vor aller Augen aufgeführtem Drama aus Rollen und Rollenverlusten. Ganz vorne an der Bühne: Siegfried Unseld, 1924 in Ulm als Sohn eines Kreisinspektors geboren.

Unseld gehörte zur deutschen Aufbaugeneration. Dass er sich als junger Mann auf ideale Weise dynamisieren konnte, hat mit glücklichen Umständen zu tun. 1952 von Peter Suhrkamp in dessen Verlag geholt, wird Unselds Stellung dort schnell wichtig. Nach dem Tod Suhrkamps im Jahr 1959 übernimmt er als Alleinherrscher ein Haus, das bald Versuchsstation des Büchermachens ist.

Der bildungsbürgerlich-elitäre Habitus des Vorgängers wird auf ein neues, merkantiles Modell heruntergebrochen. Die Bücher sollen sich in Massen verkaufen. Es geht nicht ohne Murren linker Verlagsautoren ab, als Unseld 1963 die regenbogenfarbene, von Willy Fleckhaus grafisch gestaltete Taschenbuchreihe der Edition Suhrkamp ins Leben ruft. Rund 3000 Bände sind bisher erschienen, und ausgerechnet sie wurden zum Proviant all jener Diskurse, die die Linke über den Zustand der Welt im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen führt.

Wie Jahresringe liegen die Bücher der Edition Suhrkamp und später auch andere Theorie-Taschenbuchreihen um die deutsche Geschichte. Das Fortschreiten der Zeit hat das nicht mehr Zeitgemässe immer schnell aussortiert, aber es wuchs bei Suhrkamp ja immer schnell etwas nach. Was Adorno als miesepetrige Kritik an der intellektuellen Modernisierung formulierte, hat sich längst als Prophetie erwiesen: «Viele Taschenbücher treten an die Stelle eines haltbaren.»

Liebevoller Titel für Enzensberger

Haltbar waren zu Siegfried Unselds Zeiten viele Freundschaften, die den Verlag stützten. Bertolt Brecht hatte er noch gekannt und sich, um die eigenen Schwächen wissend, gewichtige Berater ins Haus geholt: Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger, der in den Briefen liebevoll als «Mang» tituliert wird. Ihn lädt Unseld schon 1959 ein, an den Geschicken des Verlags, wie er schreibt: «generalstäblerisch», mitzuwirken. Martin Walsers Einfluss auf die Suhrkamp-Produktion darf genauso wenig unterschätzt werden wie jener von Max Frisch. Wenn die junge, vom Piper-Verlag abgeworbene Ingeborg Bachmann an etwas arbeitete, dann hiess es: «Walser liest mit.» Aber da war auch noch das hervorragende Lektorat, das aus lauter hoch gebildeten Individualisten bestand.

Im Revolutionsjahr 1968 allerdings wurden die Herren Walter Boehlich, Günter Busch, Klaus Reichert und Karl Markus Michel und Urs Widmer zur Unseldschen Nemesis. Sie forderten gleichberechtigtes Mitspracherecht in allen Belangen von Suhrkamp, was der Verleger als persönlich haftender Gesellschafter ablehnen musste. Die Revolution scheiterte, auch weil sich viele Autoren hinter Unseld stellten. Die Lektoren kündigten.

Erstaunlich bleibt die Betriebstemperatur, mit der Siegfried Unseld über Jahrzehnte seinen Verlag geführt hat. 50 000 Briefe hat dieser Mensch in seinem Unternehmerleben geschrieben. Er hat Autoren beschwichtigt und ermuntert. Er musste mit ihnen verhandeln und ihr prekäres Schriftstellerdasein mit Empathie begleiten.

Den in New York lebenden Siegfried Kracauer umwirbt Unseld 1962 brieflich: «Der Verlag nimmt Autoren gegenüber eine sehr spezifische Haltung ein. Uns interessiert nicht nur das einzelne Manuskript, sondern der Autor selber, seine geistige und politische Physiognomie.» Im jetzt erschienenen Buch «Siegfried Unseld: Hundert Briefe» kann man nachlesen, wie sehr sich der Suhrkampianer mit den Besonderheiten geistiger Physiognomie auseinanderzusetzen hatte. Er hadert in der Korrespondenz mit der Trunksucht Uwe Johnsons und mit den Schreibblockaden von Wolfgang Koeppen und Paul Nizon.

Von Peter Handke gibt es 1994 ein Donnerwetter, weil Unseld das 600-Seiten-Manuskript von «Mein Jahr in der Niemandsbucht» nicht binnen weniger Tage gelesen hat. Unseld, mit dem Flugzeug oder seinem Jaguar von Termin zu Termin hetzend, schreibt zurück, dass er auf die heftigen Invektiven «nicht ohne Eingeschüchtertsein» antworten könne. «Ich wachse in eine grosse Einsamkeit hinein. Und dies bei all dem Trubel, bei meiner täglich 16- bis 18stündigen Belastung», hatte der Verleger schon 1976 an Uwe Johnson geschrieben.

Die Halbwertszeit von Pathos

Der Unseldsche Trubel, das war auch der Trubel der Geistesrepublik Deutschland. Nahezu alle grossen literarischen Namen waren Teil des Suhrkamp-Programms. Dass auf den rasch eingestreiften Bedeutungsgewinn auch ein Bedeutungsverlust folgen könnte, war als inneres Vibrieren des Modells Suhrkamp immer zu spüren. Die antipatriarchalen Vatermörder und all jene, die im Haus eine nicht mit linken Ideen kompatible «kulturindustrielle» Schlagseite orteten, haben irgendwann ihre Dolche weggesteckt. Allerdings war da noch das neue Konsensuale der Bundesrepublik.

Die Zeiten, als der Kanzler Helmut Schmidt eben auch gerne einmal auf dem Sofa der Unseld-Villa in der Frankfurter Klettenbergstrasse sass und die Schlagersängerin Milva für ungeheures Geld zu Friedrich Unselds 50. Geburtstag eingeflogen wurde. Der Verlag feierte, wie heute kein Verlag mehr feiern würde. Mit einer überschiessenden Freude am Feiern selbst und in der heimlichen Ahnung, dass sich hier eine Generation zuprostet, deren Verdrängungskraft über den Tod hinaus wirksam bleiben wird. Aber auch Pathos hat eine Halbwertszeit. Das sieht man, wenn man in der digital aufbereiteten Suhrkamp-Chronik liest, die der Verlag pünktlich zum 100. Geburtstag Siegfried Unselds freischalten wird.

Auf über 6000 Manuskriptseiten, aus Unselds Diktiergeräten von der fast schon mythischen Chefsekretärin Burgel Zeeh abgetippt, ist der ganze Kosmos einer kulturellen Epoche lebendig. Ein anekdotisches Who’s who mit Suchfunktion, in dem man sich ganz verlieren kann.

1991, als er noch mehr als zehn Jahre zu leben hatte, hat der Patriarch Siegfried Unseld einen der wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren. Zumindest symbolisch. Es wird das grosse Drama um die Suhrkamp-Nachfolge. Da ist der Vater, der nicht ganz loslassen kann, und da ist der Sohn, Joachim Unseld, der die Hand dieses Vaters wegschlägt. Die Wege trennen sich. Ein Dreivierteljahr zuvor hat Siegfried Unseld jene Frau geheiratet, die er als junge Autorin des Verlags kennenlernte. Ulla Berkéwicz, die das geistige Erbe Suhrkamps angetreten hat, ist heute Teil der Geschäftsführung.

Die wilden Jahre sind vorbei. Die Unseld-Villa in Frankfurt, das Epizentrum eines ganzen kulturellen Zeitalters, ist verkauft. Zur kommenden Buchmesse wird es auch jenen berühmten Suhrkamp-Empfang nicht geben, bei dem sich sonst ein ganzes Milieu seiner eigenen Wichtigkeit versichert. Es steht nicht gut um die Selbstachtung der deutschen Kultur. Ein kleiner Rausch wie anno dazumal könnte ihr nicht schaden.

Von und zu Siegfried Unseld sind unter anderem gerade erschienen: «Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947–2002» (Suhrkamp Verlag, 464 Seiten, Fr. 37.90) und Willi Winkler: «Kissinger & Unseld. Die Freundschaft zweier Überlebender» (Rowohlt Verlag, 304 Seiten, Fr. 35.90). Ausserdem widmet sich die aktuelle Ausgabe der «Zeitschrift für Ideengeschichte» dem «Unternehmen Unseld».

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