Montag, September 30

Siemens‘ Bewertungsabschlag im Vergleich zu Rivalen wie ABB und Schneider Electric ist so gross wie nie. Das hat gute Gründe. Die haben selbst Christopher Hohn und seinen aktivistischen Fonds TCI in die Resignation getrieben.

Anfang vergangener Woche publizierte Nicholas Green vom Analysehaus Bernstein eine bemerkenswerte Studie zu Siemens. Die Siemens-Aktie sei «unglaublich günstig». Seit 2021 – dem Jahr, in dem Roland Busch Chef wurde – sei Siemensʼ Konglomeratsabschlag höher als in allen untersuchten Jahren seit 2014. Der Bewertungsrabatt sei im Vergleich zu den europäischen Rivalen Schneider Electric und ABB so gross wie noch nie.

Das heisst: Siemensʼ Dreiteilung mit dem Börsengang der Medizintechniktochter Siemens Healthineers 2018 und dem Spin-off der krisengebeutelten Energietechnik in Gestalt von Siemens Energy 2020 hat für die Bewertung an der Börse bisher nichts gebracht. Selbst als das Energiegeschäft noch zum Konzern gehörte, bewertete die Börse Siemens relativ zu den Peers höher als heute.

Siemens-Konglomeratsabschlag seit 2021 so hoch wie nie

Der Bewertungsrabatt sei «nicht zu rechtfertigen», so Green. «Wir finden keine plausible Begründung dafür, dass der Konglomeratsabschlag heute höher ist als in der Vergangenheit – aber viele Gründe für das Gegenteil.» Er hat die Aktien seit vergangenem Herbst auf «Kaufen». Auch in der Analystenaufstellung von Bloomberg stehen den 21 Kaufempfehlungen nur zwei neutrale Einschätzungen und zwei Verkaufsempfehlungen gegenüber. Doch die Investoren folgen dem Rat der Analysten nicht.

The Market meint: Die Investoren handeln mit einer grossen Portion Rationalität. Siemensʼ Hauptprobleme lassen sich in Rechenmodellen kaum abbilden. Das ist erstens: Konzernchef Roland Busch. Seit Jahrzehnten hatte Siemens keinen CEO mehr, der Aktionärsinteressen so umfassend ignoriert: Viele grosse Investoren wünschen etwa eine Reduzierung des Siemens-Anteils an Siemens Healthineers. Wenn Busch unter Druck gerät, wie vor einigen Monaten in Diskussionen mit dem aktivistischen Hedge Fund The Childrenʼs Investment Fund (TCI), reagiert er ausserdem immer wieder angefasst und emotional.

Zweitens: Die andauernde Schwäche der wichtigsten Sparte, Digital Industries, ist wohl nicht komplett eingepreist. Siemens hat hierzu seit Frühjahr 2023 immer wieder überoptimistisch kommuniziert. The Market liegen Hinweise vor, wonach bereits ein Sparkurs im Geschäft mit der Automatisierung und der Digitalisierung von Fabriken eingeleitet wurde. Das Geschäft könnte insofern mittelfristig unter Druck bleiben.

Beginnen wir mit zweitens: Investoren stösst auf, dass Siemensʼ Aussagen zu Digital Industries (DI) ständig von einer schlechteren Realität eingeholt werden.

Das lange Warten auf den «industriellen Superzyklus»

Im April 2023 schwärmte Siemens-Vorstand Cedrik Neike auf der Hannover Messe vor Investoren von einem «industriellen Superzyklus», der das Wachstum der Automations- und Softwaregeschäfte antreiben werde. Wenige Wochen später hob Siemens die Jahresprognose für DI an und kündigte milliardenschwere Investitionen an, inklusive einer neuen Fabrik in Singapur und einer Erweiterung des Werks im chinesischen Chengdu.

Seit August 2023 stehen die Zeichen in der Fabrikautomation auf Abschwung: Siemens musste die gerade erst angehobene DI-Prognose gleich wieder senken. Kunden hätten im Covid-Boom ihre Lagerbestände aufgestockt und passten sie an die «entspanntere Situation bei den Lieferketten» an, begründete Busch. Seither erklärt Siemens alle paar Monate wieder, dass sich der Abbau der Lagerbestände hinziehe. Im März 2024 warnte Finanzchef Ralf Thomas überraschend vor einer längeren Schwächephase, wodurch sich am selben Tag 8 Mrd. € Börsenwert in Luft auflösten.

Im Mai musste Siemens die Prognose für DI abermals kräftig stutzen und erwartet für das gesamte Geschäftsjahr (per 30. September) ein Umsatzminus von 4 bis 8% sowie 18 bis 21% operative Marge. Der Lagerabbau werde in China eher bis Ende des Kalenderjahres 2024 dauern, hiess es nun. In Europa und den USA sollten sich die Bestände bis Geschäftsjahresende im September normalisiert haben.

Konkurrenten wie Schneider und ABB vertun sich weit weniger deutlich bei ihren Vorhersagen und schrumpfen nicht so stark, obwohl bei Siemens DI ein stärkeres Softwaregeschäft stabilisierend wirken sollte.

Analysten mussten die Erwartungen für die DI-Sparte fortwährend zurücknehmen; deshalb ist die Konsensschätzung für das Konzernergebnis im dritten Geschäftsquartal (April bis Juni) seit Jahresbeginn immer weiter gesunken.

Einige Indizien sprechen dafür, dass die Krise tiefere Gründe haben und länger dauern könnte – und dass Siemens die DI-Ergebnisse ein Stück weit aufhübscht. Nach Informationen von The Market werden bereits Sparmassnahmen gestartet. In der Zentrale der Digital-Industries-Sparte in Nürnberg-Moorenbrunn wurden Ende Juni alle Mitarbeiter mit Ausnahme der leitenden Angestellten aufgefordert, 90% ihres Jahresurlaubs bis Jahresende zu nehmen. Dort arbeiten mehr als 2600 Verwaltungsangestellte.

Eine solche Regelung hat es bei Siemens so gut wie noch nie gegeben. Normalerweise kann Urlaub bis März des nächsten Jahres genommen werden. Mit dem Vorziehen erspart sich die DI-Sparte Rückstellungen, die für im Folgejahr genommenen Urlaub gebildet werden müssen, und verbessert damit einmalig ihr Ergebnis. Ein Siemens-Sprecher sagt hierzu nur, man habe Massnahmen getroffen, um die Kapazitäten temporär anzupassen.

Gemäss Siemens-Kreisen sind auch andere DI-Standorte von Einschränkungen betroffen. Das deute darauf hin, dass bei DI nicht mit einer baldigen Erholung des Geschäfts gerechnet werde. Für Irritation sorgt, dass Aufsichtsrat Tobias Bäumler – ein Betriebsrat aus der Automatisierungssparte – Ende Juni privat gehaltene Siemens-Aktien für 42’000 € verkauft hat.

Laut Analysten hat Siemens die Guidance für den 2023/24 geplanten Restrukturierungsaufwand für Digital Industries kürzlich auf über 100 Mio. € mehr als verdoppelt. DI hat zudem, ohne dies mitzuteilen, im April das Gaschromatographiegeschäft für 102 Mio. € an Valmet verkauft. Der Deal könnte das Ergebnis im dritten Quartal mit einem hohen zweistelligen Millionenbuchgewinn aufpolstern.

Konzernquellen berichten, dass DI Abfindungsangebote vorbereite, um Stellen abzubauen. Angekündigt sei aber noch nichts. Siemens könnte die Verlängerung von Neikes Vorstandsvertrag abwarten, der Ende Mai 2025 ausläuft, bevor Neike die schlechten Nachrichten offenbart. Der nächste mögliche Termin für die Vertragsverlängerung wäre die Aufsichtsratssitzung am 7. August.

Smart Infrastructure sichert die Konzernjahresprognose

Zumindest dürfte Siemens im dritten Quartal wieder von einem starken Geschäft der zweiten Kernsparte, Smart Infrastructure (SI), profitieren, die im zweiten Quartal bei 5,1 Mrd. € Umsatz und einem operativen Gewinn von 854 Mio. € die höchsten Beiträge aller vier Sparten ablieferte. Getrieben wird das Geschäft unter anderem vom Bauboom bei Rechenzentren. Dank SI dürfte die Konzernjahresprognose gesichert sein: Vorgesagt sind 4 bis 8% Umsatzplus und ein Gewinn je Aktie von 10.40 bis 11 €.

Die SI-Sparte mit Sitz in Zug, die der langjährige Siemens-Schweiz-Chef Matthias Rebellius führt, wird am 12. Dezember erstmals auf einem eigenen Kapitalmarkttag präsentieren. Dies wird erst der zweite Investorentag in der Ära Roland Busch sein, dieses Mal ohne Busch.

Der Sinn für die Aktionärsinteressen fehlt

Das führt zum ersten der anfangs genannten Problempunkte: In seinen dreieinhalb Jahren an der Spitze ist Busch mit seinen Aktionären nie warm geworden. Seine Story vom «fokussierten Technologieunternehmen» verfing nicht – wie auch, wo die Krise von Siemens Energy doch immer wieder schwere Einschläge in den Siemens-Zahlen hinterliess. Buschs Aufbruch ins «industrielle Metaversum» in Partnerschaften mit nahezu allen Silicon-Valley-Grössen schlägt sich in den Geschäftszahlen nicht nieder. Stattdessen musste Siemens im Juni die Auslieferungen neuer ICE des Typs 3neo an die Deutsche Bahn stoppen, wegen Mängeln bei Schweissnähten.

Zu Beginn hofften Investoren noch, Busch werde die von seinem Vorgänger Joe Kaeser gestartete Aufspaltungsstrategie fortsetzen. Die Zugtochter Siemens Mobility ist ausgegliedert und könnte schnell an die Börse gehen. Siemensʼ Anteil an Healthineers von 75% liesse sich einfach via Spin-off an die Siemens-Aktionäre verteilen. Darin sähen Investoren den grössten Hebel zur Wertsteigerung.

Christopher Hohn und sein Hedge Fund TCI machten Druck

Im Lauf des Jahres 2023 nahmen diese Forderungen gegenüber Busch stark zu, hat The Market aus Investorenkreisen erfahren. An die Spitze dieser Bewegung setzte sich The Children’s Investment Fund (TCI), der aktivistische Hedge Fund des Londoner Multimilliardärs Christopher Hohn. Hohn oder seine Leute nahmen immer wieder an Präsentationen der Siemens-Spitze bei Investorenkonferenzen teil. Sie stellten Fragen zu einer Reduzierung oder einer kompletten Abspaltung des Healthineers-Anteils und hakten nach, wieso dies nicht geschehe.

Doch Busch weigerte sich beharrlich, reagierte teils brüsk. Von einem Dinner Buschs mit Siemens-Investoren erzählen sich Teilnehmer, Busch sei so genervt gewesen, dass er massiv geworden sei: Er wolle diese «lächerliche» Diskussion nicht mehr führen. Siemens wollte dies auf Anfrage nicht kommentieren.

TCI soll gemäss Finanzkreisen 2023 auch einen bedeutenden Siemens-Anteil unterhalb der Meldeschwelle von 3% erworben haben. Vergangenen Herbst machte sich der Hedge Fund auf die Suche nach Unterstützern und liess bei deutschen Fondsgesellschaften vorfühlen. Dabei soll es auch um Einflussnahme im Aufsichtsrat gegangen sein. Anfang 2025 läuft das Mandat von Chefkontrolleur Jim Hagemann Snabe ab. Da der ehemalige SAP-Co-Chef Snabe mit zwölf Jahren Gremiumszugehörigkeit gemäss deutschen Corporate-Governance-Regeln nicht mehr als unabhängig gilt, ist seine Wiederwahl kein Selbstläufer.

Zuletzt ist es allerdings still geworden um TCI. Unter Investoren wird dies so interpretiert, dass TCI die Anteile verkauft habe – wegen Aussichtslosigkeit. Bei einem grossen deutschen Fondsanbieter heisst es mit derselben Begründung, man habe in den vergangenen Wochen die Siemens-Anteile weitestgehend veräussert und dafür Papiere der französischen Schneider Electric erworben. Die Franzosen bestechen nicht nur durch ihr stärker auf Elektrifizierung ausgerichtetes Portfolio, sondern auch durch ihren stabilen Track Record.

Ein CEO, der emotional statt rational argumentiert und agiert, ist da auch keine Empfehlung. Unprofessionelles Agieren Buschs wie beim Thema Healthineers kam öfter vor. Als Siemens Energy die Bundesregierung vergangenen Herbst um staatliche Garantien bitten musste, verweigerte sich Busch wochenlang Gesprächen mit Regierungsvertretern. Obwohl Siemens mit 25% Grossaktionär war.

Längst erschwert Buschs Kommunikationsschwäche die Besetzung wichtiger Rollen: Die Abteilungen für Investor Relations (IR) und für Media Relations sind seit über einem Vierteljahr ohne dauerhafte Leitung. Der oder die Neue an der IR-Spitze wird die dritte Person auf diesem Posten in Buschs Amtszeit sein.

Siemensʼ strategischer Stillstand verärgert auch die eigenen Leute. «Als Aktionär hätte ich erwartet, dass der Technologe Busch starke Entscheidungen trifft, wie wir bei technologischen Durchbrüchen den grössten Hebel erzeugen können», sagt ein Siemens-Topmanager, der ein grösseres Paket Siemens-Aktien hält. Einige im Konzern sähen es als sinnvoll an, mit dem Erlös aus Verkäufen die Kernsparten Digital Industries und Smart Infrastructure mit passenden Softwareakquisitionen aufzubauen.

Wie planlos Busch agiert, zeigte sich im Fall von Bentley Systems. Die US-Gesellschaft gilt als hervorragend positioniert bei Software für das Infrastruktur-Engineering. In den vergangenen Monaten buhlten zwei Siemens-Rivalen um Bentley: Schneider Electric und Cadence aus Kalifornien, die mit der Siemens-Tochter Mentor Graphics bei Chipdesignsoftware konkurriert.

Für Siemensʼ SI-Sparte wäre Bentley ein geeigneter Software-Nukleus. Siemens hatte sogar 2016 schon etwa 13% erworben. Doch das Paket wurde kurz nach Bentleys Börsengang im Herbst 2020 in den konzerneigenen Pensionsfonds geschoben und schrittweise verkauft. Seither hat sich Bentleys Wert auf 15 Mrd. $ verzweieinhalbfacht.

Statt den Konzern strategisch weiterzuentwickeln, bremst Busch bei fast allem, was sein Reich verkleinern würde. Beispiel Siemens Healthineers: Der Dax-gelistete Weltmarktführer bei grossen bildgebenden Geräten wie Magnetresonanztomographen laboriert seit über anderthalb Jahrzehnten am missglückten Einstieg in die Labordiagnostik; das Laborgeschäft hat stets underperformt. Der Healthineers-Vorstand wäre wohl offen für eine Trennung, doch der Grossaktionär zieht nicht mit.

Siemens Healthineers kommt nicht vom Fleck

Der Siemens-Aufsichtsrat wirkt wenig involviert. Ende Juni offenbarte Chefkontrolleur Snabe überraschend, er sei aus gesundheitlichen Gründen «viele Monate lang nicht aktiv» gewesen. Damit begründete er seinen Rücktritt als Northvolt-Aufsichtsratschef. Er hatte sich im Januar beim Schwimmen im Meer an einer Metallstufe unter Wasser am Schienbein verletzt, durch Keime ergaben sich Komplikationen und mehrere Operationen.

Siemens erklärt gegenüber The Market, Snabe sei nur vier Wochen ausgefallen. Ausser der Hauptversammlung im Februar und der anschliessenden Aufsichtsratssitzung habe er alle anderen Sitzungen absolviert.

Da der Aufbau eines Nachfolgers versäumt wurde, wird es 2025 wohl auf Snabes Verlängerung hinauslaufen. Sämtliche Zeichen bei Siemens stehen darauf, dass alles beim Alten bleibt. Also auch der Konglomeratsabschlag.

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