Mittwoch, November 27

Das Listing des grössten Konkurrenten GE Vernova hat zu einer Neubewertung von Siemens Energy geführt. Allerdings dürften die Märkte die Risiken unterschätzen – vor allem bei GE Vernova.

Seit der Siemens-Konzern seine Energietechniktochter Siemens Energy im September 2020 via Spin-off an die Börse brachte, haben ihre Aktionäre eine Achterbahnfahrt durchlitten. Die Anfangseuphorie wich schnell Ernüchterung. Als vergangenen November öffentlich wurde, dass Siemens Energy milliardenschwere staatliche Garantien braucht, tauchte der Aktienkurs auf sein bisheriges Tief von 6.39 € ab. Und stieg Phönix-artig wieder auf: Allein seit Jahresbeginn hat sich der Kurs auf gut 24 € verdoppelt.

Neuling GE Vernova zieht Siemens Energy mit nach oben

Den Höhenflug verdankt Siemens Energy auch dem US-Rivalen GE Vernova, einem Spin-off General Electrics. GE Vernova habe «eine Bewertung weit oberhalb der von Siemens Energy erreicht und damit einen Bewertungs-Nordstern geschaffen», so Deutsche-Bank-Analyst Gael de-Bray. Seit die GE-Vernova-Aktien am 27. März mit 115 $ in den Handel starteten, ist ihr Kurs um gut 50% gestiegen.

GE Vernova kam in eine Zeit, in der der Markt auf einen Elektrifizierungs-Superzyklus wettet. «Das Listing von GE Vernova hat gut zur Marktlaune gepasst, in der künstliche Intelligenz ein grosser Treiber ist», sagt Felix Schröder, Fondsmanager von Union Investment. «Es wurde zuletzt immer offensichtlicher, dass die Engpässe bei Rechenzentren auch in der Stromversorgung bestehen und dass dies allein mit Wind- und Sonnenstrom nicht zu lösen ist.»

Die Frage ist nun: Lohnt es sich noch, auf diesen Zug aufzuspringen? Und falls ja, mit welcher Aktie?

Einst bei Aktionären unbeliebt

Als der damalige Siemens-Chef Joe Kaeser im Mai 2019 die Abtrennung des Energiegeschäfts ankündigte, feierten Siemens’ Aktionäre das als Coup. Bei GE hatte Larry Culp da den Topjob gerade übernommen und musste erst die schief liegende Bilanz aufräumen. Im November 2021 kündigte er für GE eine analoge Dreiteilung des Konzerns wie bei Siemens an, beginnend mit der profitablen Healthcare-Sparte.

Vor allem die Nachfrage nach fossilen Kraftwerken durchlief jahrzehntelang Zyklen. Ab 2017 brach die Nachfrage nach Gasturbinen weltweit ein, bei verheerenden Aussichten. Die Prognose damals: Das kriselnde Geschäft werde sich wegen des Siegeszugs der Erneuerbaren nie mehr auf frühere Niveaus erholen.

Die grossen Fragen beim jetzigen Aufschwung sind deshalb, wie lange er andauern wird – und ob nicht langfristig wieder Überkapazitäten zur nächsten Krise führen. Siemens-Energy-Aufsichtsratschef Kaeser prognostiziert gegenüber The Market: «Der Superzyklus kommt – und wird bleiben. Das kann zehn bis zwölf Jahre dauern, bis er durch die Gewinn- und Verlustrechnungen der Unternehmen durch ist. Gewinnen wird am Ende, wer es schafft, ein Optimum zwischen Kapazitätsaufbau und Marktanteilsmanagement zu finden.»

Grund genug, die zwei wichtigsten Protagonisten in der Stromerzeugung und -übertragung zu durchleuchten. Wie zuvor unter dem Dach ihrer Mütter verfolgen Siemens Energy und GE Vernova ähnliche Strategien als Anbieter für die gesamte Energiewertschöpfungskette.

90% des Geschäfts überlappen sich

Die Grösse ist vergleichbar, die Schwerpunkte sind unterschiedlich: GE Vernova ist – auch durch die 10 Mrd. € schwere Akquisition der Alstom-Energietechnik im Jahr 2015 – Nummer eins bei Gas- und Dampfturbinen, vor Siemens Energy. Bei Stromnetzen führen Siemens Energy und Hitachi Energy, einst eine ABB-Sparte, mit grossem Abstand vor GE Vernova.

Bei Onshore-Windanlagen liegt GE Vernova auf den Märkten ausserhalb Chinas auf Platz zwei. Siemens Energys Windtochter Siemens Gamesa ist der grösste Anbieter von Windanlagen auf hoher See mit über 50% Marktanteil vor Vestas. GE Vernova ist hier ein Newcomer und hat bisher erst 1 Gigawatt Leistung installiert, ein Bruchteil der von Siemens Gamesa errichteten 25 Gigawatt.

Die Analysten von JPMorgan beurteilen GE Vernova als die bessere Börsengeschichte, die sogar die mehr als doppelt so hohe Bewertung rechtfertigten solle. GE Vernova biete die «sauberere Story zum Thema Elektrifizierung». Der Konzern hebe sich durch seine «übergrosse Exposition» auf dem amerikanischen Gas- und Windturbinenmarkt, durch eine stärkere Bilanz sowie eine grössere installierte Basis an Gasturbinen mit lukrativem Servicegeschäft ab.

Auch Siemens Energy werde von der positiven Marktdynamik profitieren, habe jedoch eine finanziell schwächere Bilanz. Grosse Zweifel hat JPMorgan-Analyst Akash Gupta zudem nach wie vor, dass Siemens Gamesa nach jahrelangen milliardenschweren Verlusten im Onshore-Geschäft bis 2026 die Trendwende gelingt.

Durchwachsenes Wachstum und jahrelange Verluste

Von den verfügbaren Geschäftsdaten ist die Bevorzugung GE Vernovas kaum gedeckt: Die Historie, was Wachstum und Ertragskraft angeht, ist bei beiden Konzernen durchwachsen. Beide haben in den vergangenen Jahren Verlust geschrieben.

GE Vernova erreichte 2023 nach einem Einbruch gerade mal das Umsatzniveau von 2021. Im Vergleich dazu weist Siemens Energy trotz der Onshore-Turbulenzen den stabileren Wachstumspfad auf – und wird gemäss Analystenschätzungen auch bis 2025 stärker wachsen.

Siemens Energy zeigte zuletzt das bessere Momentum. Der Konzern hob im Mai den Jahresausblick kräftig an: Für das laufende Geschäftsjahr erwartet er nunmehr 10 bis 12% Umsatzwachstum statt wie bislang 3 bis 7%. Vor allem das Netzgeschäft legte bei zweistelligen operativen Margen kräftig zu und verzeichnete höhere Kundenzahlungen als erwartet.

Die Prognose für den freien Cashflow im Gesamtjahr verbesserte Siemens-Energy-Chef Christian Bruch deshalb auf bis zu 1 Mrd. € Zufluss. Zuvor war wegen milliardenschwerer Abflüsse im Windgeschäft ein negativer Free Cashflow von 1 Mrd. € erwartet worden.

GE Vernova schrieb im ersten Quartal 2024 unter dem Strich abermals einen Verlust von 106 Mio. $. Der bereinigte Ebitda (Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen) drehte nur leicht ins Plus. GE-Vernova-Chef Scott Strazik bekräftigte fürs Gesamtjahr seine Vorhersage eines Wachstums von 2 bis 5%. Der Free Cashflow soll 0,7 bis 1,1 Mrd. $ erreichen.

Gas- und Dampfturbinen: Der Marktführer verliert

GE Vernova hat mit Gasturbinen über 900 Gigawatt zwar weltweit eine mehr als doppelt so grosse Flotte installiert wie Siemens Energy, verlor zuletzt aber an Boden. Auf dem wichtigen US-Markt konnte der deutsche Rivale bei Orders für grosse Gasturbinen über 100 Megawatt sogar gleichziehen: Beide haben seit 2021 gut 40% der dort ausgeschriebenen Aufträge gewonnen, wie aus Daten des Branchendienstes McCoy hervorgeht.

Strazik räumte Mitte Juni in einer Investorenkonferenz ein, Aufträge für neue Turbinen zur Versorgung von Rechenzentren würden erst ab 2025 verstärkt erwartet und würden materiell erst 2028 zu Umsatz konvertieren. Auch global haben die traditionell führenden Amerikaner gemäss McCoy-Daten zuletzt stark eingebüsst und kamen seit 2021 auf nur noch 22% Auftragsanteil, hinter Siemens Energy (28%) und Mitsubishi Heavy Industries (37%). Bei der Marge liegt Siemens Energy vor GE Vernova.

Infrastruktur zur Stromübertragung: ungleicher Kampf

Aufträge für Übertragungsnetze und Netzanschlüssen auf hoher See boomen wie noch nie. Vernova-Chef Strazik will seine entsprechende Sparte zum wichtigsten Wachstumstreiber machen, startet aber aus einer Position der Schwäche. Siemens Energy ist nicht nur – mit Hitachi Energy – Weltmarktführer, sondern arbeitet profitabler. GE Vernovas Netzgeschäft kehrte erst 2023 mit einer Minimarge in die Gewinnzone zurück.

In der Branche heisst es, dass die Amerikaner bei der Akquise von Aufträgen aggressiv unterwegs seien. Beim «2-Gigawatt-Programm» für Netzanbindungen in der Nordsee des Stromnetzbetreibers TenneT errang GE Vernova fünf der vierzehn Projekte, weit oberhalb ihrer Marktanteile. Siemens Energy ist laut Chefaufseher Kaeser inzwischen «sehr selektiv bei der Hereinnahme von Risiken», dies sehe man auch bei Hitachi. «Der Boom wird nicht ewig andauern», so Kaeser. «Deshalb führen Aufsichtsrat und Vorstand derzeit sehr intensiv die Debatte, wie viel Produktionskapazität wir wirklich aufbauen sollten.»

Wind offshore: unkalkulierbare Risiken bei GE Vernova

Der Verkauf von Windrädern auf hoher See war für Siemens Energys Windtochter Siemens Gamesa viele Jahre ein gutes Geschäft – bis GE 2019 ihre erste selbst entwickelte Offshore-Turbine Haliade X mit 12 Megawatt in den Verkauf brachte. Mit Kampfkonditionen sammelte GE Vernova einen Bestand an verlustbringenden Offshore-Aufträgen über 4 Mrd. $ ein. Strazik verspricht, sie bis Ende 2025 weitgehend abzuarbeiten. Dies könnte jedoch Verluste in gleicher Höhe bedeuten, oder sogar noch mehr, glaubt Union-Fondsmanager Schröder.

Schon 2023 waren GE Vernovas Offshore-Verluste mit 1,1 Mrd. $ fast so hoch wie der Umsatz von 1,6 Mrd. $. Die Risiken sind kaum kalkulierbar, da es GE Vernova an Erfahrung im hoch komplexen Geschäft auf hoher See fehlt. Für Newcomer in der Offshore-Technologie war die Lernkurve bisher immer teuer.

Wohl auch deshalb nimmt GE Vernova seit Monaten keine neuen Offshore-Aufträge mehr an. Das kommt Siemens Gamesa zupass, die derzeit ebenfalls noch margenschwache Aufträge abwickelt. Mittelfristig werde Siemens Gamesa vom weitaus grössten Offshore-Auftragsbestand der Branche über mehr als 16 Mrd. € profitieren, glauben die JPMorgan-Analysten.

Wind onshore: negativer Wert für Siemens Gamesa

Siemens Gamesas Onshore-Geschäft lastet nach jahrelangen Enttäuschungen wie Blei auf den Siemens-Energy-Aktien. Wegen milliardenteurer Qualitätsmängel bei den aktuellen Onshore-Plattformen messen Investoren dem Geschäft einen negativen Wert bei. Dennoch beschloss Siemens Energy kürzlich, daran festzuhalten – wenn auch in verkleinerter Form. Ab Oktober sollen die aktuellen Plattformen nach gut einem Jahr Verkaufsstopp wieder angeboten werden. Ein neuer Chef – der vierte in fünf Jahren – verspricht abermals, das Geschäft bis 2025/26 zu sanieren.

«Aus Onshore auszusteigen, wäre die teurere Option gewesen und hätte uns guter Marktchancen beraubt», sagt Siemens-Energy-Chef Bruch. Sein Aufsichtsratschef Kaeser hebt verringerte Risiken, auch in den neuen Serviceverträgen, hervor: «Das neue Siemens-Gamesa-Management hat seine Risikobereitschaft geändert. Etwa 97% Verfügbarkeit für zwanzig Jahre oder mehr zu akzeptieren, das macht man dort nicht mehr.»

Auch GE Vernova hatte im Onshore-Geschäft mit Verlusten zu kämpfen, konnte aber im zweiten Quartal 2024 das dritte Quartal in Folge mit Gewinn abschliessen. Der grösste Vorteil des Unternehmens ist sein Heimatmarkt, der höhere Margen bringt als andere und weniger von der Konkurrenz chinesischer Windturbinenhersteller bedroht ist.

Bilanzqualität: dünne Kapitaldecke bei beiden Rivalen

Spätestens seit Siemens Energy um staatliche Rückgarantien bitten musste, sorgen sich Anleger um die Bilanzqualität. Bei neuen Rückschlägen im Windgeschäft könnten frühere Diskussionen über eine Kapitalerhöhung schnell wieder aufleben – und den Aktienkurs drücken. Die Ratingagentur Standard & Poor’s senkte die Bonitätsnote im Juli 2023 um eine Stufe auf BBB–, die schwächste Note im für das Geschäft wichtigen Investment-Grade-Bereich. Seit November 2023 hält sie den Ausblick unverändert auf «negativ».

Analysten sehen die Bilanzqualität von GE Vernova einhellig als besser an. Begründet wird dies mit der Nettoliquidität in Höhe von 4 Mrd. $ des US-Konzerns, gegenüber 1,9 Mrd. € bei Siemens Energy. Allerdings sind Grossanlagenbauer von Natur aus «Cash-positiv», da sie hohe Anzahlungen erhalten.

Standard & Poor’s stuft GE Vernova mit der gleichen schwachen Note BBB– ein. Grund sei die «unterdurchschnittliche Profitabilität im Vergleich zu anderen Wettbewerbern». Diese Kapitaldecke könnte schnell sehr dünn werden, wenn sich Risiken im Auftragsbuch materialisieren. Auch Siemens Energy stand beim Listing noch besser da, hatte sogar ein BBB.

Einen klaren Vorteil hat GE Vernova: Die Ex-Mutter hält keine Aktien mehr. Vernova-Chairman Steve Angel, zugleich Chairman und früher CEO von Linde, gilt als komplett unabhängig. Siemens Energy dagegen bleibt verstrickt. Siemens hatte beim Spin-off 35% zurückbehalten und konnte diesen Anteil seither nur halbieren. Hierzu schiebt Siemens immer wieder Energy-Aktien in den hauseigenen Pensionsfonds, der sie über die Börse verkauft – was auf den Siemens-Energy-Kurs drückt.

Hohe Bewertung

GE Vernova wird mit dem 20-Fachen des für die nächsten zwölf Monate geschätzten Ebitda bewertet, fast dreimal so hoch wie Siemens Energy (6,8) und doppelt so hoch wie das langjährige Mittel des Vorgängerkonzerns GE. Das liegt auch daran, dass der US-Markt stark momentumgetrieben ist. Vom Run auf US-Elektrifizierungswerte profitieren auch viele andere Aktien wie etwa Eaton.

Blickt man auf das vorwärtsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis des Gewinns für die kommenden zwölf Monate, ist auch Siemens Energy teuer: Mit 32 (GE Vernova 42) gehört sie zu den am höchsten bewerteten Dax-Konzernen. Die Deutsche Bank analysierte kürzlich, dass die gesamte europäische Kapitalgüterbranche so hoch bewertet ist wie seit 2000 nicht mehr.

Fazit: GE Vernova scheint in jeder Hinsicht überbewertet. Die möglicherweise umfangreichen Risiken sind nicht in den Aktien eingepreist. Anleger sollten Gewinne realisieren. Siemens Energy ist primär eine Wette darauf, ob der Wind-Turnaround funktioniert. In der kurzen Unternehmenshistorie zogen Rückschläge stets extreme Kursstürze nach sich. Der Konzern bleibt eine Aktie für starke Nerven. Bei grösseren Rücksetzern könnte ein Einstieg lohnen.

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