Sonntag, September 29

Das Dax-Schwergewicht irritiert erneut mit seiner Kapitalmarktkommunikation. Kurz zuvor hat Finanzchef Ralf Thomas, der ultimative Insider, Aktien für 9 Mio. € verkauft. Anleger sollten es Thomas gleichtun.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser

Am späteren Freitagnachmittag liess Siemens – nahezu unbemerkt – eine kleine Bombe platzen. Um 16 Uhr meldete der Dax-Konzern, dass sein Finanzchef Ralf Thomas am Vortag – und damit vier Tage vor Ende des Geschäftsjahres – Siemens-Aktien für 9 Mio. € verkauft hat. Nahezu zeitgleich ging ein Interview der «Börsen-Zeitung» online, in dem ebenjener Ralf Thomas bekanntgab, dass Siemens seine Wachstumsprognose für das Geschäftsjahr wohl verfehlen wird.

Mehr Insider als ein Finanzchef kann man kaum sein. Ein Insider verkauft also in grossem Stil Aktien und gibt einen Tag später eine – in der Tendenz negative – Information über ein einzelnes Pressemedium heraus? Man darf davon ausgehen, dass Siemens das alles rechtlich abgesichert hat. Dennoch hat das Ganze einen üblen Geschmack, um noch das Wenigste zu sagen.

Im August bei Vorlage der Neunmonatszahlen hatte Thomas ein Wachstum des Konzernumsatzes am unteren Ende der ursprünglich für das Geschäftsjahr vorhergesagten Spanne von 4 bis 8% prognostiziert. Nun sagte er in der «Börsen-Zeitung»: Der Trend gehe «nicht in Richtung 4%, sondern in Richtung 3%».

Schwache Kernsparte Digital Industries

Grund ist, dass die wichtigste Kernsparte «Digital Industries» (DI) – wieder einmal! – noch stärker abschmiert als gedacht. Dieser Trend zieht sich schon durch das ganze Jahr. Im Mai hatte Siemens die Erwartungen für den Umsatzrückgang der einstigen Vorzeigesparte zuletzt um vier Prozentpunkte auf minus 4% bis minus 8% gestutzt. Nun erklärte Thomas, dass DI «eher am unteren Ende, vielleicht sogar einen Tick unter den minus 8% landen wird».

Unschöne Nachrichten, auch wenn Thomas versicherte, die Ertragslage des Konzerns sei unverändert. «Die Ertragskraft liegt klar auf dem Niveau, das wir angekündigt haben». Der Free Cashflow in Bezug auf den Umsatz werde «wohl erneut einen zweistelligen Prozentsatz erreichen» und Siemens auch «die Ausschüttung voraussichtlich erhöhen». Da auch dieses Geschäftsjahr wieder Buchgewinne durch Beteiligungsverkäufe in Siemens› Ergebnisse einfliessen, haben Thomas‘ Worte in Bezug auf die operative Leistungsfähigkeit begrenzte Aussagekraft.

Thomas dürfte sich zugutehalten, dass der Kurs nach der Veröffentlichung seines Interviews am Freitagnachmittag nur wenig abrutschte. Aus Marktsicht hatte der CFO gutes Timing: Wie andere Industriewerte waren die Siemens-Papiere die vergangenen Tage im Höhenflug durch das kürzlich verkündete Stimulusprogramm in China, wo Siemens‘ DI-Sparte und die Medizintechniktochter Siemens Healthineers stark exponiert sind. Die Siemens-Titel wurden von den Healthineers-Aktien zusätzlich nach oben gezogen. Das 75%-Paket an Healthineers macht fast ein Drittel des Börsenwerts von Siemens aus.

Die Fabrikautomationssparte – obwohl einer der grössten Player weltweit – schwächelt nun schon seit einem Jahr massiv. Besserung hat Siemens immer wieder versprochen, aber diese Versprechen immer wieder gebrochen.

Schon im Juli berichteten mir unternehmensinterne Quellen, dass die Aufträge im Automatisierungsgeschäft weiterhin einbrechen und die Jahresprognose des Konzerns kaum zu halten sei. Bei der Vorlage der Quartalszahlen Anfang August kam heraus: Ein unerwarteter Sprung des Softwareumsatzes um 82% auf 2,1 Mrd. € rettete den Umsatz der DI-Sparte, die sich aus Automation und Software zusammensetzt, und damit die des gesamten Konzerns. So wurde zunächst auch die Jahresprognose aufrechterhalten.

Siemens begründete den Schub im Softwaregeschäft Anfang August mit dem Gewinn «mehrerer grösserer Lizenzverträge», der sich so nicht wiederholen lasse. Das irritierte, forciert der Konzern bei seiner Industriesoftware doch seit Jahren die Umstellung vom Lizenzverkauf auf Software as a Service (SaaS) und kommt hier nach eigenen Angaben auch gut voran.

Siemens-Insidern zufolge sind grossvolumige Lizenzverkäufe vor allem im Geschäft mit EDA-Software (Electronic Design Automation) üblich, wenn Chiphersteller neue Fabriken bauen und dafür Designsoftwarepakete bestellen. Hier lassen sich Grossaufträge auch relativ leicht um ein paar Wochen vorziehen, wenn man dafür Zugeständnisse macht, etwa bei der Marge. Finanzchef Thomas sagte im August, dass im vierten Quartal der Beitrag des Softwaregeschäfts zu Umsatz und Marge unter dem des Vorjahresquartals liegen werde.

Siemens vermeidet öfter die regulären Termine

Es ist nicht das erste Mal, dass Siemens bei der regulären Quartalsberichterstattung den Schein wahrt und später – bei informellen Anlässen – zurückrudert. Am 19. März dieses Jahres nahm Thomas den Ausblick für Digital Industries auf einer via Audio im Internet übertragenen Investorenkonferenz von Bank of America in London ein Stück weit zurück. Bei der Bekanntgabe der Quartalszahlen knapp sechs Wochen vorher hatte der Konzern den Ausblick für DI noch bestätigt.

An jenem Märztag verflüchtigten sich mehr als 8 Mrd. € an Börsenwert. Nur wegen Thomas› Worten in der Konferenz, etwas Schriftliches gab es von Siemens dazu nicht.

Inzwischen deuten verfügbare Zahlen klar darauf hin, dass Siemens in der wichtigen Fabrikautomation Marktanteile verliert. Über die neun Monate von Oktober 2023 bis Juni 2024 fiel Siemens‘ Automatisierungsumsatz um 20% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Ein derartiger Einbruch findet sich bei kaum einem Wettbewerber, wobei Daten allerdings nie komplett vergleichbar sind.

Rockwell Automation, der grösste Anbieter von Industrieautomatisierung in den USA, erwartet für das gesamte Jahr 2024 ein Minus von 10%. Die Schweizer ABB nennt im ersten Halbjahr für die Sparte Robotik und Industrieautomatisierung 7% Umsatzminus, für Motion (Motoren) minus 3% und für Prozessautomation sogar 12% Umsatzplus.

Die französische Schneider Electric verbuchte in der Sparte Industrieautomation in den ersten sechs Monaten des Jahres 5,1% Umsatzminus. An Marktwachstumszahlen für diskrete Automatisierung nennt Schneider minus 15% für Westeuropa, minus 5% in Nordamerika, minus 2% in Asien-Pazifik einschliesslich China und plus 10% für den Rest der Welt. Schneider und ABB schneiden an der Börse weiterhin besser als Siemens ab.

Die Underperformance der jahrelang so wachstums- und gewinnstarken Siemens-Fabrikautomation ist also bezifferbar. Dennoch behauptet Siemens standhaft, der Einbruch sei nur zyklisch und nicht strukturell. Anfang August verlängerte Siemens zudem den im Mai 2025 auslaufenden Vertrag des zuständigen Divisionsleiters Cedrik Neike vorzeitig, um die maximal mögliche Dauer von fünf Jahren.

Mit Neikes geschäftlichen Resultaten lässt sich diese Entscheidung des Aufsichtsrats kaum begründen. Diese und andere Personalentscheidungen der jüngeren Vergangenheit verstärken meinen Eindruck, dass sich ein gewisser Drang zur Mittelmässigkeit bei Siemens allmählich wie ein Virus auszubreiten beginnt.

Dass die Kapitalmarktkommunikation von Siemens eines Dax-Schwergewichts nicht würdig ist, zeigte sich jüngst auch im neuen Ranking des «manager magazin» zu den besten Börsenkommunikatoren. Von einem mässigen Platz 26 unter den 39 untersuchten Dax-Titeln rutschte Siemens weiter auf Platz 37 ab. Nur Qiagen und Zalando waren noch schlechter.

Mein Fazit: Es gibt, auch bei Industriewerten, jede Menge besserer Aktien als Siemens.

Und: Es Insidern gleichzutun, hat Anlegern noch selten geschadet.

Freundlich grüsst im Namen von Mrs. Market

Angela Maier

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