CEO Roland Busch startet mithilfe von McKinsey-Beratern einen neuen Versuch, als Tech Company gesehen zu werden: ein Unternehmensprogramm namens «ONE Tech Company». Wird die Börse dieses Mal anbeissen?
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser,
wie bei den meisten Grosskonzernen stehen bei Siemens alle paar Jahre wieder Umbau- und Strategieprogramme auf der Tagesordnung. Jedenfalls war das so, bis Roland Busch Anfang 2021 CEO wurde. Busch befand, Siemens sei nun genug umgebaut und ein «fokussiertes Technologieunternehmen». Was immer fokussiert bedeuten soll, bei einer Produktpalette von A wie Antriebe bis Z wie Züge.
Wenigstens Siemens‘ Arbeitnehmervertreter waren voll des Lobes über Busch wie über lange keinen Siemens-Chef mehr vor ihm. Der Applaus der Börse hält sich allerdings in Grenzen: Trotz eines Kursanstiegs der vergangenen Wochen bleibt Siemens‘ Bewertung weit hinter der von Schneider Electric (Frankreich) und ABB (Schweiz) zurück.
Dieser Tage startete Busch also einen zweiten Anlauf zur angestrebten Tech-Bewertung. Ende Oktober vereinbarte der CEO für 10 Mrd. $ den Kauf der US-Softwarefirma Altair mit gut 600 Mio. $ Jahresumsatz. Vergangenen Donnerstag verkündete er dann doch mal ein Programm, wenn auch ein «Wachstumsprogramm» und kein Sparprogramm, wie er mehrfach betonte.
«ONE Tech Company» heisst Buschs Programm, damit werde Siemens «die nächste Stufe der Performance und Wertsteigerung» erreichen. CFO Ralf Thomas pries es gar als «grösste einzelne Transformation eines Industrieunternehmens unserer Grösse in den Raum der Digitalisierung», die Siemens zur «Tech Company» machen werde.
Es fragt sich nur, wie glaubwürdig Thomas als Testimonial hier noch ist. Trotz des angeblich so wertsteigernden Programms verkaufte er Ende September – wenige Tage vor Geschäftsjahresschluss – für 9 Mio. € Siemens-Aktien. Das Programm war Siemens-Kreisen zufolge zu dem Zeitpunkt längst in Vorbereitung.
Blumige Versprechen statt konkreter Ziele
Was Busch und Thomas damit an Zielen verbinden, erschöpft sich bisher in blumigen Versprechungen: «stärkerer Kundenfokus, schnellere Innovationen und ein stärkeres profitableres Wachstum». Woran sie den Erfolg von «ONE Tech Company» messen wollen, liessen sie im Dunklen; es gibt weder finanzielle Ziele noch Zeitplan.
Busch erklärte dazu nur: «Wir arbeiten gemeinsam agil an kurz- und mittelfristigen Zielen.» Man richte sich an Input-Parametern aus, plane zum Beispiel die Markteinführung günstigerer Antriebe und Steuerungen in China mit Zeitplan und Erfolgsmessung. Fortschritte werde er Ende 2025 auf einem Kapitalmarkttag mitteilen.
Berater von McKinsey in grossem Stil engagiert
Nach Informationen von The Market sind in grösserem Stil Berater von McKinsey eingeschaltet. Siemens kommentiert dies nicht, die Präsentationsfolie voller Modebegriffe sieht indes nach tatkräftiger Mitwirkung von Beratern aus:
Doch was bedeutet «ONE Tech Company» konkret?
Busch nennt drei «Tracks», Wege oder Stossrichtungen, seines Programms: «Foundational Tracks», «Investment Tracks» und «Productivity Tracks».
Das Konkreteste, was er vorstellte, ist eine neue Sparte «Foundational Technologies» innerhalb der zentralen Forschung & Entwicklung. «Foundational Technologies» soll die Entwicklung von Basis-Software bündeln, die bisher innerhalb der Sparten Automatisierung, Smart Infrastructure und Mobility (Züge) womöglich doppelt stattfindet. Sie wird von Dirk Didascalou geleitet, der vor drei Jahren von Amazon Web Services zu Siemens stiess und bisher Chief Technology Officer der Digital-Industries-Sparte war. Statt an den für Digital Industries zuständigen Vorstand Cedrik Neike berichtet Didascalou nun an den Anfang Oktober frisch bestellten Technologievorstand Peter Körte.
Fragwürdige Zentralisierung des Vertriebs
Unter dem Oberbegriff «Foundational Sales» wird nach Informationen von The Market aus Siemens-Kreisen zudem an einer einheitlichen Vertriebsorganisation für den gesamten Konzern gearbeitet. Darin sollen offenbar zumindest Teile des Vertriebs der drei Siemens-Säulen Digital Industries, Smart Infrastructure und Mobility zusammengefasst werden. Diese bedienen so unterschiedliche Kunden wie mittelständische Maschinenbauer und Autokonzerne, Stromnetzbetreiber und Krankenhäuser sowie Bahnunternehmen.
Auch wenn heutzutage vieles mit Software zu tun hat: Wie durch solch eine Zentralisierung mehr Kundennähe erreicht werden soll, ist zu bezweifeln. «Busch glaubt anscheinend, unsere Kunden seien schon heute ganz andere», heisst es im Konzern.
Bleibeprämien für Altair-Schlüsselspieler
Die teure Altair-Akquisition subsummiert Busch unter den «Investment Tracks» seines Programms. Siemens hat extrem hohe Kaufpreismultiplikatoren für den Spezialisten für Simulationssoftware gezahlt. Ausserdem geben Integrationsrisiken zur Sorge Anlass: Altair-Gründer und -CEO James Scapa hatte das Unternehmen in den vergangenen Jahren mit Dutzenden Zukäufen von Start-ups aufgepumpt, deren Gründer bis dato an Bord sind, nun aber gemeinsam mit Scapa Kasse machen können. Allein Scapa wird knapp 2 Mrd. $ absahnen.
Danach gefragt, sagte Busch: Er gehe davon aus, dass die Schlüsselspieler dem Unternehmen verbunden blieben. Siemens denke zudem über Bleibeprämien für die wichtigsten Altair-Beschäftigten nach.
Altair könnte also sogar noch etwas teurer werden für Siemens. Auch im «Productivity Track» wird zunächst vor allem mehr Geld ausgegeben. Gegenüber Analysten erklärte Siemens, über die nächsten zwei Jahre jährlich 500 Mio. € zusätzlich in «Innovation» zu investieren. Die Hälfte dieser Extrakosten würden veranschlagt, um die verwendete SAP-ERP-Software (Enterprise Resource Planning) von den Siemens-eigenen Servern in die Cloud zu transferieren. Derlei Verlagerungen erfordern in der Regel, vorher die internen Prozesse zu verändern; dies als «Innovationsbudget» zu deklarieren, wirkt allerdings auf mich ziemlich kreativ.
Konzernwachstum ist und bleibt schwach
Buschs Problem: Was an realen Zahlen und Fakten vorliegt, weist Siemens momentan weder als Tech- noch als Wachstumsfirma aus. Der Konzernumsatz stieg vergangenes Geschäftsjahr um 3%. Für das laufende wird nur ein Umsatzplus von 3 bis 7% prognostiziert, obwohl Siemens als Nummer zwei nach Schneider Electric als Ausrüster von Rechenzentren von deren KI-getriebenem Boom profitiert.
Zu dieser Wachstumsrate wird allein die Medizintechnik-Tochter Tochter Siemens Healthineers mit 5 bis 6% avisiertem Plus knapp zwei Prozentpunkte beitragen. Das heisst, dass der Rest des Konzerns insgesamt möglicherweise kaum wachsen wird.
Grund für die Flaute ist, dass ausgerechnet die Digitalsparte Digital Industries zur Automatisierung und Digitalisierung von Fabriken seit über einem Jahr und auch weiterhin massiv schwächelt; dort fallen nun bis zu 5000 der 90‘000 Jobs weg, der erste grössere Stellenabbau der Ära Busch.
Und was Tech angeht: Die Digitalumsätze wuchsen in den vergangenen Jahren vor allem dank steigender Umsätze mit Industriesoftware zwar kräftig auf 9 Mrd. €. Der Rest des Konzernumsatzes von zuletzt 75,9 Mrd. € bleibt aber Hardware-Umsatz. Die Ergebnis-Marge im industriellen Geschäft stagnierte vergangenes Geschäftsjahr bei 15,5% und damit weit unter den bei Digitalkonzernen üblichen Margen.
Immerhin wurde unter dem Strich ein Rekordgewinn nach Steuern von 9 Mrd. € erzielt. Der Rekord allerdings kam primär dadurch zustande, dass die Beteiligung Siemens Energy durch ihre Dekonsolidierung im ersten Geschäftsquartal über eine halbe Mrd. € Buchgewinn beisteuerte. Im Vorjahr war der operativ ähnlich hohe Siemens-Gewinn noch durch teilkonsolidierte Milliardenverluste von Siemens Energy gemindert worden.
Der Siemens-Aktienkurs sprang während der Jahrespressekonferenz vergangenen Donnerstag zeitweise um 9%, bröckelte seither aber wieder deutlich ab. Am Montag schloss er mit 184 € und damit 1% unter seinem Stand vor fünf Tagen.
Mein Fazit, passend zum Sujet in McKinsey-Berater-Denglisch: Siemens bleibt auf dem Marketing Track. Von einem Umbau zur Tech Company kann man realistischerweise weiterhin nicht sprechen.
Freundlich grüsst im Namen von Mrs. Market
Angela Maier