Mittwoch, Oktober 9

Lieber einen Lateiner als Erfahrung? Der Findungsprozess verunsichert Bundesbern.

Die SVP ist mit ihren fast 28 Prozent Wähleranteil die stärkste Partei im Land. Im Bundesrat erhebt sie unbestrittenen Anspruch auf zwei Sitze. In der Bundesverwaltung und vor allem an deren Spitze, der Bundeskanzlei, bleibt die Volkspartei wohl untervertreten.

Bei der Nachfolge des im Frühjahr plötzlich verstorbenen Vizekanzlers und Bundesratssprechers André Simonazzi verdichten sich die Anzeichen, dass es der inoffizielle SVP-Kandidat nicht in die engere Auswahl geschafft hat. Urs Wiedmer ist zwar parteilos, seit 2016 aber Kommunikationschef des SVP-Bundesrats Guy Parmelin, zuerst im Verteidigungs-, danach im Wirtschaftsdepartement. Lange genug, um zumindest als SVP-nahe zu gelten. Zu SVP-nahe?

Dem Vernehmen nach soll Wiedmer erst gar nicht zu einem Bewerbungsgespräch vorgeladen worden sein. Offiziell darüber sprechen will und darf niemand von den Involvierten. Ursula Eggenberger, die Simonazzis Rolle interimistisch übernommen hat, sagte am vergangenen Mittwoch, dass Bundeskanzler Viktor Rossi der Regierung «im Spätsommer» einen Vorschlag unterbreiten werde. Derzeit sieht alles danach aus, dass es ein Lateiner werden soll, zumal mit Rachel Salzmann auch die zweite Vizekanzlerstelle von einer Deutschschweizerin besetzt ist.

Es kursiert der Name von Pierre Gobet, einem langjährigen RTS-Journalisten (unter anderem in Zürich, in Bundesbern sowie in den USA). Heute ist er Kommunikationschef der ständigen Mission der Schweiz bei der Uno in New York unter Pascale Baeriswyl. Auch Andrea Arcidiacono wird als Anwärter genannt. Der Tessiner war früher Mediensprecher bei den Bundesräten Ruth Dreifuss sowie Pascal Couchepin, war seither für verschiedene Departemente tätig und ist heute Berater. Sowohl Gobet als auch Arcidiacono gelten als «Externe».

In Bundesbern scheint man der ganzen Übung deshalb nicht ganz zu trauen. Hinter vorgehaltener Hand häufen sich Kritik und Erstaunen über Rossis Vorgehen. Die Spitze der Bundeskanzlei wirke nach Simonazzis Tod und dem Rücktritt von Kanzler Walter Thurnherr überfordert. Dies habe sich unter anderem am Ausscheren von Beat Jans gezeigt.

Der zustimmende Gastbeitrag zum noch nicht fertig verhandelten EU-Vertrag in der NZZ überrumpelte das vor sich hin dösende Bundesbern. Ein kommunikativer Alleingang in einem solch sensiblen Dossier wäre unter Thurnherr/Simonazzi nicht vorstellbar gewesen, sagen auch EU- und Jans-freundliche Beobachter.

Angesichts des verunsichert wirkenden Bundesrats wäre ein Entscheid, auf die Erfahrung von Urs Wiedmer zu verzichten, entsprechend risikobehaftet. Wiedmer kenne bereits die Abläufe und die wichtigen Entscheidungsträger in den Departementen. Zudem sei er bilingue. Der 60-Jährige hätte helfen können, die Bundeskanzlei in der anstehenden Übergangsphase zu stabilisieren, sagen Insider.

Über die lateinischen Kandidaten ist zwar kaum Negatives zu hören. Aber die Aufgaben der Bundesratssprecher gehen über deren bisherige Erfahrungen hinaus. Die Rolle des Sprechers besteht nicht nur darin, jeweils mittwochs nach den Bundesratssitzungen die Pressekonferenzen einzuleiten. Während der Woche ist die Bundeskanzlei in die Ämterkonsultationen involviert. Simonazzi wird nachgesagt, dass er praktisch jedes Dossier kannte und im Rahmen seines Amtes auch Politik machte.

Allein die Beschleunigung oder das Bremsen von Entscheidfindungsprozessen kann viel bewirken in Bundesbern. Nach den gescheiterten Kandidaturen für die Nachfolge von Walter Thurnherr wird sich die SVP wohl mit ihren beiden Bundesräten begnügen müssen.

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