Freitag, September 20

Der künftige Vizekanzler und Bundesratssprecher Andrea Arcidiacono hat in seiner Karriere schon für viele und vieles gesprochen.

Andrea Arcidiacono will nicht zu weit in die Zukunft blicken. An der letzten Sitzung vor Weihnachten wolle er dem Bundesrat Panettone servieren, sagte der neue Bundesratssprecher am Freitag bei seiner Vorstellung. Mit der Redewendung um die Backware will man im italienischen Sprachraum bedeuten, dass man zuerst mal beginnen und die Probezeit unversehrt überstehen will. Wenn Arcidiacono also vom kollegialen Panettone-Essen spracht, wollte er den Medien damit sagen: Wenn ich an Weihnachten immer noch im neuen Amt bin, werde ich dann mehr sagen können.

Bundeskanzlei in der Kritik

Arcidiacono ist 58 Jahre alt, in Bellinzona aufgewachsen, hat in St. Gallen die HSG absolviert und war dann meistens in der Deutschschweiz. Im Tessin hält man ihn deshalb für einen Expat, in Bundesbern ist er der willkommene Tessiner. Seine Ernennung deutet darauf hin, dass man in erster Linie auf eine ausgewogene Vertretung der Sprachen und Regionen innerhalb der Stabsspitze geachtet haben dürfte. Mit Pierre Gobet und Urs Wiedmer sind zwei durchaus fähige Kandidaten ausgeschieden. Arcidiacono wird am 1. Oktober sein neues Amt antreten. Die Anteile seiner Inhaber-geführten PR-Agentur habe er bereits verkauft, versicherte er an der Medienkonferenz.

Dem Bundesratsentscheid vom Freitag ging ein mehrmonatiges Verfahren voraus. Dem Vernehmen nach soll das Assessment über gut ein halbes Dutzend Stufen gegangen sein. Die Zusammensetzung der Findungskommission, die Bundeskanzler Viktor Rossi eingesetzt hatte, sorgte – wie immer, wenn in Bundesbern wichtige Entscheide an Kommission delegiert werden – für Kritik. Das lange andauernde Verfahren ebenfalls. Doch Ursula Eggenberger, die interimistisch als Bundesratssprecherin amtet, hielt Wort. Noch im Spätsommer wolle man den neuen Sprecher präsentieren, wiederholte sie in den letzten Wochen mehrfach. Nun lächelt Arcidiacono in die Kameras, kurz vor Beginn des kalendarischen Herbst.

Die Zurückhaltung des neuen Bundesratssprechers ist mehr als berechtigt. Möglich, dass es in der kommenden Wintersession schon zu Ersatzwahlen kommt im Bundesrat. Ganz sicher ist: Die Stimmung in der Regierung wird angesichts der anstehenden Sparübungen ohnehin angespannt bleiben. Arcidiacono wird nicht viel Zeit haben, um die Dynamiken im Bundesrat zu verstehen. Wird er die eingestürzten Brücken zwischen Karin Keller-Sutter, der Finanzministerin, und VBS-Chefin Viola Amherd wieder aufbauen können? Wie will er verhindern, dass Justizminister Beat Jans ganz isoliert wird? Und welche Rolle spielt dabei eigentlich die Bundeskanzlei?

Die oberste Stabsstelle des Bundes befindet sich in einer heiklen Situation. Innert wenigen Monaten musste sie neu besetzt werden. Während der Wechsel von Kanzler Walter Thurnherr zu Viktor Rossi Anfang Jahr ordentlich verlief, ist die Ernennung von Arcidiacono bekanntlich auf ausserordentliche Umstände zurückzuführen. Im Mai verstarb Bundesratssprecher André Simonazzi völlig unerwartet. Rachel Salzmann, die zweite und ebenfalls neue Vizekanzlerin, musste ihr Amt ein paar Wochen früher antreten. Zu den Wechseln und Vakanzen kommen die finanzpolitisch sehr angespannte Grosswetterlage und heikle Altlasten.

Bis dato gibt es zwar keine Anzeichen, dass die Kanzlei in der Sache um das manipulierte Unterschriftensammeln von Volksinitiativen ihrer Kontrollrolle nicht gerecht wurde. Bei der Kommunikation sind die Versäumnisse jedoch nicht von der Hand zu weisen. Warum hat die Kanzlei, damals noch unter der Leitung von Thurnherr, Parlament und die Öffentlichkeit nicht informiert, dass es Verdachtsfälle von Unterschriftenfälschungen gibt und sie deshalb Strafanzeige eingereicht hatte? Auf diese Frage im Parlament, räumte Rossi jüngst ein, dass die Nicht-Kommunikation rückblickend ein Fehler war. Für die Kanzlei ist es eher neu, derart im medialen Fokus zu stehen.

Parteilos

In dieser Drucksituation könnte die Ernennung von Arcidiacono aber auch beruhigend wirken. Der Tessiner hat in seiner Karriere schon für viele und vieles gesprochen. Sowohl für SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss, die gegen die Erhöhung des Rentenalters kämpfte, als auch für Pascal Couchepin, der das Rentenalter erhöhen wollte. Nach seiner Zeit beim FDP-Bundesrat schrieb er als Journalist für «swissinfo» die Abschiedsbilanz von Couchepin gleich selbst. Später war er Sprecher von Bundesverwaltungsgericht, vom Schweizer Pavillon an der Expo 2015 in Mailand, von Curafutura, dem Verband der Krankenversicherer, dann wieder für das Bundesamt für Gesundheit.

Er schrieb er ein Buch über die Rolle von Gesundheitsminister Alain Berset in den ersten beiden Corona-Wellen. Das Hin und Her zwischen Bund und Kantonen sah er kritisch. Er hoffe, dass es nach der Pandemie zur grossen Versöhnung kommt, sagte er in einem Interview. Auch er wird in seinem neuen Amt viel verzeihen müssen. Arcidiacono selbst ist integrativ, anpassungsfähig, parteilos. Seine Partei werde der Bundesrat sein, sagte er am Freitag. Ganz frei nach dem Sprichwort: Wes Panettone ich ess, des Lied ich sing.

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