Samstag, Februar 1

Mit «Le Deuxième Sexe» prägt die französische Existenzialistin das Miteinander der Geschlechter bis heute. Doch in erster Linie war sie weder Feministin noch Freiheitskämpferin: Sie war eine Wandelbare.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, ernannte sich die französische Existenzialistin Simone de Beauvoir kurzerhand selbst zum General. Sie markierte die Verteidigungslinien und führte die Armeen zum Sieg. Sechs Jahre alt war sie damals, der Garten des grosselterlichen Anwesens wurde zu ihrem Reich, die kleine Schwester krönte sie zum russischen Zaren, die Bäume eines nahen Wäldchens mussten als Deutsche herhalten.

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Diese Anekdote erzählt ein Grossneffe de Beauvoirs in einer kurzen Arte-Dokumentation, während die Kamera über das grüne Limousin gleitet. Es ist die Landschaft von de Beauvoirs Kindheitssommern. Die Kulisse von Naturverbundenheit und Unbeschwertheit einerseits, von katholischem und gesellschaftlichem Zwang, später auch von Zweifel, Zerfall und Rebellion andererseits.

Diesen ersten Krieg, den die 6-Jährige im Garten des Familienanwesens ausfocht, gewannen schliesslich andere Generäle an ihrer statt. Doch es sollten diesem einen noch viele weitere Kämpfe folgen, während das Wäldchen hinter dem Garten zum Wald wurde – und das Mädchen zu einer Ikone.

«Man wird es»

Ein Satz hat aus Simone de Beauvoir eine Art popkultureller Patentante der Frauen- und in jüngerer Zeit auch der Transgenderbewegung gemacht: «On ne naît pas femme, on le devient.» Auf Deutsch: «Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.» Der Satz ist die Essenz ihres 1949 in zwei Teilen erschienenen Werks «Le Deuxième Sexe».

Auf Deutsch wurde der Titel fälschlicherweise mit «Das andere Geschlecht» übersetzt, was nicht de Beauvoirs Aussage entspricht, dass die Frau eben gerade nicht nur ein anderes, sondern klar das zweite, das in den Augen der männlich geprägten Gesellschaft inferiore Geschlecht sei. Und dass dieser Zustand zu korrigieren sei.

Sie erklärt ihre These in einer Fernsehsendung so: «Es ist kein biologisches oder psychologisches Schicksal, das eine Frau definiert. Es ist einerseits die allgemeine Zivilisationsgeschichte, andererseits die Geschichte jeder einzelnen Frau, besonders ihre Kindheit, die sie zur Frau macht. Die aus ihr etwas macht, das nicht naturgegeben ist und das man gemeinhin ‹Weiblichkeit› nennt.»

Der Pakt

Gleich zu Beginn ihres Buches stellt de Beauvoir allerdings klar, dass es sich hier gar nicht um ein feministisches Werk handeln solle. Über den Feminismus sei viel gestritten worden, dabei habe sich das Thema fast schon erledigt. Im Jahr 1944, fünf Jahre vor der Buchpublikation, war in Frankreich das Frauenstimm- und -wahlrecht eingeführt worden. «N’en parlons plus», schreibt de Beauvoir über den Feminismus – in einem seiner bis heute prägendsten Werke.

Dass eine Ikone des Feminismus sich und ihre Thesen während vieler Jahre, ja Jahrzehnte nicht als feministisch verstanden wissen wollte, ist das eine. Dass diese Ikone des Feminismus unter heutigen Massstäben ein Fall für #MeToo hätte werden können, etwas ganz anderes.

Simone de Beauvoir und ihr Existenzialismus sind kaum ohne Jean-Paul Sartre zu denken – und umgekehrt. Um die beiden wiederum als Paar fassen zu können, muss man um ihren Pakt wissen. Sie war Anfang, er Mitte zwanzig, als die beiden sich 1929 vor dem Carrousel du Louvre versprachen, einander «notwendige Lebenspartner» zu sein, ohne jemals zu heiraten, eine Wohnung zu teilen oder sogar Kinder zu bekommen. Stattdessen erlaubten sie sich gegenseitige Liebesaffären und Beziehungen mit Dritten. Während diesen Bindungen sexuell keine Grenzen gesetzt waren, hatten sie sich von ihrer Bedeutung her in eine klare Hierarchie einzuordnen: Über allem stand immer die Beziehung zwischen Sartre und de Beauvoir.

In der Folge hatte sie, mittlerweile als Lehrerin im Staatsdienst angestellt, mehrere intime Beziehungen, oft mit ihren Schülerinnen und auch mit einigen Schülern. Die jungen Frauen brachte sie manchmal mit Sartre in Kontakt. So ergaben sich aus den bereits an sich problematischen Verbindungen von Lehrerin und Schülerin auch Dreiecksbeziehungen.

Ein Fall für #MeToo?

Überzeugt, dass jeder in seinem Handeln komplett frei ist, ignorierte de Beauvoir die asymmetrischen Machtstrukturen, die zwischen ihr und ihren Liebschaften bestanden. Auf ihrer Suche nach vollkommener Freiheit ging sie so weit, nur sich selbst als Subjekt wahrzunehmen, ihre Partner dagegen als Objekt. In einer Notiz verglich sie ein Tête-à-Tête mit dem Essen von Gänseleberpastete – «nicht von der besten Sorte».

Mit 28 Jahren ging sie eine Beziehung mit der 12 Jahre jüngeren Bianca Lamblin ein. In ihren «Memoiren eines getäuschten Mädchens» (1994) schrieb die ehemalige Geliebte über de Beauvoir: «Sie war befremdlich launenhaft, manchmal freundschaftlich oder zärtlich, dann wieder kritisierte sie meine Wesensart und mein Denken.» Sie, Lamblin, sei zum Spielball zwischen de Beauvoir und Sartre geworden. Jahrelang habe sie sich nicht aus dieser schmerzhaften Dreiecksbeziehung lösen können und sehr gelitten.

Vier Jahre später, de Beauvoir war nun 32 Jahre alt, führt eine weitere Beziehung zu einer minderjährigen Schülerin schliesslich dazu, dass sie ihre Lehrbefugnis – und damit ihre Anstellung – verliert. Die Eltern des 17-jährigen Mädchens hatten sich bei der Schulleitung beschwert.

De Beauvoir erklärte es später lieber so, dass sie aufgehört habe zu unterrichten, um genug Zeit zum Schreiben zu haben. Tatsächlich erschien 1943, noch im gleichen Jahr, ihr erster Roman «L’Invitée». Es ist die Geschichte einer Schriftstellerin und eines Regisseurs, die eine Dreiecksbeziehung mit einer jungen Freundin der Schriftstellerin eingehen.

Das Leben als Werk

Bereits in «L’Invitée» verhandelt de Beauvoir existenzialistische Themen wie Freiheit, Angst und das Sein selbst. Themen, zu denen auch Sartre philosophische Thesen publiziert. Doch bei de Beauvoir war die Theorie aufs Engste mit der eigenen, hinter einer sparsamen Fiktionalisierung unschwer als solche erkennbaren Geschichte verknüpft. Gemäss einer ihrer Biografinnen, der Philosophin Kate Kirkpatrick, verstand de Beauvoir ihr Leben als ein Work in Progress. Ein von ihr gestaltetes Werk, das im literarischen Schaffen sein Abbild findet.

Sichtbar wird das etwa beim Zweiten Weltkrieg. Eine Zäsur für de Beauvoir, die sie zwang, über ihren eigenen Freiheitsbegriff nachzudenken. Es wurde ihr klarer, dass die eigene Freiheit dort aufhören muss, wo sie die Freiheit eines anderen Menschen gefährdet. Mit diesem Gedanken einher ging auch die Erkenntnis, dass ihre Beziehungen zu jungen Menschen, denen sie hierarchisch überlegen war, unethisch waren.

Sartres Freiheitsbegriff dagegen blieb grenzenlos. Die neue Definition de Beauvoirs von Freiheit, die nur wirkliche Freiheit sei, wenn sie jene der anderen auch zulasse, wurde zu einer ständigen Streitfrage zwischen den beiden. Das zeigt einerseits, dass de Beauvoir mitnichten einfach nur «Literatin, Sartres Schülerin» war, wie es die Enzyklopädie «Petit Larousse» in den 1970er Jahren maximal verknappt notierte und wie Kirkpatrick es in ihrer Biografie «Becoming Beauvoir» (2019) an vielen weiteren Bespielen widerlegt.

Andererseits zeigt sich in de Beauvoirs unablässiger Selbstreflexion, dass sie im Denken nie erstarrte, sondern die eigene Auffassung immer wieder prüfte. Sich also auch die geistige Freiheit einräumte – oder sich vielmehr dazu zwang –, begangene Fehler zu erkennen und zu bereinigen. Sie blieb wandelbar, ein Wesenszug, der auch in ihren Sommern im Limousin immer wieder zum Tragen kam.

Religion und Glück

Das Mädchen, das im Garten des Familienanwesens Meyrignac General spielte, träumte auch davon, Nonne zu werden. Sehr früh muss sie gespürt haben, dass die traditionelle Frauenrolle als Hausherrin und Mutter nicht die ihre war. Doch dann, als 14-Jährige, fiel de Beauvoir vom Glauben ab.

«Eines Abends in Meyrignac verstand ich, dass nichts mich von irdischen Freunden abhalten würde. Ich glaube nicht mehr an Gott, sagte ich mir, und war nicht sehr erstaunt. Ich hatte immer gedacht, dass im Verhältnis zur Ewigkeit diese Welt nicht viel zählt. Sie zählte aber, weil ich sie liebte», schreibt sie im ersten Teil ihrer früh im Leben erschienenen, fünfteiligen Memoiren. Die Freiheit von gesellschaftlichen Konventionen, die sie im Kloster zu finden hoffte, erkannte de Beauvoir nun darin, nicht an Gott und Religion festzuhalten.

Einige Jahre später, sie verbrachte den Sommer erneut mit der Familie im Limousin, besuchte sie Sartre, damals ganz frisch ihr Studienfreund und vielleicht bereits ihr Liebhaber. Den Eltern war das gar nicht recht, war doch der Besuch eines jungen Mannes ohne Heiratsabsichten rufschädigend für beide unverheirateten Töchter. Doch de Beauvoir setzte sich darüber hinweg.

In ihren Memoiren heisst es zu dieser Erinnerung: «Mein Vater und meine Mutter hatten keinen Zugriff mehr auf mich. Ich war nun wirklich für mich selbst verantwortlich.» Aus dem kleinen General von einst war die Generalin des eigenen Lebens geworden.

Frühe Autofiktion

Viele Jahre später wurde aus der Einzelkämpferin, die sich nahm, was sie wollte, eine Kämpferin für andere. So setzte sie sich vehement und erfolgreich für das Recht auf Abtreibung und für die Einführung der Antibabypille ein. In einer Lebensphase, da sie das Thema persönlich nicht mehr betraf.

Am Ende nannte sie sich dann doch selbst eine Feministin. Bald vier Jahrzehnte sind seit dem Tod Simone de Beauvoirs im April 1986 vergangen. Zu Lebzeiten bekannt, gefeiert und diskutiert, geriet sie in der breiten Öffentlichkeit danach beinahe in Vergessenheit. Erst das vergangene Jahrzehnt mit seinem wiedererwachten Feminismus hat de Beauvoir erneut für sich entdeckt.

Inanspruchnahme von beiden Seiten

Mit der Wiederentdeckung der Philosophin, die sich selbst lieber Schriftstellerin nannte, wurden ihre Thesen in den vergangenen Jahren von verschiedenen Seiten für deren eigene Ideale in Anspruch genommen. Ältere Feministinnen, wie etwa Alice Schwarzer, lesen in ihren Schriften ein klares Bekenntnis zum Frausein – das allerdings niemals als gesellschaftliche oder politische Einschränkung missbraucht werden dürfe.

Die Transgenderbewegung dagegen erkennt das Gegenteil: Dass man nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht werde, führe eine Unterscheidung ein zwischen biologischem Geschlecht und soziologischem Geschlechtskonstrukt, die sich in den englischen Begriffen Sex und Gender widerspiegelt. De Beauvoir löse das Frausein gedanklich also auf. Alle können Frau sein – aber niemand muss.

Doch Simone de Beauvoir, die ihr Denken und Erleben so eng miteinander verknüpfte, kann nicht aus ihrer Zeit und ihrem Leben herausgelöst weitergedacht werden. Sie, die einst Nonne werden wollte, bevor sie die freie Liebe propagierte, die ihre Gegenüber teilweise als reines Objekt betrachtete, an dem sie die eigene Freiheit auslebte, bevor sie vehement für die Freiheit anderer zu kämpfen begann, war vor allem eines: eine Wandelbare. Wie sehr, würde heute vielleicht sogar sie selbst überraschen.

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