Freitag, November 29

Die Schweiz müsste auch bei einer Schliessung der hiesigen Stahlwerke nicht mit gravierenden Versorgungsengpässen rechnen. Das sagt Eric Scheidegger, stellvertretender Direktor im Staatssekretariat für Wirtschaft.

Herr Scheidegger, wie schlimm wäre es, wenn die beiden Schweizer Stahlwerke in Gerlafingen und in Emmenbrücke schliessen müssten?

Wichtig ist zuerst die Analyse der Ursachen der Krise. Erstens haben wir weltweit seit Jahrzehnten massive Überkapazitäten in der oftmals subventionierten Stahlproduktion. Damit verbundene Stahlschutzzölle der EU belasteten Schweizer Exporte bis vor kurzem besonders stark. Zweitens kämpfen beide Unternehmen auch mit konjunkturellen Problemen. Drittens stehen beide Stahlwerke am Beginn eines jahrzehntelangen Übergangs zur Dekarbonisierung der Wirtschaft. Im Rahmen des Emissionshandelssystems fallen deshalb ab 2026 die Gratisbezüge von Emissionsrechten für energieintensive Betriebe schrittweise weg. Und viertens haben alle energieintensiven Unternehmen in der Schweiz derzeit hohe Energiekosten.

Sagen Sie, dass die Werke auch mit Staatshilfe nicht zu retten sind?

Die Frage ist: Kann man sie kurzfristig retten, und mit welchen Mitteln allenfalls auch langfristig? Die Linie des Bundesrats gilt für alle rund 250 energieintensiven Unternehmen. All diese Firmen sind von der Dekarbonisierung und von den hohen Strompreisen gleichsam betroffen. Auch zugunsten der Stahlwerke bietet der Bund zahlreiche Massnahmen an, welche die erwähnten Ursachen ihrer Probleme adressieren. Zum einen die Möglichkeit der Kurzarbeitsentschädigung, die Stahl Gerlafingen im Kontext der Konjunkturschwäche schon in Anspruch genommen hat. Der Bundesrat hat die maximale Bezugsdauer von 12 auf 18 Monate verlängert. Zudem ist seit Juli der EU-Markt wieder offen für Stahlimporte aus der Schweiz. Im Weiteren hat die Vereinigung der öffentlichen Bauherren empfohlen, bei Beschaffungen für Infrastruktur und Hochbau auf Stahl aus CO2-armer Produktion zu setzen. Zudem werden die Netzkosten und damit die Strompreise für energieintensive Unternehmen ab 2025 beziehungsweise 2026 deutlich sinken.

Was bringt die Senkung der Stromkosten für die Stahlwerke in Franken?

Wir können dazu nur grobe Schätzungen vornehmen. Die Senkung des Tarifzuschlags für Stromreserven ab 2025 entlastet Stahl Gerlafingen mit etwa 2,9 Millionen Franken pro Jahr. Eine schon beschlossene Reduktion des Kapitalkostensatzes für Netzgebühren entlastet das Werk mit etwa 150 000 Franken pro Jahr. Eine weitere Senkung dieses Kostensatzes war in einer Vernehmlassung und könnte je nach politischer Weichenstellung Stahl Gerlafingen zusätzlich bis zu 650 000 Franken bringen. Zudem prüft der Bundesrat die Möglichkeit, energieintensive Unternehmen von der Winterreserve auszunehmen. Alles zusammen könnte es für Stahl Gerlafingen im Idealfall eine Entlastung von jährlich über 4 Millionen Franken geben. Und schon bisher konnten die Stahlwerke wie alle energieintensiven Betriebe den Netzzuschlag zur Förderung von erneuerbaren Energien ganz oder teilweise rückerstatten lassen. Das brachte für Stahl Gerlafingen schon eine Entlastung von bis zu 7 Millionen Franken pro Jahr.

Vom angekündigten Ende des faktischen Exportverbots der EU für Schweizer Stahlhersteller merkt man im Werk Gerlafingen dem Vernehmen nach noch nichts. Wie ist Ihr aktueller Wissensstand?

Seit Juli stehen in der EU wieder genügend Kontingentsmengen für Exporte aus der Schweiz innerhalb der für Gerlafingen massgebenden Produktgruppe zur Verfügung. Das Stahlwerk konnte damit unseres Wissens die Exporte durch Verkauf von Lagerbeständen wieder aufnehmen. Die für den Export bestimmte Produktionslinie hatte das Werk jedoch geschlossen. Bisher haben wir nicht von Absichten gehört, diese Produktionslinie wieder zu öffnen.

Nochmals gefragt: Wie schlimm wäre es, wenn es keine Stahlwerke in der Schweiz mehr gäbe?

Das wäre natürlich bedauerlich für alle Betroffenen. Aber ich sehe im Moment keine Risiken für schwere Versorgungsprobleme in der Schweiz. Im Umkreis von etwa 150 Kilometern von der Grenze der Schweiz gibt es zwanzig Stahlwerke, die zusammen etwa 20 Millionen Tonnen pro Jahr produzieren können – etwa zwölfmal so viel wie die beiden Schweizer Stahlwerke zusammen. In ganz Europa gibt es nicht zu wenig Stahl, sondern zu viel. Es gibt einen regen Handel in beide Richtungen für Stahlschrott ebenso wie für Halb- und Fertigfabrikate.

Kritiker im Parlament bezeichnen das Werk Gerlafingen als systemrelevant, weil ohne dieses eine geschlossene Kreislaufwirtschaft durch die Verarbeitung von Stahlschrott im Inland nicht möglich wäre. Wie sehen Sie das?

Die rund zwanzig Stahlwerke im grenznahen Ausland stellen alle mit vergleichbarer Technologie Stahl her und brauchen dazu ebenfalls Stahlschrott. Die Kreislaufwirtschaft ist ein wichtiger Aspekt, aber es wäre falsch, den Kreislauf nur innerhalb der nationalen Grenzen zu sehen. Niemand käme auf die Idee, ein Kreislauf für Produktion und Einsatz von Baumaschinen müsse innerhalb der Schweiz geschlossen sein. Auch eine Kreislaufwirtschaft darf und soll über nationale Grenzen hinaus funktionieren. Das ist ressourceneffizienter als ein möglichst kleinräumiger Kreislauf. Wenn man einen möglichst kleinräumigen Kreislauf will, warum dann statt eines nationalen Kreislaufs nicht gleich eine regionale Betrachtung mit der Forderung nach einem Stahlwerk auch noch in der Romandie, im Tessin und in der Ostschweiz?

Doch würde die Aufgabe der Schweizer Stahlwerke nicht zu höheren Umweltkosten führen?

Wenn Gerlafingen schliessen muss und durch ausländische Lieferungen ersetzt wird, soll dies laut einer kursierenden Aussage zu einem zusätzlichen Ausstoss von 3 Millionen Tonnen Treibhausgasen pro Jahr führen. Wir können diese Angabe nicht nachvollziehen. Dem Vernehmen nach produziert das Stahlwerk Gerlafingen pro Tonne Stahl etwa 0,3 Tonnen weniger CO2 als der Durchschnitt der EU-Stahlwerke, der bei knapp 0,7 Tonnen liegt. Wenn wir die Differenz multiplizieren mit der Produktionskapazität in Gerlafingen von gut 750 000 Tonnen, kommen wir bei einer Verlagerung ins angrenzende Ausland auf einen zusätzlichen CO2-Ausstoss von weniger als einem Zehntel der genannten 3 Millionen Tonnen.

Doch wären nicht auch die längeren Transportwege zu berücksichtigen?

Wenn die Produktion ins nahe Ausland wandert, könnte man für beide Stahlwerke zusammen Zusatztransporte von etwa 300 Millionen Tonnenkilometern pro Jahr annehmen. Dies entspräche einer Zunahme von etwa 1,7 Prozent. Das ist nicht nichts, aber im Gesamtkontext üblicher Schwankungen im Strassengüterverkehr überschaubar. Und gemessen am zusätzlichen Ausstoss von Treibhausgasen durch die Mehrtransporte wäre man bei der Veränderung für die Schweiz wohl eher im Promille- denn im Prozentbereich.

Doch das Parlament hat 2023 dem Bundesrat befohlen, die Vorteile der ausländischen Stahl- und Aluminiumproduktion aufgrund der EU-Subventionen abzufedern und den metallischen Materialkreislauf in der Schweiz zu sichern. Laut den Betroffenen genügen die bisherigen Massnahmen bei weitem nicht. Betreibt der Bundesrat Befehlsverweigerung?

Die Bundesverwaltung ist an der Umsetzung. Dieser Vorstoss zielt allerdings nicht bloss auf das Stahlwerk Gerlafingen, sondern auf die ganze Metallindustrie und sogar auf alle energieintensiven Unternehmen. Einige Massnahmen habe ich eingangs genannt. Im Fokus stehen zudem Förderprogramme für Dekarbonisierungsmassnahmen gemäss CO2-Gesetz und Klimaschutzgesetz, welche grundsätzlich allen Unternehmen offenstehen sollen. Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist sehr wichtig. Es geht auch um Fairness.

Doch können die genannten Massnahmen die Subventionsvorteile von EU-Produzenten voll kompensieren?

Wenn man eine solche Rechnung anstellen will, müsste man auch alle Standortvorteile in der Schweiz einbeziehen, zum Beispiel den besseren Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften und eine tiefere Steuerbelastung. Zudem sind manche Vergünstigungen in der EU schon ausgelaufen oder laufen bald aus.

Aber können Sie sagen, ob mit den beschlossenen und geplanten Massnahmen die Schweizer Nachteile bei den Energiekosten ausgeglichen wären?

Das lässt sich kaum berechnen, weil keine Transparenz herrscht bei den Subventionen im Ausland. Aber wenn wirklich ein vollständiger Ausgleich gewünscht ist, muss man alle Standortvorteile der Schweiz und alle Nachteile im Ausland einbeziehen. Die mittel- und langfristige Verteuerung der Energie ist eine gewollte klimapolitische Massnahme und kann ökonomisch sinnvoll sein. Ja, die Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft hat einen Preis. Jetzt fängt man an, diesen Preis zu realisieren. Die Politik muss mit Zielkonflikten umgehen: Will man das ökologische Ambitionsniveau für alle energieintensiven Unternehmen aus Kostengründen senken? Falsch wäre es jedenfalls, einzelne Unternehmen zu bevorzugen. Wenn man einzelne bevorzugt, benachteiligt man automatisch andere.

Wenn das Ausland bestimmte Betriebe oder Branchen subventioniert, kann das dazu führen, dass Schweizer Betriebe, die ohne die Subventionsvorteile der Auslandskonkurrenten wettbewerbsfähig wären, ins Abseits geraten. Ist das nicht auch aus ökonomischer Sicht sehr unbefriedigend?

Das ist sehr unbefriedigend, und die Entwicklung bereitet mir Sorgen. Die Schweizer Unternehmen haben es aber schon immer geschafft, trotz Unterschieden der Standorte erfolgreich zu sein. Auch in der Schweiz hat man Vorteile. Doch die grosse Frage in der EU ist: Können die Mitgliedstaaten die eingeführten Notmassnahmen aufgrund des EU-Beihilferechts weiterführen? Manche Unterstützungsmassnahmen stossen auch an die finanziellen Grenzen der EU-Länder. Und generell sollten wir nicht einfach schlechte Massnahmen der EU nachmachen.

Also ist es im Vergleich zum Mitrennen im internationalen Subventionswettlauf das kleinere Übel, zuzuschauen, wie im schlimmsten Fall Schweizer Industrieproduktion verschwindet?

Wir schauen nicht einfach zu. Wir stellen bis jetzt nicht fest, dass die Industrieproduktion rückläufig wäre oder verlagert wird. Wir gehören im internationalen Vergleich nach wie vor zu den besten Unternehmensstandorten. Der Bundesrat strebt auch weitere Massnahmen zur Verbesserung an, doch dies soll jeweils für alle gelten und nicht einzelne Betriebe oder Branchen privilegieren. Die bisherige Politik der Schweiz hat sich eindeutig bewährt. Sonst wäre die Schweiz nicht eines der wohlhabendsten und innovationsfähigsten Länder.

Der Nationalrat hat im September eine Motion unterstützt, die ausdrücklich die Rettung des Stahlwerks Gerlafingen fordert, und dies unter Umständen sogar via Notrecht. Wie würden Sie das umsetzen, wenn auch der Ständerat dies unterstützt?

Zuerst muss die politische Debatte im Parlament stattfinden.

Aber haben Sie das nicht schon mit Parlamentariern diskutiert?

Nein. Die Frage ist offen.

Könnte das auch eine Verstaatlichung bedeuten?

Wenn es dazu eine politische Mehrheit gäbe, wäre dies theoretisch nicht auszuschliessen.

Gewissen Parlamentariern schwebt als vorübergehende Sofortmassnahme eine Senkung der Stromnetzkosten für Stahlhersteller um bis zu 50 Prozent vor. Zu den Ideen für mittelfristige Massnahmen gehört die Einführung einer vorgezogenen Recyclinggebühr für in der Schweiz verkauften Stahl. Was ist von solchen Massnahmen zu halten?

Wie gesagt: Zuerst muss klar werden, was das Parlament im Kontext einer allfälligen Rettung von Stahlwerken will.

Parlament bedrängt Bundesrat

hus. Politiker können flexibel sein. So kommt es, dass angeblich umweltfreundliche Kreise plötzlich ihre Liebe zur energieintensiven Stahlproduktion entdecken. Und dass angeblich liberale Kreise plötzlich Subventionen für spezifische Betriebe fordern. So geschehen mit den kriselnden Stahlwerken in Emmenbrücke und vor allem in Gerlafingen. Bei beiden Werken ist die Zukunft höchst unsicher. In Gerlafingen sagen die Verantwortlichen, dass es ohne Staatshilfe keine Zukunft für das Werk gebe. Stahl Gerlafingen, das zum italienischen Konzern Beltrame gehört, hat dieses Jahr den Abbau von total rund 200 von etwa 600 Stellen angekündigt. 2023 schrieb das Werk Verluste von etwa 100 Millionen Franken.

Das Parlament hatte schon 2023 dem Bundesrat per Motion Hilfen für die Stahl- und Aluminiumindustrie befohlen. Diesen September unterstützte der Nationalrat zudem eine Motion, die staatliche Soforthilfen für das Stahlwerk Gerlafingen fordert. Weitere Vorstösse zu Subventionen für Industriebetriebe sind noch hängig.

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