Gwen Adshead ist Expertin für menschliche Abgründe. Sie hat Hunderte von Gewaltverbrechern behandelt und dabei den Code des Bösen entschlüsselt.

Gwen Adshead, Sie haben einmal gesagt, dass Sie Fremden nicht gern erzählen, was Sie von Beruf sind. Warum nicht?

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Wenn ich in einem Flugzeug einem Sitznachbarn erzählte, dass ich Therapeutin bin und mit Menschen arbeite, die schwere Verbrechen begangen haben, reagierten viele schockiert und sagten: «Solche Menschen verdienen keine Hilfe. Die sollte man hinrichten.» Mittlerweile behaupte ich lieber, ich sei Floristin. Dieser Beruf gefällt mir, vielleicht lerne ich ihn nach der Pensionierung ja noch.

Sie arbeiten seit über dreissig Jahren als forensische Psychiaterin und haben einige der gewalttätigsten Straftäter Grossbritanniens behandelt. Gibt es Patienten, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Ich erinnere mich vor allem an positive Geschichten. Zum Beispiel an einen Mann, mit dem ich zehn Jahre lang daran arbeitete, seine Grausamkeit zu überwinden. Er ist erfolgreich in die Gesellschaft reintegriert worden, wird zwar immer noch überwacht, hat aber keine Straftaten mehr begangen. Er hat ein wunderschönes Bild für mich gemalt, das ich bis heute aufbewahre. Er verarbeitete darin, wie es sich anfühlt, Patient in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt zu sein.

Hatten Sie nie Angst vor Ihren Patienten?

Bevor ich einen Patienten sehe, erkundige ich mich bei den Pflegern, wie es ihm geht. Wenn sie mir sagen, er sei in schlechter Verfassung, lasse ich die Sitzung ausfallen. Aber Sie müssen wissen: Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten ist an einer Zusammenarbeit sehr interessiert. Sie wollen mich nicht terrorisieren. So etwas passiert nur in Filmen. Meine Patienten haben wenig gemein mit Hannibal Lecter, dem Psychopathen aus «Das Schweigen der Lämmer».

Es fällt uns schwer, zu glauben, dass Sie keine schlechten Erinnerungen haben.

In über dreissig Jahren als Therapeutin musste ich nur zweimal eine Sitzung abbrechen. Patienten drohten mir oder meiner Familie, doch solche Vorfälle habe ich meist rasch abgehakt. Ich weiss, wenn Patienten aufgebracht sind, meinen sie nicht mich persönlich. Sie sind wütend über ihre Situation und lassen den Ärger an mir aus.

Was haben Sie für eine Beziehung zu Ihren Patienten? Müssen Sie sie verstehen oder gar mögen, damit Sie sie behandeln können?

Es ist selten, dass ich starke Gefühle für die Menschen entwickle, die ich behandle. Als Ärztin habe ich gelernt, meine persönlichen Reaktionen beiseitezuschieben. Ich muss meine Patienten nicht mögen, sondern meine Arbeit. Das gelingt mir auch, selbst wenn ich weiss, dass ich es mit einem sehr gewalttätigen Menschen zu tun habe. Ich versuche, auf eine Weise unparteiisch zu sein, die gleichzeitig warm und distanziert ist. Ich nenne das radikale Empathie.

Ist es nicht schwierig, gegenüber Massenmördern und Vergewaltigern empathisch zu sein?

Es geht nicht darum, Wohlwollen zu empfinden. Es geht darum, sich für die Person zu interessieren. Um zu verstehen, wer sie ist. Und warum sie so ist, wie sie ist.

Wie fühlt es sich an, einem Serienmörder gegenüberzusitzen?

Natürlich erschüttert mich, was diese Menschen getan haben. Aber es ist meine Aufgabe, mit ihnen zu arbeiten. Und diese will ich so gut wie möglich erfüllen. Ich treffe die Täter in einem anderen Kontext als ihre Opfer. Ich arbeite mit ihnen im geschützten Rahmen eines Gefängnisses oder einer Klinik. In diesen Situationen sind sie keine furchteinflössenden Menschen mehr. Sie haben ihre Macht verloren.

Gwen Adshead

Gwen Adshead arbeitet seit mehr als dreissig Jahren als forensische Psychiaterin in britischen Gefängnissen und psychiatrischen Hochsicherheitsspitälern wie dem Broadmoor Hospital in Berkshire. Sie hat Hunderte von Schwerverbrechern behandelt und bildet forensische Psychiater aus. In ihrem zuletzt erschienenen Buch «The Devil You Know» gibt sie Einblick in ihre Arbeit anhand von zwölf Patientinnen und Patienten, die sie in den letzten Jahrzehnten therapiert hat.

Wie arbeiten Sie mit Tätern?

In der Therapie mache ich von Anfang an klar: «Jim, du hast etwas Schreckliches getan.» Aber ich will verstehen, nicht verurteilen oder beschämen. Meistens fühlen sich die Menschen ohnehin schon schlecht. Ich bin dazu da, ihnen zu helfen, weniger gefährlich zu werden, und unterstütze sie dabei, auf Gewalt zu verzichten. Studien zeigen: Therapien senken das Rückfallrisiko.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich hatte mit einem jungen Mann namens Jacob gearbeitet, der in der Vergangenheit sehr gewalttätig war und einen anderen Mann mit einem einzigen Faustschlag tötete. Es war keine vorsätzliche Tötung. Die beiden stritten, Jacob schlug zu, der andere stürzte und starb. Jacob sass acht Jahre in Haft. Als er aus dem Gefängnis kam, war er kein bisschen weniger gefährlich. Erst das Treffen mit der Familie seines Opfers und die Therapie veränderten ihn. Er hat angefangen, seine Gewaltbereitschaft, seine Drogenabhängigkeit und sein kriminelles Umfeld ernst zu nehmen. Heute arbeitet er in Gefängnissen und engagiert sich in der Resozialisierung von Straftätern.

Was interessiert Sie an den Biografien von Tätern?

Mich fasziniert, wie Menschen in Situationen geraten, die sie später bereuen oder für die sie sich schämen. Der Gedanke, eine Entscheidung zu treffen, die man später nicht mehr verstehen kann, ist mir nicht fremd. Auch wenn ich selbst nie eine schwere Straftat begangen habe, kann ich die emotionale Logik dahinter verstehen. Die menschliche Psyche ist kompliziert und faszinierend. Ich vergleiche sie mit einem Korallenriff.

Mit einem Korallenriff?

Oft wird das Gehirn mit einem Computer verglichen, aber das ist aus meiner Sicht unpassend. Der menschliche Geist ist vielschichtiger und schwerer zu durchdringen. Er liegt nicht an der Oberfläche. Man muss tief tauchen, um ihn zu verstehen, so wie bei einem Korallenriff. Und selbst dann bleibt vieles verborgen. Oft kennen wir uns selbst schlechter, als wir glauben. Auch unsere Fähigkeit zur Grausamkeit verdrängen wir gern.

Sie hören täglich fürchterliche Geschichten. Wie schalten Sie abends ab?

Ich arbeite in geschlossenen psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen. Wenn ich diese Institutionen verlasse, lege ich meinen schweren Schlüsselgurt ab, gehe durch die Sicherheitskontrolle und nehme mein Mobiltelefon wieder an mich. Dieses Ritual hilft mir, den Arbeitstag hinter mir zu lassen. Auch die 40-minütige Autofahrt nach Hause gibt mir Zeit, emotional Abstand zu gewinnen.

Sie haben ein Buch über Ihre Arbeit veröffentlicht. Darin schreiben Sie über einen Vater, der seine beiden Söhne missbrauchte. Und über einen jungen homosexuellen Mann, der drei Sexualpartner tötete und einen von ihnen anschliessend noch enthauptete. Viele würden solche Täter als Monster bezeichnen. Sie sagen, sie seien Menschen wie du und ich.

Ich lehne es ab, die Welt in «die Bösen» und «die anderen Menschen» zu unterteilen. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass jeder Mensch fähig ist, Schreckliches zu tun. Niemand ist immun. Jeder kann in einen Zustand geraten, in dem er den Wunsch verspürt, andere zu verletzen oder zu erniedrigen. Ich nenne das den «evil state of mind».

Was ist das für ein Zustand?

In solchen Momenten verliert man das Gespür für die Verletzlichkeit anderer. Man ist wie im Rausch und will grausam sein. Aber wenn der Rausch vorbei ist, verschwindet auch der «evil state of mind». Es kommt selten vor, dass jemand grinsend auf der Polizeiwache sitzt und sagt: «Hey, ich habe jemanden getötet, das ist grossartig.»

Dieser «böse Geisteszustand» klingt wie eine psychische Krankheit. Ist er das?

Nein. Das meiste, was wir über den «evil state of mind» wissen, stammt aus Studien über den Nationalsozialismus. Während der Nazizeit schien es in Deutschland und den besetzten Ländern in Ordnung zu sein, grausame Dinge zu tun, weil das Regime sie förderte und Gleichgesinnte sich gegenseitig bestärkten. Diese Leute waren nicht psychisch krank. Aber was an Gewaltneigung in ihnen steckte, wurde sozial aktiviert.

Sie sagen also, es gebe das reine Böse nicht?

Menschen sind nicht von Natur aus «böse». Das ist keine angeborene Eigenschaft wie die Augenfarbe oder Linkshändigkeit. Man wird meiner Meinung nach auch nicht «gut» geboren. Güte ist etwas, das man sich erarbeiten muss. Wir werden mit Veranlagungen geboren – mit dem Potenzial zu grosser Güte und zu grosser Grausamkeit. Freundlichkeit und Einfühlungsvermögen entstehen durch Erziehung und bewusste Entscheidungen.

Philosophen und Theologen debattieren seit Jahrtausenden über das Böse, und Sie sagen, es existiere nicht?

Die grosse Frage, die uns Menschen seit je beschäftigt, lautet doch eher: Wie sollen wir leben? Was macht einen guten Menschen aus? Und warum sind Menschen zu unvorstellbaren Grausamkeiten fähig? Die Menschen glauben an das Gute. Und wer das Gute für real hält, muss auch das Nichtgute für real halten – und das bedeutet, über das Böse nachzudenken.

Wir Menschen scheinen fasziniert vom Bösen. Gewalt dominiert die Unterhaltungsindustrie. Ein grosser Teil der Filme, TV-Serien, Podcasts und Bücher heute sind Krimis und True-Crime-Geschichten. Warum ziehen sie uns so an?

Wir interessieren uns für Verbrechen, weil jeder von uns in einen «evil state of mind» geraten kann. Wir selber könnten derjenige sein, der furchtbare Dinge tut. Menschen erzählen sich seit Tausenden von Jahren schreckliche Geschichten zur Unterhaltung. Denken Sie an die griechischen Tragödien. Sie waren extrem beliebt und handelten von Inzest, Vergewaltigung und Mord. Aristoteles sagte, diese Erzählungen über solche Greueltaten seien eine Möglichkeit, diese beunruhigenden Emotionen in uns zu erforschen. Da könnte etwas dran sein.

In TV-Serien werden Täter oft als Monster dargestellt, als Psychopathen, die aus Freude oder aus purer Lust quälen. Wie der gutaussehende Buchhändler in der Netflix-Serie «You». Er umgarnt wie besessen junge Frauen und tötet sie. Wie häufig sind solche Formen von Gewalt Ihren Erfahrungen nach tatsächlich?

Serienmörder gibt es im wahren Leben kaum. Die meisten Fälle gibt es in den USA, doch selbst da sind es in den letzten Jahrzehnten deutlich weniger geworden. 2015 wurden in den USA 45 Serienmörder verhaftet, bei einer Bevölkerung von 300 Millionen sind das nicht viele. Die meisten Menschen, die schwere Verbrechen begehen, sind auch bei weitem nicht so charismatisch oder intelligent, wie sie in Filmen dargestellt werden. Mich erstaunt es immer wieder, wie gewöhnlich Mörder oft sind und aus was für banalen Gründen sie töten.

Von wem geht die grösste Gefahr aus?

In den seltensten Fällen lauern Täter Fremden auf, um sie zu quälen. Die meisten Morde passieren innerhalb von Familien oder Beziehungen. Statistisch gesehen ist die Person, mit der Sie gerade das Bett teilen, die grösste Gefahr für Ihr Leben.

Wieso präsentiert uns die Unterhaltungsindustrie Mörder, die es im wahren Leben kaum gibt?

Eine Schriftstellerin hat dies einmal so erklärt: In Kriminalgeschichten geht es oft darum, wieder Ordnung in die Welt zu bringen. Am Ende siegt das Gute. Der Ablauf ist meist ähnlich: Etwas Schlimmes passiert, jemand macht sich auf die Suche nach der Wahrheit, findet den Täter – und dieser wird zur Rechenschaft gezogen. So wird das Chaos aufgelöst und Gerechtigkeit hergestellt. Wir erfahren, warum das Schreckliche passiert ist, und bleiben nicht ratlos zurück. Im Fernsehen bekommen wir fast immer ein abgeschlossenes Ende präsentiert. Im echten Leben ist es anders: Für Gewaltverbrechen gibt es selten gute Antworten. Und manchmal gar keine. So wie im letzten Sommer bei uns in Southport.

Was ist da passiert?

Ein 17-Jähriger stürmte mit einem Messer in eine Tanzschule, tötete drei Mädchen im Alter zwischen 6 und 9 Jahren und verletzte zehn weitere. Wir haben keine Antwort darauf, warum er das getan hat. Es ist einfach eine furchtbare Geschichte mit einem schrecklichen Anfang und einem schrecklichen Ende. Und es gibt keine Auflösung.

Viele Menschen denken, dass solche Mörder kein Verständnis verdienten und einfach weggesperrt werden sollten. Sie argumentieren anders.

Der Teufel, den wir kennen, ist weniger gefährlich als der, den wir nicht kennen. Wenn wir Mord und andere Gewalttaten reduzieren wollen, müssen wir so viel wie möglich darüber erfahren. Das bedeutet auch, mit jenen zu sprechen, die schwere Verbrechen begehen – anstatt nur zu spekulieren, was sie dazu bringt. Wir müssen verstehen, was in diesen Momenten in den Köpfen der Täter vorgeht.

Im Vorwort Ihres Buches steht, Sie hätten versucht, den Code des Bösen zu entschlüsseln. Ist Ihnen das gelungen?

Zumindest teilweise. Ich arbeite mit dem sogenannten Zahlenschloss-Modell. Es besagt, dass unsere Fähigkeit zu Grausamkeit grundsätzlich verschlossen ist. Das ist die gute Nachricht: Die meisten von uns wenden nie Gewalt an, sie gehört also nicht zwangsläufig zum menschlichen Leben. Aber bei einigen Menschen öffnet sich das Zahlenschloss, und etwas Schreckliches passiert.

Was geschieht in diesem Moment?

Je mehr Risikofaktoren gleichzeitig zusammentreffen, desto wahrscheinlicher öffnet sich das Schloss. Die ersten beiden Zahlen sind gesellschaftspolitischer Natur und spiegeln Haltungen zu Männlichkeit, Verletzlichkeit oder Armut. Um es deutlich zu sagen: Die meisten Gewalttaten auf der Welt werden von jungen, mittellosen Männern verübt. Die nächsten beiden Zahlen beziehen sich auf persönliche, biografische Aspekte des Täters, zum Beispiel den Drogenkonsum oder traumatische Erlebnisse in der Kindheit. Die letzte Zahl, diejenige, die das Schloss öffnet, ist die faszinierendste.

Erst sie löst die grausame Tat aus?

Ja, und sie ist schwer vorhersehbar. Oft ist es etwas, das das Opfer sagt oder tut. Ein sarkastischer Kommentar, eine beiläufige Bemerkung oder auch ein Lächeln. Ich war kürzlich in einen Fall involviert, bei dem ein junger Mann eine junge Frau tötete. Sie war die beste Freundin seiner Ex und wollte deren Sachen bei ihm abholen. Im Streit sagte sie etwas wie: «Meine Freundin ist zu gut für dich.» Sie wusste nicht, dass der junge Mann extrem beschämt und wütend war und dass ein Messer in Reichweite lag. Hatte er an jenem Morgen vor, jemanden zu töten? Höchstwahrscheinlich nicht. Aber die junge Frau ist nun tot, und er wird wohl zu lebenslanger Haft verurteilt werden.

Sie haben gesagt, dass auch Kindheitstraumata einen Menschen dazu bringen können, zum Mörder zu werden.

Körperlicher Missbrauch, emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit erhöhen das Risiko deutlich, später gewalttätig zu werden. Das wissen wir, weil der Anteil von Menschen, die in der Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht haben, bei Strafgefangenen überdurchschnittlich hoch ist.

Wie hoch?

Etwa zehn Prozent aller Menschen erleben in der Kindheit vier oder mehr Formen von Traumata wie psychischen, physischen oder sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung, häusliche Gewalt in der Familie oder drogen- und alkoholabhängige Eltern. Dieser Anteil ist in fast allen Ländern gleich hoch, in denen es Untersuchungen dazu gibt. Doch in Haftanstalten, ob in einer Jugendanstalt in Florida oder in einem Gefängnis in Wales, haben rund die Hälfte aller Gewaltverbrecher ein hohes Mass an Kindheitstraumata erfahren. Also rund fünf Mal so viele wie im Bevölkerungsdurchschnitt. Deshalb muss man annehmen, dass traumatische Erlebnisse eine wichtige Rolle spielen.

Welche spielen sie genau?

Wenn Kinder in den ersten Lebensjahren Angst und Schmerzen erleben oder zu wenig Nähe und Aufmerksamkeit bekommen, kann das ihre Fähigkeit beeinträchtigen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Sei es im Kindergarten, in der Schule oder später in Beziehungen. Sie nehmen andere weniger als fühlende Wesen wahr. Die ersten Menschen, zu denen ein Kind eine Bindung aufbaut, sind meistens die Eltern. Wenn diese dem Kind Angst machen oder es vernachlässigen, wird es wahrscheinlich dazu neigen, sich innerlich zurückzuziehen und emotional abzuschalten. Kommt körperliche Gewalt dazu, fühlt sich das Kind hilflos und entwickelt Wut. Aber kleine Kinder haben noch nicht die seelische Reife, um mit diesen starken Gefühlen umzugehen. Ihnen fehlt das psychische Rüstzeug.

Solche Menschen haben Mühe, empathisch zu sein?

Ja, weil Empathie bedeutet, sich für die Gedanken anderer zu interessieren. Um diese Fähigkeit zu entwickeln, braucht man ein stabiles Gespür für sein Umfeld und Selbstbewusstsein. Fehlt beides, bleibt das soziale Denken zurück. Im besten Fall ist es schwach, im schlimmsten Fall zerstört. Dann glaubt man womöglich, andere Menschen seien nicht real.

Wie kann sich das im späteren Leben auswirken?

Zum Beispiel so: Erlebt man in den ersten Lebensjahren mehrere Traumata, lernt man oft schlecht, mit Angst und Stress umzugehen. In der Pubertät greift man dann vielleicht zu Drogen oder Alkohol, um die unangenehmen Gefühle weniger zu spüren. Diese beeinflussen das Gehirn, das sich unter dem Einfluss von Sexualhormonen sowieso gerade neu organisiert. Drogenmissbrauch erhöht das Risiko für Gewalt stark. Schliesst man sich dann noch einer Gruppe von Leuten an, denen es genauso schlecht geht, wird die Gefahr noch grösser. Wer ständig in Auseinandersetzungen gerät, insbesondere in einem Rauschzustand, trägt ein hohes Risiko, früher oder später jemanden zu töten. Die deutliche Mehrheit der Tötungsdelikte verüben junge Männer an jungen Männern – meist unter Alkoholeinfluss. In England und Wales sind 90 Prozent der Täter und 71 Prozent der Opfer junge Männer.

Warum sind die Gefängnisse überall auf der Welt voll mit Männern?

Wer die Antwort auf diese Frage kennt, würde den Nobelpreis gewinnen. Ich kann sie nicht beantworten. Bemerkenswert ist, dass es keine Kultur auf der Welt gibt, in der Männer nicht mindestens 80 Prozent der Gewaltverbrechen begehen. Das hängt mit unserem Verständnis von Männlichkeit zusammen. Der amerikanische Psychiater James Gilligan beschreibt eine bestimmte Form von Männlichkeit, bei der es als unerträglich empfunden wird, sich verletzlich zu zeigen. Deshalb versuchen manche Männer, das Gefühl der Verletzlichkeit vollständig zu unterdrücken. Sie sagen sich: Darüber denken wir nicht nach. Darüber sprechen wir nicht. Stattdessen suchen sie Stärke darin, andere zu erniedrigen oder zu verletzen. In diesen Momenten fühlen sie sich mächtig, doch dieses Machtgefühl fordert einen enormen Preis.

Die meisten Männer werden jedoch nie gewalttätig.

Gewalt ist etwas Aussergewöhnliches, auch wenn viele von uns dies nicht so wahrnehmen. Besonders Mord ist sehr selten. Ich weiss nicht, wie hoch die Rate in der Schweiz ist . . .

In der Schweiz gab es im Jahr 2024 insgesamt 45 Tötungsdelikte.

. . . und in England und Wales sind es jährlich rund 600 Morde. Das sind zweifelsfrei 600 zu viele. Aber wir haben eine Bevölkerung von 40 Millionen Menschen. Die Wahrscheinlichkeit, zum Mörder zu werden, ist also verschwindend klein. Jene, von jemandem umgebracht zu werden, ebenfalls. In Europa ist die Gewaltkriminalität seit über fünfzig Jahren rückläufig.

Warum ist das so?

Wir nehmen Gewalt heute ernster als vor hundert Jahren. Früher hatte man gesagt: So sind Menschen eben. Heute sagen wir: Nein, so sind Menschen nicht. Gewalt ist das Verhalten einiger weniger. Und wir bemühen uns, zu verstehen, wieso sie gewalttätig wurden.

Gibt es nicht auch Psychopathen, die grundlos quälen und morden?

Ja, die gibt es. Aber sie zu identifizieren, ist nicht einfach. Wahrscheinlich gehören jene dazu, die mehrfach getötet haben. Das Problem ist jedoch, dass besonders antisoziale Menschen erst gar nicht in die Therapie kommen. Sie wollen sich auf keinen Fall verletzlich fühlen. Die meisten anderen Täter sind offen für Therapien, und von ihnen können wir viel lernen.

Was haben Sie selbst von Patienten gelernt?

In Therapiegruppen habe ich viel über sexuellen Missbrauch an Kindern gelernt. Auffällig war, dass die meisten Täter ähnliche Erzählmuster hatten. Es ging ihnen weniger um eine abnorme sexuelle Neigung als um den Wunsch, vollständige Kontrolle über jemanden zu haben. Wenn man jemanden völlig kontrolliert, kann man mit dieser Person tun, was man will. Sie ist ausserstande, Nein zu sagen. Dieses Denken steht im Zentrum vieler Formen menschlicher Gewalt und Grausamkeit. Von Mördern habe ich etwas anderes gelernt.

Was?

Sie legen sich alle ihre eigene Geschichte zurecht. Sie handelt davon, warum ihre Tat unabwendbar oder gerechtfertigt gewesen sei. Einige kommen während des Verbrechens in einen traumartigen Zustand, der es ihnen im Nachhinein erschwert, sich an die Details zu erinnern. Dies macht es für sie einfacher, zu denken: «Es ist gar nichts passiert.» In der Therapie geht es darum, diese Geschichte zu verstehen und sie dann sanft auseinanderzunehmen. Die Leute müssen lernen, dass das, was sie für real hielten, nicht stimmt. Oft umfasst dies die Erkenntnis, dass sie eine Wahl hatten und sich für etwas Schreckliches entschieden haben.

Wie reagieren Mörder darauf?

Ich kann die Patienten nicht dazu zwingen, sich auf diese Erkenntnis einzulassen. Aber es erstaunt mich immer wieder, wie viele Straftäter es doch wagen. Wer mutig genug ist, in sein Innerstes zu schauen, kann sich ändern. Doch das ist harte Arbeit.

Ist es einfacher, in der Zelle seine Zeit abzusitzen?

Ja, denn darüber nachzudenken, was man getan hat, schmerzt. Es ist leichter, die Tat zu leugnen oder die Schuld auf andere zu schieben. Stellen Sie sich vor, ich würde Ihnen sagen: In den nächsten achtzehn Monaten treffen wir uns jede Woche. Jedes Mal sprechen wir über das Schlimmste, was Sie je getan haben, und darüber, wie schlecht Sie sich deswegen fühlen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie sich nicht darauf freuen würden. Ich erinnere mich an einen Mörder, der mir sagte: «Eigentlich war es nicht meine Schuld. Hätte sich der Psychiater besser um mich gekümmert, hätte ich diese schreckliche Tat nicht begangen.» Dieser Mann wollte keine Verantwortung übernehmen. Wenig überraschend tat er sich schwer mit der Therapie.

Wie lange dauert es, bis jemand in der Therapie Fortschritte erzielt?

Wir stellen fest, dass die meisten Patienten mindestens ein Jahr benötigen, bis wir überhaupt richtig mit der Arbeit beginnen können. Zum einen sind viele Täter sehr komplexe Persönlichkeiten mit ernsthaften psychischen Erkrankungen. Zum anderen haben die meisten von ihnen nie wirklich darüber nachgedacht, was in ihren Köpfen vorgeht. Manchmal sind sie kaum in der Lage, ein Gefühl oder einen Gedanken zu erkennen und in Worte zu fassen. Sie müssen das erst lernen. Schnelle Lösungen gibt es nicht. In der Psychiatrie ist es genauso wie in der allgemeinen Medizin: Je kränker jemand ist, desto länger dauert die Behandlung. Manchmal beginnen sich die Täter im Laufe der Therapie richtig schlecht zu fühlen, wenn sie sich ehrlich mit ihrer Tat auseinandersetzen. Es kommt auch vor, dass sie an Suizid denken.

Wie viele Ihrer Patienten bereuen, was sie getan haben?

Fast alle, die sich auf eine Therapie einlassen, empfinden irgendwann tiefe Reue. Das ist das Grauenhafte daran, einen Menschen getötet zu haben: Man kann es nie wiedergutmachen. Selbst wenn man sein Leben lang alles dafür täte – es bliebe ungenügend. Wer ein Leben nimmt, verändert das Gefüge der Welt.

Doch was ist mit jenen, die nicht bereit sind, an sich zu arbeiten?

Das sind die wirklich gefährlichen Täter. Sie behaupten: «Alles ist gut, ich brauche keine Hilfe. Wenn ich rauskomme, werde ich einfach mein Leben weiterleben.» Solche Menschen bleiben ein Risiko, weil sie aus ihrer Haftzeit nichts lernen. Bei ihrer Entlassung sind sie genauso bedrohlich wie zuvor. Deshalb müssen wir versuchen, mit Gewalttätern zu arbeiten, solange sie in Haft sind. Sie bloss einzusperren, verschwendet Ressourcen.

Sie kritisieren, dass die psychische Gesundheit in Grossbritannien und anderen europäischen Ländern bis heute zu kurz komme.

Meine Kollegen und ich arbeiten in einem schwierigen Umfeld, besonders in den Gefängnissen. Die massiven Budgetkürzungen der letzten Jahre haben die Lage verschärft. Nur wenige Gewaltverbrecher erhalten psychiatrische Hilfe, obwohl Investitionen hier langfristig Kosten sparen würden. Es ist wichtig, die Leute von einer besseren Balance zwischen körperlicher und geistiger Gesundheit zu überzeugen.

Machen Sie sich Sorgen, wenn Sie an die Zukunft Ihrer Arbeit denken?

Ich hoffe, dass unsere psychiatrischen Urenkel einmal auf unsere Zeit zurückblicken werden, als sähen sie ins Mittelalter. Dass sie den Kopf darüber schütteln werden, wie viel Mühe und Geld wir in die Herzforschung gesteckt haben, während wir die seelische Gesundheit fast ignorierten. Eine Gesellschaft ist nur so gesund wie der Geist ihrer Menschen.

Aber was antworten Sie dem Vater, der sagt: «Ich will nicht, dass der Mörder meiner Tochter gut behandelt wird. Ich will, dass er leidet und für immer eingesperrt bleibt?»

Natürlich haben Menschen, die von einem Gewaltverbrechen betroffen sind, Rachegedanken. Wir müssten auch diesen Menschen helfen, ihre Wut und ihre Trauer zu bewältigen. Doch es gibt keine langfristigen Unterstützungsprogramme für Angehörige von Mordopfern. Sie haben den schlimmsten Verlust erfahren, den man sich vorstellen kann. Da verstehe ich die Frage: «Gwen, warum hilfst du diesen Verbrechern?»

Und was antworten Sie?

Keine Therapie entschuldigt Gewaltverbrechen. Unser Ziel ist, dass die Täter lernen, ohne Gewalt zu leben. Und wir sind bereit, alles zu tun, was wir können, um sie auf diesem Weg zu begleiten.

Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, in der Gesellschaft sei zu wenig Platz für Vergebung. Müssen wir mehr verzeihen? Sollten wir alles verzeihen?

Es wäre schön, wenn alle einander vergeben könnten. Es gibt einen Grund, warum Vergebung in fast allen Glaubenstraditionen einen hohen Stellenwert hat. Es gibt keine Religion, die das nicht von ihren Gläubigen erwartet. Aber Vergebung ist etwas, das demjenigen gehört, der etwas zu vergeben hat. Es ist ein Geschenk. Es ist nichts, was das Gesetz vorschreiben kann. Nicht alle können und wollen verzeihen. Aber es gibt Hinweise darauf, dass Menschen, die nicht vergeben können, selbst mit ihrer psychischen Gesundheit kämpfen.

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