Sonntag, September 29

Mit dem Justizapparat ist der scheidende Präsident López Obrador immer wieder in Konflikt geraten. Nun hat der Linkspopulist eine weitreichende Reform erlassen: 2025 und 2027 sollen Tausende von Richtern direkt gewählt werden.

Kurz bevor Andrés Manuel López Obrador am 1. Oktober sein Amt an seine politische Ziehtochter Claudia Sheinbaum übergibt, hat er die wohl weitreichendste Reform seiner sechsjährigen Amtszeit vollendet. Dank der neuen Zweidrittelmehrheit des von seiner Bewegung der nationalen Erneuerung (Morena) angeführten Regierungsbündnisses im Kongress konnte der 70-Jährige Mitte September seine lang geplante Justizreform in Gesetzesform giessen.

Nun müssen landesweit Tausende von Richterposten per Direktwahl neu besetzt werden, darunter auch die nun nur noch neun statt wie bis anhin elf Posten am Obersten Gericht. Zwar gibt es Direktwahlen von Richtern in eingeschränktem Masse bereits in Ländern wie den USA und der Schweiz. Auch in Bolivien werden seit 2011 die höchsten Richter vom Volk gewählt. Doch dass Richterposten auf allen Ebenen durch eine Volkswahl bestimmt werden, ist einmalig.

Für López Obrador ist die Reform fundamentaler Bestandteil des Umbaus der mexikanischen Gesellschaft hin zu mehr direkter Bürgerbeteiligung. Nicht die seiner Ansicht nach korrupten Eliten sollen zukünftig über die Besetzung der Richterposten entscheiden, sondern das Volk. «Das ist Demokratie», so der Präsident.

Der Linkspopulist weiss dabei die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich: Laut Umfragen glauben 66 Prozent, dass Richter in Mexiko korrupt sind. Selbst regierungskritische Nichtregierungsorganisationen wie Mexicanos contra la Corrupción y la Impunidad kritisieren das bisherige System: «In unserem Land gilt das Gesetz nicht für alle gleichermassen. Menschen mit wirtschaftlicher oder politischer Macht werden privilegiert behandelt. Unnötig zu erwähnen, wenn es um Personen geht, die hohen politischen Ebenen nahestehen.»

Ineffiziente Justiz und lange Untersuchungshaft

Mexiko plagt eine Gewaltwelle, und über 100 000 Personen gelten als verschwunden. Doch selten führen Ermittlungen der Justiz zu Ergebnissen. Die Straffreiheit liegt bei über 95 Prozent. Gleichzeitig warten rund 90 000 Personen in Untersuchungshaft auf ihren Prozess. Laut dem in diesen Tagen veröffentlichten Bericht der Uno-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen (WGAD) wird die Hälfte von ihnen gesetzeswidrig lange in Haft gehalten.

Bereits 2023 hatte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den mexikanischen Staat verurteilt, weil er zwei Verdächtige 17 Jahre lang in Untersuchungshaft behielt. Die Regierung wurde aufgefordert, diese Praxis zu beenden. Der Uno-Bericht weist auf weitere Mängel im Strafrechtssystem hin, etwa auf die Militarisierung der Sicherheitskräfte, den exzessiven Einsatz von Gewalt bei Festnahmen und den fehlenden Zugang zu qualifizierten Anwälten.

Sosehr López Obrador mit seiner Kritik am Justizsystem also recht hat, hat er in seiner Amtszeit jedoch wenig gegen die Missstände im Strafvollzug, bei den Staatsanwaltschaften oder gegen den weitverbreiteten Nepotismus im Justizsystem unternommen. Zudem trieb er die Militarisierung des Sicherheitsapparates voran und zeigte kein Interesse an Ermittlungen gegen das Militär. Sein Groll richtete sich stattdessen einzig gegen die Richter, vor allem die des Obersten Gerichts, das mehrere seiner Reformvorhaben blockierte.

Sorge vor autoritärem Abgleiten

Dass ihm die Reform nun gelungen ist, liegt an der an den Juniwahlen erreichten Mehrheit im Kongress. Sein Parteienbündnis verfügt im Abgeordnetenhaus nun über die für Verfassungsänderungen nötige Zweidrittelmehrheit. Im Senat fehlte dazu ursprünglich eine Stimme. Überraschend stimmte jedoch ein Senator der rechtskonservativen Oppositionspartei PAN für die Reform. Laut Medienberichten soll er zuvor unter Druck gesetzt worden sein, da gegen seine Familie Ermittlungen laufen.

Solch eine Praxis erinnert viele an die einstige Einheitspartei PRI, die Mexiko im vergangenen Jahrhundert dominierte und mit Korruption überzog. Die Machtfülle von López Obradors Morena-Bewegung, die den Kongress dominiert und in 21 von 32 Gliedstaaten regiert, gleicht zunehmend der des PRI. Dass der Morena zugeneigte Richter bald auch die Justiz dominieren könnten, trieb landesweit Gegner der Reform auf die Strasse. Zudem traten Teile des Justizapparates in einen wochenlangen Streik.

An den Urnen droht Chaos

Noch müssen Einzelheiten über das genaue Wahlverfahren vom Kongress beschlossen werden. Fest steht jedoch, dass die Direktwahl der Richter eine Mammutaufgabe wird. So müssen rund 1600 Richter auf Bundesebene sowie rund 5000 Richter auf lokaler Ebene gewählt werden. Der Wahlprozess soll in einen Urnengang im Juni 2025 und einen in 2027 aufgespalten werden.

Kritiker warnen davor, dass das Wahlvolk von der schieren Menge der Kandidaten überfordert sein wird. Zwischen Dutzenden unbekannter Kandidaten auszuwählen, sei für den Normalbürger schlicht unmöglich, findet auch die «Financial Times». Zumal der Wahlkampf undurchsichtig zu werden droht. So sollen die Kandidaten zu gleichen Teilen Sendezeiten in Radio und Fernsehen erhalten und ihre Wahlprogramme in sozialen Netzwerken vorstellen.

Die Wahl droht zwangsläufig politisiert zu werden, da die von den regierenden Parteien vorgeschlagenen Kandidaten einen deutlichen Vorteil haben dürften, mahnen Kritiker. So warnen auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch vor der Reform, welche «die Unabhängigkeit der Justiz ernsthaft untergraben» und einen Verstoss gegen Menschenrechtsstandards darstellen würde.

Kritik aus den USA und der Wirtschaft

Überraschend deutliche Kritik kam vom amerikanischen Botschafter in Mexiko, Ken Salazar. Demokratien könnten nicht ohne eine starke, unabhängige und nichtkorrupte Justiz funktionieren, sagte der Diplomat Ende August. «Jede Justizreform muss Garantien dafür enthalten, dass die Judikative gestärkt und nichtpolitischen Bedingungen unterworfen wird», so Salazar. Zudem könnten Drogenkartelle durch die Reform Einfluss auf unerfahrene Richter gewinnen, sagte er. Dies ist allerdings bereits Realität in Mexiko.

Die Äusserungen, denen sich auch der kanadische Botschafter anschloss, hält López Obrador für eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Mexikos. Doch auch wichtige amerikanische Medien wie das «Wall Street Journal», Banken und Rating-Agenturen sprachen sich gegen die Reform aus.

Egal kann das der Regierung nicht sein. Mexiko ist mit den USA und Kanada durch das USMCA-Freihandelsabkommen wirtschaftlich eng verknüpft. Die nördlichen Nachbarn glauben, dass die in dem Abkommen festgeschriebene Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtssicherheit durch die Reform beeinträchtigt werden. Unternehmen fürchten, vor Gericht wenig Chancen mit Klagen gegen staatliche Behörden zu haben, wenn der Richter aus dem Umfeld der Regierung stammt.

Zudem plant die Morena-Bewegung mit ihrer Zweidrittelmehrheit auch Kompetenzen der staatlichen Transparenzbehörde und von Aufsichtsbehörden wie im Energiesektor zu beschränken. Allerdings darf es die neue Präsidentin Claudia Sheinbaum mit dem Stutzen von Checks and Balances auch nicht zu bunt treiben, um es sich nicht mit dem wichtigsten Handelspartner USA zu verscherzen. Zumal 2026 Nachverhandlungen des USMCA-Abkommens anstehen.

Ob die Befürchtungen berechtigt sind, ist genauso schwer einzuschätzen wie die Frage, ob sich die Effektivität des Justizsystems durch die Direktwahl der Richter verbessern oder verschlechtern wird. Man wird es abwarten müssen. Immerhin verfügt Mexiko über eine starke Zivilgesellschaft, eine unabhängige Presse und mächtige Unternehmerverbände, die als Gegengewichte zur regierenden Morena-Bewegung fungieren werden.

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