Mittwoch, April 23

Medizinisch gesehen muss Singen weder laut noch schön sein. Wichtig ist, dass es viele Muskeln trainiert und die Lunge weitet. Ein Beitrag aus der Rubrik «Hauptsache, gesund».

Meine Grosstante singt jeden Tag. Volkslieder, Kirchenlieder, möglichst solche mit vielen Strophen. Sie ist schon lange Witwe und redet nicht mehr so viel im Laufe des Tages. Ihr Arzt hatte ihr daher vor vielen Jahren empfohlen, ihre Stimmbänder durch regelmässiges Singen kräftig zu halten.

Die alte Dame nimmt ihre Gesangsübungen sehr ernst. Es kann daher vorkommen, dass sie einen am Telefon unverblümt fragt, was denn «anliege», man habe sie gerade beim Singen gestört. Ihre Stimme ist dabei kräftig und klar und verrät mit keinem Hauch, dass sie schon 95 Jahre alt ist.

Man könnte meinen, meine Grosstante habe einen Trend gesetzt – und das ganz ohne Tiktok. Denn seit der Corona-Pandemie schiessen Therapieangebote mit Stimmübungen für Menschen mit Atemproblemen nach einer Covid-Lungenentzündung oder bei Long Covid wie Pilze aus dem Boden. Auch Patientinnen und Patienten mit Asthma oder anderen Lungenerkrankungen wird Singen nun vermehrt empfohlen.

Ironie des Schicksals: Zu Beginn der Pandemie wurden Chorproben phasenweise verboten, und gemeinschaftliches Singen galt es zu unterlassen. Denn beim Singen stossen Infizierte noch viel mehr Viren aus als beim Reden.

Regelmässiges Singen vergrössert das Lungenvolumen

Doch wie soll das Singen bei Atemproblemen helfen? Es erstaunt auf den ersten Blick: Menschen, die von Atemnot und Enge in der Brust geplagt werden und sich davon sogar bedroht fühlen, die sollen nun tief einatmen und etwas tun, bei dem sie viel Luft benötigen?

Doch es ist absolut plausibel. Singen geschieht nicht in der Lunge, sondern im Kehlkopf. Luft aus der Lunge strömt aus, dadurch geraten die Stimmbänder in Schwingungen, die wir als Töne wahrnehmen.

Beim regelmässigen Singen lernen wir, aktiv auszuatmen und die Luft bewusst zu steuern. Dabei stärken wir diverse Muskeln im Bauch- und Brustraum. All dies hilft Menschen mit Atemproblemen. Egal, was deren Ursache ist.

Klar, es ist nicht zu erwarten, das eine Betroffene ein Jahr später Opernsängerin ist. Aber darum geht es ja auch nicht. Der Alltag soll besser bewältigbar werden.

Long-Covid-Patientinnen oder Asthmatiker berichten nach speziellen Singkursen, dass sie nun wieder ihren Körper besser spüren würden und vor allem wieder Zutrauen zu ihrer Lunge hätten. Und generell weniger Angst. Gerade bei Asthma oder Long Covid sind das wichtige Faktoren, um besser mit der Krankheit umgehen zu können.

Zwar gibt es erst wenige Studien, die Effekte von Singen auf Asthma, Long Covid oder chronisch obstruktive Bronchitis (COPD) untersucht haben. Doch diese lieferten Hinweise darauf, dass Singen das Lungenvolumen erhöhen kann. Durch Hormonausschüttungen verbesserte sich auch die Psyche der Probandinnen und Probanden. Dieser Effekt trat vor allem bei Menschen auf, die in Chören singen. Negative Wirkungen wie eine Verschlechterung der Erkrankung hat man nicht festgestellt.

Mich hat das nun motiviert, dem Beispiel meiner Grosstante zu folgen und regelmässig zu Hause zu singen. Vor dem Schreiben dieses Textes habe ich meine alten Notenhefte aus Chorzeiten hervorgekramt und einfach einmal angefangen. Zugegeben, es klang etwas wacklig. Aber es hat Spass gemacht, und ich fühlte mich freier und offener. Wie einmal ausgelüftet.

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