Sonntag, Oktober 6

Er würde am liebsten für immer Tennis spielen. Doch nun scheint die Karriere des schottischen Olympiasiegers endgültig vorbei zu sein. Noch wartet auf den 37-Jährigen ein letztes Turnier.

Kein anderes Tennisturnier pflegt Tradition und Etikette sorgsamer als Wimbledon. Was also gibt es Grösseres, als einem Sir zu huldigen und ihn zu verabschieden?

Andy Murray wurde im Mai 2019 vom damaligen Prinzen Charles zum Ritter des British Empire geschlagen, nachdem er 2013 als erster britischer Tennisspieler seit Fred Perry 1936 den Titel an der Church Road gewonnen hatte. Murray liess diesem Coup drei Jahre später einen zweiten Titel in Wimbledon folgen. Dazu gewann er 2012 das US Open und zweimal die Goldmedaille im olympischen Einzelturnier.

Wenige Wochen bevor er im Buckingham-Palast für sein Lebenswerk geehrt wurde, schien seine Karriere ein erstes Mal zu Ende. Zwei Tage vor dem Beginn des Australian Open 2019 in Melbourne kündigte Murray vor den Medien unter Tränen den Rücktritt an. Die chronischen Probleme mit der Hüfte zwängen ihn zu einem Eingriff, der seine Laufbahn mit grosser Wahrscheinlichkeit beenden werde, hiess es. Murray sagte damals, er stehe an einem Punkt, an dem es für ihn nicht mehr darum gehe, die Karriere zu retten, sondern darum, künftig ein einigermassen normales Leben führen zu können. Selbst das Anziehen von Socken und Schuhen bereite ihm Schmerzen.

Als Kind wurde er Zeuge eines Massakers an seiner Schule

Seine Hüftprobleme hatten kurz nach der besten Phase seiner Karriere begonnen, als er im Herbst 2016 24 Spiele und fünf Turniere in Folge gewann und damit an die Spitze der Weltrangliste aufstieg. Ein halbes Jahr lang versuchte Murray, die Schmerzen zu ignorieren. Doch nach dem verlorenen Halbfinal in Roland-Garros von 2017 gegen Stan Wawrinka habe er realisiert, dass es so nicht weitergehe. Er unterzog sich einem ersten Eingriff, der aber nicht die erhoffte Linderung brachte.

Man hat Murray bereits mehr als einmal verabschiedet, doch irgendwie kehrte er immer wieder zurück. 2019 am Australian Open war er von seinen Konkurrenten mit einem emotionalen Video tränenreich gewürdigt worden. Doch schon sechs Monate später war er wieder da. Im Oktober 2019 gewann er in Antwerpen im Final gegen Wawrinka seinen 46. Titel auf der ATP-Tour. Es sollte sein letzter gewesen sein.

Murray war zu seiner besten Zeit Teil jenes Quartetts, welches die Männer-Tour zwei Dekaden lang dominiert hatte. Wie Wawrinka hat er drei Major-Titel gewonnen. Dazu führte er das Ranking 2016 und 2017 während 41 Wochen an. Das sind nur fünf Wochen weniger, als der weit erfolgreichere Rafael Nadal damals die Nummer 1 war.

Und ja, Murrays Karriere und sein Leben wurden schon früh von persönlichen und gesundheitlichen Rückschlägen begleitet. In seiner Jugendzeit etwa wurde er Augenzeuge eines Massakers an seiner Schule im schottischen Dunblane, bei dem ein Amokläufer sechzehn Kinder und einen Lehrer erschoss, ehe sich der Täter selber richtete. Mit seinem älteren Bruder Jamie versteckte sich Andy Murray bei diesem Drama unter einem Pult in seinem Klassenzimmer. Später erzählte er, es sei sein Glück gewesen, dass er zu jung gewesen sei, um mitzubekommen, was wirklich geschehen sei.

Murray war gerade in den ersten Jahren seiner Karriere ein stolzer Schotte, der sich auch für die Eigenständigkeit seiner Heimat aussprach. Zu England und den Engländern pflegte er ein zwiespältiges Verhältnis. Als er von den englischen Medien einmal gefragt wurde, wem er denn eigentlich im Fussball die Daumen drücke, antwortete er mit dem ihm eigenen trockenen Humor: All jenen, die gerade gegen England spielten.

Er hätte gerne auch im Mixed gespielt – doch Emma Raducanu zog ihre Zusage zurück

Mittlerweile ist Andy Murray 37 Jahre alt, und er lebt mit seiner Frau und den vier gemeinsamen Kindern in der Nähe von London. Wohl auch deswegen sagte er Anfang Jahr, sein Ziel sei es, heuer noch einmal in Wimbledon anzutreten. Doch beinahe wäre es nun nicht zu dieser Dernière gekommen: Zehn Tage vor dem Beginn der All England Lawn Tennis Championships musste sich Murray am Rücken eine Zyste operativ entfernen lassen, die Nervenschmerzen in seinem rechten Bein verursacht hatte.

Der Eingriff verlief ohne Komplikationen, doch die Genesung beanspruchte mehr Zeit, als Murray und seine Ärzte erwartet hatten. Aus der Einzelkonkurrenz in Wimbledon zog sich Murray deswegen zurück. Er entschied sich gleichzeitig, mit seinem Bruder Jamie im Doppel anzutreten.

Dazu plante er, mit der jungen Britin Emma Raducanu am Mixed-Wettbewerb teilzunehmen. Am Donnerstag hatte die Überraschungssiegerin des US Open 2021 voller Vorfreude gesagt, Murrays Anfrage und die Aussicht, mit ihm auf dem Platz zu stehen, seien eine riesige Ehre für sie. Dann aber zog sie ihre Zusage kurz vor dem ersten Mixed-Match zurück, weil sie ihre Chancen im Einzel nicht beeinträchtigen wollte. Als Murray am Donnerstag mit seinem Bruder im Doppel ausgeschieden war, wurde er auf dem Centre-Court stimmungsvoll verabschiedet. Nicht zum ersten Mal in seiner Karriere.

Und wer weiss schon, ob seine Abkehr diesmal tatsächlich definitiv ist. Auf dem Platz sagte er: «Ich würde gerne für immer Tennis spielen. Ich liebe diesen Sport. Er hat mir so viel gegeben und mich Lektionen gelehrt, die ich für den Rest meines Lebens mitnehmen werde. Doch physisch bin ich einfach nicht mehr bereit, um weiterzumachen.»

Ein letztes Rendez-vous wartet in diesem Sommer noch auf ihn, jenes am Olympiaturnier von Paris. Danach wird ein weiterer der ganz Grossen sein Racket wohl endgültig zur Seite legen.

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