In Slow-TV-Sendungen passiert stundenlang nichts – darin liegt der Erfolg der Formate.
Sieben Stunden. So lange braucht der Zug von Bergen nach Oslo. Er fährt durch 180 Tunnels und hält an 22 Bahnhöfen. Die Strecke zeigt Norwegen von seiner schönsten Seite. Und doch: Sieben Stunden im Zug, das zieht sich schon im echten Leben. Wer sieht sich so etwas also freiwillig im Fernsehen an?
Diese Frage stellten sich 2009 wohl auch die Verantwortlichen des norwegischen Rundfunksenders NRK. Sie planten damals mit der Sendung «Bergensbanen minutt for minutt» ein Experiment. Minute für Minute wird darin die komplette Zugfahrt von Bergen nach Oslo gezeigt – für insgesamt sieben Stunden und sechzehn Minuten. «Wir dachten, das schauen sich ein paar Eisenbahnfreunde an», sagte der NRK-Präsident Thomas Hellum einst in einem Interview. Er irrte sich. Die Einschaltquoten übertrafen alle Erwartungen, mehr als eine Million Zuschauer schalteten ein. Die Sendung ist bis heute Kult. Und sie war der Beginn des modernen Slow-TV-Hypes.
Zwei Jahre später folgte mit «Hurtigruten – minutt for minutt» eine Live-Übertragung der 134 Stunden dauernden Reise der MS «Nordnorge» der norwegischen Küste entlang – von Bergen nach Kirkenes. Die Sendung wurde an einem Juni-Wochenende 2011 ausgestrahlt, und rund die Hälfte aller Norweger schaltete mindestens einmal ein. Beide Sendungen gelten als Meilenstein des Slow TV. Sie lösten landesweit Diskussionen über Langsamkeit, Mediengewohnheiten und Naturerlebnisse aus. Später fanden sie weltweit Nachahmer. Doch was macht die Formate so erfolgreich?
Slow TV ist ein Anachronismus
Slow-TV-Sendungen bieten einen Gegenpart zum heutigen schnelllebigen digitalen Fernsehen. Streaminganbieter wie Netflix fluten den Markt mit Serien. Um nichts zu verpassen und mitreden zu können, muss man ständig auf dem aktuellsten Stand sein. Viele Serien enden bereits nach ein oder zwei Staffeln wieder. Auch in sozialen Netzwerken dominiert eine Reizüberflutung. Die meisten Videos dauern nicht länger als zehn Sekunden. Von den Nutzern wird ständige Aufmerksamkeit gefordert.
Slow TV wirkt dagegen wie ein Anachronismus. Hier geht alles viel gemächlicher zu und her. Statt ständiger Reize gibt es kontinuierliche, ruhige Bilder. Prozesse werden in Echtzeit gezeigt, häufig ohne Schnitt und ohne Kommentar. Sie bieten einen Ort der Ruhe und Entschleunigung. Die Zuschauer können beim belanglosen Inhalt abschalten und sich vom stressigen Alltag erholen. Man muss nicht alles aktiv verfolgen, nebenbei kann der Haushalt erledigt, geputzt oder gekocht werden.
Ein anderes klassisches Beispiel für Slow TV ist das knisternde Kaminfeuer. Es zeigt stundenlang ein brennendes Kaminfeuer, zu Weihnachten jeweils mit entsprechender Musik im Hintergrund. Über die Feiertage wird es für Menschen ohne Kamin jeweils zur Tradition und erreicht in den Netflix-Charts stets Spitzenpositionen.
Das Beispiel veranschaulicht die Popularität von Slow TV: Bei solchen Formaten passiert stundenlang nicht viel, und genau das macht sie so erfolgreich.
Wandernde Elche ziehen Millionen vor den Bildschirm
Die schwedische Erfolgsserie «Den stora älgvandringen» (die grosse Elchwanderung) bestätigt diesen Trend. Im 24-Stunden-Livestream können die Zuschauer im schwedischen Fernsehen die Reise der Elche zu ihren Sommerweiden in Nordschweden verfolgen. Auch hier passiert in der Regel tagelang erst einmal nichts.
Für die Zuschauer ist es ein Spiel mit der Erwartung. Die Tiere lassen auf sich warten. Sobald der erste Elch durchs Bild trottet, ist die Aufruhr in den sozialen Netzwerken gross. Ein Tier wird plötzlich zum Star einer nationalen Primetime.
26 Fernsehkameras begleiteten die Tiere dieses Jahr während ihrer wochenlangen Wanderung auf Schritt und Tritt. Wie sie tauende Wälder durchqueren oder durch Flüsse schwimmen. 478 Stunden Filmmaterial sind entstanden. Das Format ist ein Paradebeispiel dafür, wie Slow TV die Aufmerksamkeit der Zuschauer umlenkt: von Handlung zu Atmosphäre, von Geschwindigkeit zu Geduld, vom Event zur Beobachtung. Und das alles mit grossem Erfolg.
Im vergangenen Jahr schalteten neun Millionen Zuschauer ein. Für dieses Jahr gibt es zwar noch keine offiziellen Zahlen, doch eine achte Staffel für das kommende Jahr hat der Sender bereits bestätigt.
Slow TV ist mehr nur als Fernsehen. In hektischen Zeiten bietet es eine seltene Ruheoase. Nach einem stressigen Tag einem wandernden Elch zuzusehen, während im Hintergrund die Vögel zwitschern, wirkt für viele beruhigender als jede Serie. Und wenn man sich irgendwann an den Elchen sattgesehen hat, kann man einfach umschalten. Oder abschalten.