Verena Müller / für NZZ

Sieghörtners haben ein Haus, zwei jugendliche Töchter und vier Smartphones. Wie geht die Familie mit diesen kleinen Geräten um, die dauernd Aufmerksamkeit verlangen? Und welche Ratschläge haben Sucht- und Medienexperten?

Hoch über dem deutschen Tübingen steht das Haus der Familie Sieghörtner. Es gehört zu einer Gruppe gleicher Häuser: weisse Fassaden, bunte Fahrräder, Kreidezeichnungen und kaum Autos auf der Quartierstrasse davor. Es gibt viel Grün hier, viele Familien und genügend Geld wohl auch.

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Auf dem Balkontisch stehen Getränke und gesunde Snacks. Es ist kein Smartphone zu sehen. Doch genau darüber, über Mobiltelefone, soll nun gesprochen werden. Über die Rolle, die sie in einer Familie einnehmen, die Zeit, die man mit ihnen verbringt, den Nutzen, den sie haben, und den Schaden, den sie anrichten können.

Zwei Wochen ohne Handy

Am Tisch sitzen die Mutter Barbara, Lehrerin an einer Gemeinschaftsschule und einem pädagogischen Fachseminar, der Vater Claus, einst Basketballprofi und nun Leiter einer Grundschule, und die beiden Töchter. Lenia wird bald 18, Annie ist 14. Alle vier besitzen ein eigenes Smartphone. Müssten sie das Gerät mit einem Wort beschreiben, wäre es für Annie ein «Zeitfresser», für Barbara ein «Ablenkungsmanöver», für Claus «nützlich», und für Lenia? Sie schwankt.

«Zum Lernen sollte ich es in ein anderes Zimmer legen, also eine Ablenkung, aber das hat Mama schon gesagt. Vielleicht besser: eine Sicherheit», sagt sie dann. Zu wissen, dass die Eltern nur ein Tippen entfernt seien, sei ein gutes Gefühl. Der Vater Claus nickt, auch ihn beruhigt die Möglichkeit, die Töchter zu erreichen. Das habe er neulich ganz besonders gespürt, als Annie, die jüngere Tochter, für acht Tage ohne Smartphone in ein Sportlager gefahren sei: «Ich hätte gerne gehört, was sie macht und dass alles gut ist.»

Seine Frau sieht das anders: «Ich fand es ehrlich gesagt auch entlastend, nicht rund um die Uhr zu wissen, was Annie macht.» So könne sie Verantwortung abgeben. Und Annie selbst? Sie habe das Smartphone «keine Sekunde vermisst – aber vielleicht nur, weil auch sonst niemand eines hatte».

Die Familienregeln

Annie wird bald die achte Klasse abschliessen. An ihrer Schule ist es verboten, das Smartphone zu benutzen. Sie findet das gut, obwohl manche während der Pausen heimlich doch auf ihre Telefone schauen, auch sie selbst.

Für Lenia, die das Gymnasium besucht, ist das Smartphone auch ein Arbeitsinstrument. Manche bestellen allerdings während des Unterrichts auch einmal Kleider auf Zalando. «Die Lehrer sagen: Wenn ihr wegen des Handys Schulstoff verpasst und darum schlechte Noten schreibt, beeinflusst das eure Zukunft – nicht unsere», sagt Lenia.

Beide Töchter bekamen in der sechsten Klasse ein Smartphone. Drei Regeln haben Sieghörtners seither: Solange die Mädchen minderjährig sind, braucht es für den App-Download das Passwort der Eltern. Ihre Smartphones sind mit keinem Zahlungsmittel verbunden. Und das tägliche gemeinsame Abendessen ist eine Smartphone-freie Zeit. Mit diesen Regeln sind alle vier einverstanden.

Eine Bildschirmzeit-Begrenzung dagegen gibt es bei Sieghörtners nicht. «Die beiden haben viele Freunde, mit denen sie Zeit verbringen, sie haben Hobbys, machen Sport, schreiben gute Noten – da können wir ihnen dieses Vertrauen entgegenbringen», sagt Frau Sieghörtner.

Die Zahlenkombination zum Entsperren der Telefone kennen alle von allen. Geheimnisse gibt es nicht. Die Kinder benutzen das Gerät der Eltern, um rasch etwas nachzuschauen oder die Musik umzustellen. Die Eltern kontrollieren hie und da gemeinsam mit den Töchtern deren Bildschirmzeit. «Wir schauen, wie der Ton in ihren Gruppen-Chats ist, zum Beispiel. Und versuchen durch Gespräche sicherzugehen, dass sich niemand eingeschlichen hat, ein Fremder, der die Kinder online beeinflusst oder sogar belästigt», so die Eltern.

Vier wichtige Punkte

Eva Unternährer forscht an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) zur Mediennutzung von Familien. Bis zum dritten Lebensjahr sollten Kinder laut Unternährer überhaupt keinen Kontakt mit einem Bildschirm haben, spätestens im Primarschulalter sei es dann aber sinnvoll, dass sie den Umgang mit Bildschirmen aller Art lernten. Dabei seien vier Punkte primär zu beachten.

«Die Bildschirmnutzung der Kinder hängt eng mit jener der Eltern zusammen», sagt Unternährer. Sehen die Kinder bei den Eltern, dass das Smartphone eine portable Unterhaltungsstation ist, werden sie es ebenso nutzen. Im besten Fall lernen sie durch das Vorbild der Eltern: «Das Smartphone ist ein praktisches Instrument, das uns den Alltag erleichtern kann.»

Früh sollten Eltern auch diskutieren, welche Gewohnheiten sie als Familie rund um das Smartphone haben möchten. «Die wichtigste Entscheidung: Was ist unsere Normalität? Gibt es bildschirmfreie Zeit, wie etwa das Abendessen? Dann ist Bildschirmzeit die Norm. Oder legen wir Bildschirmzeiten fest? Dann ist es die Norm, in keinen Bildschirm zu schauen.»

Weil Kinder und Jugendliche lernen müssen, Handlungen eigenständig wieder abzuschliessen, sei es wichtig, sie das üben zu lassen – auch mit dem Smartphone. Wo und in welchem Rahmen gibt man ihnen die Gelegenheit dazu?

Den vierten Punkt gilt es immer wieder aufs Neue, als Familie und auch als Einzelperson, zu überdenken: Was passiert neben dem Smartphone- oder Medienkonsum? Hat man Freunde, Hobbys, erbringt man eine gute Leistung in der Schule oder später bei der Arbeit? Macht man Sport? «Solange eine Balance besteht, ist meistens alles im grünen Bereich», sagt Unternährer.

Wohin geht die Zeit?

Weil Vorbilder wichtig sind: Was halten die Sieghörtner-Töchter vom Smartphone-Konsum der Eltern? «Papa braucht manchmal eine Extraeinladung, damit er sein Handy weglegt», sagt Lenia. «Nur wenn ich Zeitung lese», protestiert der Vater. «Und Mama kann mit dem Handy halt nicht multitasken», fährt die älteste Tochter fort. Ihre Mutter sei zwar immer erreichbar, wenn sie sie brauche, greife aber selten von sich aus zum Smartphone. «Aber wenn sie es mal in der Hand hält, dann ist sie weg. Dann muss man ganz explizit sagen: ‹Mama, ich sage dir jetzt etwas, und es ist wichtig, dass du zuhörst.›»

Frau Sieghörtner zuckt mit den Schultern. Das liege daran, dass sie sich mit ihren 51 Jahren nun den Luxus gönne, nicht mehr zu multitasken. Wenn sie am Smartphone Nachrichten beantworte oder etwas lese, dann mit vollem Fokus. Dafür lege sie es danach auch wieder komplett weg.

Die Bildschirmzeit der Töchter und jene des Vaters liegen bei durchschnittlich drei Stunden pro Tag. «Manchmal sind es vier, dann erschrecke ich mich sehr», sagt Lenia. Bei der Mutter Barbara sind es meistens maximal zwei Stunden. Während Herr Sieghörtner viel Zeit mit News-Apps verbringt, heisst der Spitzenreiter bei den Töchtern Snapchat, eine Chat-App, auf der sie sich mit ihren Freunden austauschen.

Dass die App etwa den Standort mit den Freunden teilt, findet die Mutter ungesund: «Es ist wie Stalking.» Annie schüttelt den Kopf: «Mama, das sind doch meine Freunde, die sollen wissen, wo ich bin.» Ohne Snapchat, sagen die Töchter, wären sie von manchen Freundschaften gar nicht Teil, weil einfach zu viel digital passiere.

Annie telefoniert auch viel und hört, wie die Mutter und die Schwester, Musik auf Spotify. Bei Lenia kommen Instagram und Pinterest dazu. Auf Instagram kann man sich Bilder und Videos von Freunden ebenso wie solche von Fremden anschauen. Pinterest funktioniert wie eine digitale Pinnwand: Sieht man in den Weiten des Webs etwas Interessantes, kann man es dort anpinnen – und sich auch die Entdeckungen der anderen anschauen.

«Instagram ist Unterhaltung, und bei manchen Influencern gibt es gute Infos», sagt Lenia. Informationen aus dem Internet besprechen die Töchter am Abendbrottisch auch einmal mit den Eltern. Sie wissen: Vieles ist mit Vorsicht zu geniessen.

Ab und an schauen der Vater Claus Sieghörtner und seine Frau in die Gruppen-Chats der Töchter, um sicherzugehen, dass der Ton dort respektvoll ist und niemand versucht, den Töchtern zu schaden.

Nachdem die Bildschirmzeiten und die App-Nutzungen angeschaut wurden, bleibt das Smartphone der älteren Tochter auf dem Tisch. Hie und da fällt ihr Blick darauf, bis es der Mutter reicht. «Leg das jetzt weg», sagt sie, und die Tochter gehorcht. Das sei auch richtig so, sagen beide Töchter: Bei Gesprächen und Treffen mit Freunden habe das Smartphone auf dem Tisch nichts zu suchen.

«Manchmal brauche ich das Handy aber, um zu chillen», sagt Lenia. Dann lege sie sich auf ihr Bett, höre Musik und scrolle durch irgendwelche Inhalte. «Das entspannt mich.» Manchmal sei es einfacher, sich mit dem Smartphone auseinanderzusetzen als mit der Familie. Vielleicht, weil man sich einfach nur berieseln lassen kann.

Tiktok gibt es nicht

Eine App gibt es auf keinem der Telefone der Sieghörtners: Tiktok. «Die Falschinformationen, die Unterwanderung durch die Rechten – Tiktok ist mir zu unkontrollierbar, zu gefährlich», sagt die Mutter. Während Tiktok bei Annies 14-jährigen Freunden noch kein Thema ist, haben alle von Lenias Freunden die App. «Leute mit Tiktok sind so schnell über alles informiert. Dann heisst es schon manchmal: Lenia hat’s mal wieder nicht mitgekriegt, die hat halt kein Tiktok. Es fühlt sich dann schon so an, als würde mir etwas fehlen.»

Bald wird Lenia 18, dann kann sie sich alle Apps auf ihrem Handy selber herunterladen – auch Tiktok. «Aber ganz ehrlich: Ich weiss nicht, ob ich es überhaupt will. Wenn ich bei meinen Freundinnen eine Pause lang draufschaue, merke ich schon, wie sehr es einen reinzieht. Aber ich investiere meine Zeit lieber in anderes.» Die Mutter lächelt.

«Wenn sich jemand in der digitalen Welt verliert und eine Sucht entwickelt, dann ist nicht nur Tiktok dafür verantwortlich», sagt Martin Meyer, Oberarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen der UPK. Meyer beschäftigt sich mit Verhaltenssüchten, dazu gehört auch die Smartphone-Abhängigkeit. Festzustellen, ob der Smartphone-Konsum eines Jugendlichen problematisch sei, sei allerdings kompliziert.

Einige Fragen können den Weg weisen: Wozu werden die Geräte benutzt? Verbindet man sich damit aktiv mit anderen, oder lässt man sich nur passiv berieseln? Zieht mich das Smartphone aus einer eigentlich angenehmen Situation heraus, oder will ich aus einer Situation raus und nutze dafür mein Smartphone?

«Kinder und Jugendliche sollten verschiedene Strategien zur Regulierung ihrer Emotionen lernen», sagt Meyer. Eltern sollte bewusst sein: Benutzen sie das Smartphone, um ihre quengelnden kleinen Kinder ruhigzustellen, werden diese Kinder als Jugendliche viel eher zum Smartphone greifen. Das müsse nicht zu einer Sucht führen, sagt Meyer, aber es führe zu einem erlernten Verhalten. Konkret: zu einem höheren Smartphone-Konsum.

«Ich erinnere manchmal gerne an ‹Momo› von Michael Ende. An die grauen Herren, die mit ihren Zigaretten die Zeit wegrauchen. Besonders das Smartphone ist für mich die Reinkarnation dieser Figuren», sagt Meyer. Alle Mitglieder einer Familie müssen sich darum immer wieder aktiv fragen: Wofür will ich meine Zeit aufwenden? Um das Verhalten danach entsprechend anzupassen, braucht es erlernte Medienkompetenz.

Meyer sagt, er staune immer wieder, «dass wir als Gesellschaft zwar sogar eine Veloprüfung verlangen von den Kindern, ihnen aber ohne Zögern ein Smartphone in die Hand drücken. Ein Gerät, das heute so designt wird, dass es Abhängigkeiten schafft.» Da müsste man auch politisch ansetzen. Unternährer sagt: «Viele Jugendliche sind froh um Regulation von aussen. Sie begrüssen meistens auch ein Smartphone-Verbot an Schulen.» Auch Lenia und Annie Sieghörtner finden es gut, wenn Smartphones an Grundschulen verboten sind.

Geheimtrick Spielstrasse

Sieghörtners sind ein Paradebeispiel. Als Pädagogen sind die Eltern im Umgang mit Kindern und Jugendlichen professionell geschult. Ihr sozioökonomischer Status erlaubt der Familie einen komfortablen Alltag und eine produktive Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Medienkonsum.

Das Geheimnis des gesunden Smartphone-Umgangs ihrer Kinder sehen die Eltern denn auch nicht primär in ihrer Erziehung. «Das haben wir wohl auch der Spielstrasse zu verdanken», sagt Frau Sieghörtner. Die Spielstrasse ist eine heile Welt, mit Teer ausgelegt, mit bunten Kreidestiften bemalt. «Jetzt sind wir weniger draussen, aber früher waren wir jeden Abend nach der Schule mit den anderen Kindern auf der Strasse. Niemand hatte dort das Handy dabei», sagt Annie. Die Spielstrasse, das ist die ruhige Quartierstrasse, an deren Ende Sieghörtners wohnen. Sie zeigt, wie frühe Gewohnheiten ein Leben nachhaltig prägen. Und wie gross auch der Einfluss äusserer Umstände sein kann.

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