Sonntag, Oktober 6

Kein anderes Gericht löst bei unserem Autor so viel Italien-Fernweh aus, wie die Seeigel-Pasta. Nicht nur ist die Zubereitung kinderleicht, auch verlangt das Rezept nach nur fünf Zutaten.

Müsste ich den Prototyp eines Sizilianers beschreiben, könnte es nur Manfredi sein. Ein Kerl von einem Mann, dichtes Haupt- wie auch Brusthaar, wenn auch mittlerweile angegraut. Als ich den Spross einer angesehenen Familie aus Palermo vor 25 Jahren kennenlernte, war es noch tiefschwarz. Und Manfredi einige Kilo leichter. Natürlich der Lieblingsmensch seiner Mama (Welcher Italiener ist das nicht?) und gefühlt der restlichen Bevölkerung Palermos – vor allem der weiblichen. Vermutlich der begehrteste Junggeselle der Stadt, begeisterte er die Damen mit seiner Eloquenz, seinem Humor und seinen Kochkünsten. Aber auch mit seinen tadellosen Manieren.

Ausser Manfredi fährt Auto. Da ist er zu sprachlichen Entgleisungen fähig (samt den dazugehörenden Gesten), die mir regelmässig die Fremdschamröte ins Gesicht treiben. Insbesondere dann, wenn ich neben ihm in seinem Audi sitze, er mit zweihundertvierzig Sachen über die Autobahn brettert und denjenigen, die ihn mit ihrer blossen Existenz auf der Schnellstrasse daran hindern wollen, ausdrucksstark klarmacht, dass er es eilig hat. Sehr eilig sogar. Denn ab heute ist die Seeigel-Saison wieder eröffnet, das Einsammeln der schwarzen Stacheltiere ist wieder für einige Monate erlaubt. «Riccardo, wir müssen die Ersten sein an meinem Lieblings-Tauchort.» Er sagt das mit einer Bestimmtheit, die keine Widerrede duldet und selbst Verkehrsregeln zu freundlichen Empfehlungen herabstuft.

Die Seeigel-Saison ist kurz, man muss schnell sein

Am Hafen wartet schon ein Mitarbeiter Manfredis (er hat das kleine Olivenöl-Unternehmen seiner Familie zum bedeutendsten der Insel aufgebaut). Das Gommone des Padrone ist schon bereit. Wobei «Gommone» – so heissen Gummiboote in Italien – dem schnittigen Kahn nicht wirklich gerecht wird. Ich sehe von hinten nur zwei riesige Motoren, leise im Leerlauf stotternd verdecken sie fast den Blick auf das langgezogene Boot. Kaum sind wir aus dem Hafen getuckert, heisst es: Festhalten! Manfredi gibt Gas. So müssen sich Astronauten beim Start in ihrer Kapsel fühlen. Aber wer Auto fährt wie Manfredi, den halten auch einige Wellen nicht von Vollgas ab.

Kurz vor der Isola delle Femmine, einer winzigen, steinigen Insel, lassen wir den Anker hinunter und springen mit Maske, Schnorchel, Messer und einem Netzbeutel ausgerüstet ins kristallklare Wasser. Der Grund ist übersät mit grossen Seeigeln, mit jedem Tauchgang sammeln wir ein Dutzend davon ein und werfen sie ins Boot. Beim Essen von Seeigeln gilt dasselbe wie bei weissen Trüffeln. Nur ein-, zweimal im Jahr, dafür dann richtig. Noch auf dem Gommone schneidet Manfredi einige in der Mitte entzwei, und wir schaben uns das leuchtend orange Innere, die Keimdrüsen, auf die Zunge. Es schmeckt wie den Ozean austrinken.

Der Fischhändler besorgt sie nur auf Bestellung

Wir brausen zurück an die Küste, es gibt ein kleines Restaurant dort, direkt am Wasser, geführt von zwei Schwestern. Natürlich sind sie hocherfreut, Manfredi zu sehen. «Le sorelle sono meravigliose!» Er muss es wissen.

Die mehreren Dutzend Seeigel laden wir in der Küche ab und bestellen eine Flasche Carricante, ein spritziger, mineralischer Weisswein mit Zitrusnoten. Und freuen uns auf das Mittagessen, die Stacheltiere werden es zur Pasta con i ricci di mare veredeln.

Ich spienzle in die Küche. Einige Male schon habe ich das Gericht daheim zubereitet, auch wenn die Beschaffung der stachligen Kugeln nicht gleich einfach ist wie mit Gamberi oder anderen Meeresfrüchten. Weil die Tiere wirklich sehr frisch sein sollen.

Wie bei kaum einem anderen Gericht ist hier die Frische der Hauptzutat entscheidend über den Einzug in den Geschmacks-Olymp oder den Absturz in muffige Fischgründe. Deshalb besorgt der Fischhändler sie nur, wenn er weiss, dass er sie auch loswird. Das heisst, man muss sie vorbestellen. Das ist dann schon der grösste Teil der Arbeit; nicht nur ist die Zubereitung kinderleicht, auch verlangt das Rezept nach nur fünf Zutaten.

Hier geht’s zum Rezept:

Der Koch schneidet die Tiere mit einer besonderen Zange, der Taglia ricci, über einer Schüssel auf und fängt mit dieser das herauslaufende Wasser auf. In eine kleinere Schüssel löffelt er die hellfarbenen Seeigel-Keimdrüsen, sie werden erst zum Schluss benötigt. Die Spaghetti sind schon bald al dente, in einer weiten, flachen Pfanne wird nicht zu knapp Olivenöl langsam erhitzt. Eine ungeschälte, gequetschte Knoblauchzehe sowie sehr fein geschnittener Peperoncino dürfen sich auch darin miterwärmen. Dann wirft der Koch noch etwas sehr fein gehackten Prezzemolo dazu und gibt vom aufgefangenen Seeigel-Wasser löffelweise hinein.

Erst danach wird alles kurz auf hoher Flamme aufgekocht. Die Knoblauchzehe muss nun den aromatischen Sud verlassen. Jetzt die noch einen Tick zu harten Spaghetti in die Pfanne, sie garen in der aromatischen Flüssigkeit auf den Punkt und saugen sich dabei mit deren Aroma voll. Kurz vor dem Anrichten kommt die korallenfarbige Seeigel-Pulpe dazu, noch einige Male schwenken, und ab auf die vorgewärmten Teller damit. Darauf noch etwas frischen Prezzemolo, Zitronenabrieb und noch einmal einige grosszügige Löffel Seeigel, wir waren ja fleissig beim Aufsammeln.

Wir essen auf der Terrasse über dem azurblauen Meer, die Wellen gluckern, und so tut es der Carricante in unseren Gläsern beim Nachschenken auch. Unser angeregtes Gespräch verstummt, als die Teller vor uns stehen, einen unfassbar köstlichen Duft verströmend. Die Emulsion aus Seeigel, Olivenöl und der Flüssigkeit aus dem Innern der Tiere schmiegt sich um jeden einzelnen Spaghetto wie der Hermès-Cashmere-Schal um die Schultern der Liebsten. Dieses Gericht verdient es, dass man an nichts anderes mehr denkt und schon gar nicht weiter redet. Was folgt, ist die Mutter allen Schweigens, das Urschweigen, dem jede besinnliche Stille der Menschheitsgeschichte zugrunde liegt. Vor allem dann, wenn es um Essen geht, an das man für immer mit grösster Hingabe zurückdenkt.

Richi Kägi ist Autor und Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Er isst jeden Tag Pasta, mit Seeigel nur sehr selten. Und diese nur in Italien, am Meer. Seine Rezepte veröffentlicht er auf homemade.ch und richardkaegi.ch, Instagram @richifoodscout.

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