Samstag, Oktober 5

Kent Nagano setzt mit Concerto Köln und dem Dresdner Festspielorchester die Erkundung von Wagners «Ring des Nibelungen» im Originalklang fort. Die historischen Spiel- und Gesangstechniken kommen der «Walküre» besonders zugute.

Sie ist eine musikalische Sensation, diese konzertante Aufführung von Richard Wagners «Walküre» – hier darf man das viel strapazierte Wort wirklich einmal guten Gewissens gebrauchen. Anfang Mai hat diese besondere Produktion bereits das Publikum in der Hamburger Elbphilharmonie begeistert, Ende August wird sie nun in derselben Besetzung und unter der Leitung von Kent Nagano am Lucerne Festival zu erleben sein. Und so wie hier hat man das Stück tatsächlich noch nie erlebt: Das Dresdner Festspielorchester und Concerto Köln – für das Projekt zu einem Ensemble vereint – spielen Wagners Musik nämlich im Klanggewand der Entstehungszeit. Und das tönt in vieler Hinsicht anders, als man es gewohnt ist.

Die Musikerinnen und Musiker nutzen historische Blasinstrumente, sie streichen vorwiegend auf Darmsaiten, spielen auf einem Stimmton von 435 Hertz, also etwas tiefer als die meisten modernen Orchester. Das alles verändert den Klang. Er ist durchsichtig, lässt den Eigencharakter der Bläser hervortreten und wirkt farbiger, manchmal aber auch rauer. Und nicht zuletzt verändert sich die Balance. Gerade weil Nagano viele Piano-Schattierungen formt, erscheint das Orchester unter seiner Leitung nicht mehr wie ein instrumentaler Riesenwurm, der die Solisten zu verschlingen droht; vielmehr wie ein Partner, der sich an die Vokalstimmen anschmiegt, der ihre Aussagen bestärkt und kommentiert – und der ihnen ermöglicht, den Fluss der Sprache zu entfalten.

Immer im Flow

«Das ist grossartig», schwärmt die Sopranistin Sarah Wegener, die Darstellerin der Sieglinde in der Produktion. «Wenn alles so ineinandergreift, hat man nie das Gefühl, dass man kämpfen müsste. Wir gestalten die Musik gemeinsam mit dem Orchester, so entsteht ein Flow, der alle elektrisiert.» Gerade Wegener demonstriert auf der Bühne eindrücklich, dass, anders als in vielen Wagner-Produktionen, keine Übertitel nötig sind, um den Text der Oper verfolgen zu können. Die gute Verständlichkeit ist das Resultat eines intensiven Coachings.

Bei «The Wagner Cycles», einem Projekt der Dresdner Musikfestspiele, dessen Aufführungen sich bis ins Jahr 2026 erstrecken und am Ende alle vier Teile aus dem «Ring des Nibelungen» umfassen sollen, werden die Sängerinnen und Sänger von einem wissenschaftlichen Expertenteam begleitet und vorbereitet. Zu diesem Team gehört etwa die Linguistin und Phonetikerin Ursula Hirschfeld. «Sie hat oft darauf bestanden, dass ich die Wörter deutlicher als üblich voneinander trenne», erzählt Sarah Wegener. «Etwa bei der Frage ‹Schläfst du, Gast?› im ersten Akt der ‹Walküre›, mit der Sieglinde Siegmund anspricht. Da müssen der End- und der Anfangskonsonant, das ‹t› und das ‹d›, klar gegeneinander abgesetzt sein. Damit es nicht verschleift und wie ‹Schläfsdu› klingt.»

Die plastische Textgestaltung verschärfe die Durchschlagskraft, erklärt Wegener. «Gerade an dramatischen Stellen, an denen man dazu tendiert, mehr Klang zu geben, ist das eine enorme Hilfe. Indem man den Text deutlicher artikuliert, gewinnt auch die Stimme an Grösse. Das ist wirklich spannend.» Natürlich gibt es auch in dieser Version der «Walküre» oft ein breit strömendes Legato, das Sarah Wegener mit ihrem sinnlichen Timbre und einer breiten Palette an Nuancen füllt, darunter viele Non-Vibrato-Farben. Aber die Ausdruckspalette umfasst hier auch noch andere Arten der Gestaltung.

Gesang und dramatische Rede

«Als Sieglinde im dritten Aufzug völlig verzweifelt ist und Brünnhilde anfleht, sie zu töten, mit dem Satz ‹Stosse dein Schwert mir ins Herz!›, da werden die beiden letzten Worte ‹ins Herz› nicht mehr gesungen, sondern gerufen», verrät Wegener. Diese Erweiterung des sängerischen Ausdrucksspektrums um gesprochene Sprache mag manchen eingefleischten Wagnerianer irritieren. Für den Komponisten selbst war sie jedoch selbstverständlich, wie der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf aus der Expertengruppe der «Wagner Cycles» erklärt. «Es gibt eine Reihe von Aussagen in Wagners eigenen Schriften, aber auch aus seinem Umfeld, an denen wir uns orientieren können, wenn wir versuchen, die Rahmenbedingungen seiner Musik zu rekonstruieren.» Eine der zentralen Quellen ist das Lehrwerk «Deutscher Gesangs-Unterricht» von Julius Hey, Wagners gesangspädagogischem Berater, der auch mit dem ersten Darsteller des Siegfried in Bayreuth geprobt hat.

«Der erste Band dieses Lehrwerks beschäftigt sich ausschliesslich damit, eine gute Artikulation der deutschen Sprache zu trainieren. Weil der Gesang seine Intensität, seine Ausdruckskraft und seine Färbung aus der genauen Verwirklichung der Sprache entfalten soll», erläutert Seedorf. «In einem Schreiben an König Ludwig II. hat Wagner betont, dass sich der deutsche Gesang seiner Vorstellung nach als ‹energisch sprechender Akzent› zu erkennen geben soll – abgesetzt von dem, was er den ‹italienischen langgedehnten Vokalismus› nannte.» Wagner hat sich also besonders deutlich geformte Konsonanten gewünscht in einem Gesang, der «ganz vorzüglich für den dramatischen Vortrag geeignet sein» möge.

Um dieser Vorstellung in den Aufführungen der «Walküre» möglichst nahe zu kommen, hat das wissenschaftliche Team die damalige Herangehensweise nachgestellt und mit den Sängerinnen und Sängern ebenfalls zunächst intensiv an der Sprache gearbeitet. «Meine Aufgabe war es, mit ihnen herauszufinden, wie nahe der Gesang an den rednerischen Ausdruck gekoppelt ist», so erinnert sich Seedorf. Seedorfs Arbeit und die seiner Kollegen hat in engem Austausch mit Kent Nagano stattgefunden. Ein fruchtbarer Prozess, bei dem die Vorschläge aus der Wissenschaft immer Gehör gefunden hätten «Mich hat das sehr beeindruckt, wie offen und neugierig Nagano sich darauf eingelassen hat», betont Seedorf. «Man musste ihm argumentativ natürlich etwas anbieten – aber dann hat er gerne Neues ausprobiert.»

Reduzierte Lautstärke

Nagano sei von Anfang an sehr darauf bedacht gewesen, die Singstimmen durchzulassen und nie unter den Orchestermassen zu begraben. «Selbst die Fortissimo-Passagen in den Blechbläsern begreift er nicht als Lautstärkebefehl, sondern als Aufforderung zu mehr Intensität.» Dass ein differenzierter Umgang mit der Lautstärke Wagners eigenen Vorstellungen entspreche, lasse sich aus verschiedenen Quellen ableiten, wie Seedorf erklärt. «Wagner hat ja einige Aufführungen seiner Werke selbst geleitet oder deren Einstudierung begleitet. Und wir wissen etwa vom ‹Tristan›, aber auch vom ‹Ring› in Bayreuth, dass er die Dynamik oft reduziert hat, damit der Gesang die erkennbare Hauptstimme bleibt.»

Aus der engen Kooperation von wissenschaftlicher Arbeit und musikalischer Praxis erwächst bei «The Wagner Cycles» auf diese Weise ein ganz eigener Zugang. Durch ihn wirken Wagners Dramen, wie schon 2023 beim «Rheingold» und jetzt im Fall der «Walküre», sehr viel transparenter, auch intimer und dadurch emotional noch packender. Sie entfalten ihre mitreissende Kraft aus der Nahbarkeit, aus dem Reichtum an Nuancen – und weniger aus der schieren Überwältigung, wie man es aus vielen anderen Aufführungen kennt.

Der Sopranistin Sarah Wegener, für die Sieglinde ihre erste grosse Wagner-Partie ist, kommt dieser Ansatz sehr entgegen. «Mir ging es schon immer darum, dass man den Text wirklich versteht und möglichst viele Farben findet, um den Ausdruck der Musik zu transportieren. Dass das in einer Wagner-Oper auch möglich ist, finde ich genial!»

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