Reuters
Seit zwei Monaten herrscht im Gliedstaat Sinaloa Ausnahmezustand, mindestens 400 Personen wurden bereits ermordet. Ein Besuch in der Hauptstadt Culiacán, wo man lernt, mit dem täglichen Horror zu leben.
«Ich lege mein Schicksal in deine Hände, danke für alles, was du mir gegeben hast.» Mit Inbrunst besingen die älteren Herren der Band Los Paseantes de Sinaloa den Lokalheiligen Jesus Malverde, der Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt haben soll und heute als Glücksbringer der Drogengangster gilt. Nun möge er ihnen in der derzeitigen Krise beistehen. An der Basstrommel hängt ein Schild: Gegen eine kleine Spende darf man sich ein Lied wünschen.
Seit vor zwei Monaten die Gewalt ausgebrochen sei, werde die Band nicht mehr gebucht, sagt der Bassist Alejandro Avitia Cuén. Denn Events und Feiern sind aus Sicherheitsgründen abgesagt. Statt auf Familienfesten wie zum Día de los Muertos, dem Gedenktag für die Verstorbenen Anfang November, spielten sie nun hier auf den Strassen im Zentrum von Culiacán. Oft komme er nur mit 400 Pesos, etwa 20 Dollar, nach Hause. So könne es nicht weitergehen. Unterdessen kreist ein Helikopter der mexikanischen Marine zu den Klängen der Drogenballade über der Kreuzung.
Die Sonne geht unter, und ausser den schwarz vermummten Soldaten, die mit ihren dunklen Pick-ups durch die Strassen patrouillieren, ist niemand zu sehen. Am Día de los Muertos seien die Familien direkt von den Friedhöfen nach Hause gegangen, erzählt der Lokalreporter Iván Medina von der Zeitung «El Sol de Sinaloa», und die sonst immer gut besuchten Hotels sind trotz Sonderrabatten leer, die meisten Restaurants schliessen früh.
Es ist Samstag, und der Klub Dorados de Sinaloa, bei dem einst Pep Guardiola seine Spielerkarriere beendete und den später der Fussball-Weltmeister Diego Maradona trainierte, hat heute ein Heimspiel. Gespielt wird aber aus Sicherheitsgründen im 1600 Kilometer entfernten Tijuana.
Immerhin sei es das erste Wochenende ohne Tote seit dem Ausbruch der Kämpfe am 9. September, sagt Iván, der Reporter. Seit damals sind im ganzen Gliedstaat rund 400 Menschen auf zum Teil bestialische Weise getötet worden. Macht die Ruhe an diesem Wochenende Hoffnung auf ein Ende der Gewalt? «Jeder Krieg hat mal eine Waffenruhe», sagt Iváns Fahrer Alfredo Quintero.
Wurde El Mayo entführt?
Am nächsten Morgen, einem Sonntag, sind wir am nordwestlichen Stadtrand von Culiacán unterwegs. Campestres bestimmen hier das Bild – meist von hohen Mauern umgebene Gebäude, die als Wochenendhäuser oder für Veranstaltungen genutzt werden. Ein Trupp Soldaten hält das Reporterauto an. Iván muss sich ausweisen, bevor er den Klub Huertos del Pedregal von aussen fotografieren darf. Hier begann am 25. Juli die Implosion der wohl mächtigsten Drogenbande der Welt.
Was genau sich an jenem Tag hinter den hohen Mauern abgespielt hat, ist unklar. In einem Brief, den sein Anwalt im August in den USA veröffentlichte, behauptet El Mayo Zambada, der 76-jährige Chef des Sinaloa-Kartells, er sei hierhergebeten worden, um einen Streit zwischen dem Gouverneur und dessen politischem Gegner zu schlichten. Als er den Klub betreten habe, seien seine Leibwächter erschossen, er selbst gefesselt und auf die Ladefläche eines Pick-ups gelegt worden.
Wir fahren die Strecke zu dem Flugfeld nach, von dem aus El Mayo an jenem Tag in die USA ausgeflogen worden sein soll. Die Asphaltstrasse führt durch Dörfer und an Feldern mit Tomaten, Mais, Bohnen und Zwiebeln entlang. Man überquert eine Autobahn. Der Pick-up fuhr damals wohl über Nebenstrassen oder quer über die Felder, vermuten die Reporter. Auf der Hauptstrasse wäre es jedenfalls zu riskant gewesen.
Nach 16 Kilometern erreichen wir Campo Berlín, eine der unzähligen Pisten in der Region, von denen kleine Flugzeuge starten, um Insektizide zu versprühen. Oder um Drogen zu transportieren? Iván zuckt mit den Schultern. Zur Überraschung der Reporter sind keine Soldaten bei den Hallen zu sehen. Schnell macht Iván ein paar Fotos, dann springt er ins Auto. Jugendliche, die er auf dem Weg gesehen habe, könnten Späher der Drogenbanden sein, meint er.
Ob das Flugzeug, mit dem El Mayo am Abend des 25. Juli im amerikanischen Gliedstaat Texas landete, tatsächlich hier gestartet war, ist ebenso unklar wie die Identität des Piloten. An Bord der Maschine befand sich jedenfalls einer der vier Söhne des in den USA zu lebenslanger Haft verurteilten Drogenhändlers Joaquín El Chapo Guzmán, des ehemaligen Kompagnons von El Mayo. Er sei von Chapos Sohn verraten und an die amerikanische Justiz ausgeliefert worden, behauptet El Mayo.
Der Drogenbaron soll sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit El Chapos vier Söhnen, den Chapitos, über das Geschäftsmodell des Kartells gestritten haben. So sollen die Chapitos gegen seinen Willen den Handel mit Fentanyl aufgenommen haben, einer Droge, die allein in den USA jährlich 75 000 Todesopfer fordert. El Mayos mysteriöse Reise in die USA habe das Kartell im ersten Moment führungslos gemacht, so erklären Experten die seltsame Ruhe in den Wochen danach. Doch am 9. September brach der gnadenlose Kampf zwischen den Clans der Mayos und der Chapos aus.
Ein Karikaturist skizziert das Grauen
Seit er denken könne, sei Gewalt in Sinaloa an der Tagesordnung, sagt der Karikaturist Ricardo Sánchez, der seine Zeichnungen unter dem Namen Bobadilla in zwei Lokalzeitungen und einem landesweit erscheinenden politischen Satiremagazin veröffentlicht. Auf dem Weg in die Disco hätten Vermummte einem früher schon einmal eine Maschinenpistole ins Gesicht gehalten. Und auf Partys hätten Revolver und Kokain herumgelegen.
Das Bürgertum von Culiacán habe die Drogengangster bis in die achtziger Jahre für Bauerntölpel gehalten, erzählt Bobadilla. Doch dann habe das Drogengeld nach und nach alles infiltriert. Inzwischen habe praktisch jeder Einwohner direkt oder indirekt mit dem organisierten Verbrechen zu tun, was den Reichtum Culiacáns erkläre. Manche nennen es das «Dubai Mexikos», wegen der vielen Luxusautos. Derzeit blieben die jedoch in der Garage, da die Gangs viele Autos klauten, sagt Bobadilla. Er selbst fahre Fahrrad, das sei stressfreier.
Bis 2008, sagt er, habe «paz narca» geherrscht, der Frieden des Kartells: Etwa ein Toter pro Tag, meist an der Peripherie, das war normal und störte niemanden. Doch dann spaltete sich der mächtige Beltran-Clan vom Sinaloa-Kartell ab, und plötzlich fand man Leichen, die gevierteilt oder an Brücken aufgehängt waren, ebenso wie abgetrennte Köpfe, die als Warnung für die Gegner mitten in der Stadt in abgestellten Kühlboxen lagen. Eines der Opfer der damaligen Gewaltwelle war sein Bruder. Auftragskiller verwechselten ihn mit einem Drogengangster und erschossen ihn.
Auftragskiller gehören für Bobadilla noch immer zum Alltag. El Ñacas y El Tacuachi, «der Schlag-ins-Gesicht» und «der nutzlose Kleine», heisst das von ihm gezeichnete Killerduo. Die beiden würden immer gut durchs Leben kommen, auch wenn sie mal scheitern und ihr Opfer nicht töten. Dann besuchen sie es halt im Spital und töten es dort. Auch anderen Figuren widmet er Comicserien. Da gibt es die alleinerziehende Mutter Yoyis, ein Ehepaar voller Probleme (Épale Pariente) oder die Streifenpolizisten, Los Cochipolicías, die im Grunde Tiere sind, nämlich Schweine und Ratten – «weil sie so korrupt sind».
Mit den blutigen Kämpfen des «Culiacanazo» im Jahr 2019, als Sicherheitskräfte vergeblich versuchten, Chapos Sohn Ovidio festzunehmen, sei ihm klargeworden, über welche Macht das Sinaloa-Kartell verfüge, sagt Bobadilla. Innerhalb von Minuten hätten die Drogensoldaten damals ihr Kriegsarsenal auf die Strasse gebracht, etwa gepanzerte Pick-ups mit auf der Ladefläche montierten Maschinengewehren vom Kaliber .50.
Wie man unter solchen Bedingungen leben könne? Viele hätten sich daran gewöhnt, andere seien sogar stolz darauf, dass El Chapo Sinaloa weltberühmt gemacht habe, meint Bobadilla. Und dann sei da noch das Geld. Die Narco-Terroristen hätten keine Ideologie, es gehe ihnen nicht um El Mayo oder El Chapo, sondern um schöne Frauen, dicke Autos und vor allem um viel Geld. «Wir zahlen in Culiacán jetzt den Preis dafür, dass wir eine nach Geld süchtige Gesellschaft sind», sagt Bobadilla.
Nachts hat Culiacán ein anderes Gesicht
In Culiacán sei alles teuer, weil hier so viel Drogengeld fliesse, sagt Alfredo, der Fahrer der Zeitung «El Sol de Sinaloa». Für den Vater von drei Kindern bedeutet das, mehrere Jobs zu haben. Nachts verdient er als Uber-Fahrer dazu. Ein gefährlicher Job. Kürzlich hätten zwei Motorradfahrer auf seinen Fahrgast geschossen, der das Feuer erwidert habe. Immerhin habe der Fahrgast danach für die Fahrt bezahlt. Alfredo lacht nervös.
Seit Ausbruch der Gewaltwelle sei Culiacán nachts eine andere Stadt geworden, sagt er. Und ab 3 Uhr morgens werde sie zur Hölle. Dann sehe er Gestalten, die Leichen auf die Strasse würfen. Oder das hier: Anfang Oktober zeichneten Verkehrskameras auf, wie Soldaten ein verdächtiges Auto nachts mit Kugeln durchsiebten. «Töte ihn, töte ihn», sind die Rufe der Soldaten zu hören. Die Uhr auf dem Überwachungsvideo zeigt 2 Uhr 57 an.
Präsidentin Claudia Sheinbaum ermahnte daraufhin das Militär, die Menschenrechte zu achten. Doch Alfredo hat Verständnis für die locker sitzenden Waffen. Die Soldaten seien hier fremd und kennten die Stadt nicht. Und auch sie hätten Angst.
Eine Pause im Park
Es ist Sonntagnachmittag, und Alfredo und Iván gönnen sich eine Kaffeepause im «Park 87» im Zentrum. In einem See baden Schildkröten und Enten, auf den Bäumen sonnen sich Leguane. Am Eingang des Parks habe man Ende Oktober in einer Kühlbox den abgetrennten Kopf eines Cousins der Chapitos gefunden, erzählt Iván. «Chapos Ratten. Die Regierung ist nicht auf eurer Seite», stand auf der Box.
Tatsächlich verhält sich die Regierung von Claudia Sheinbaum, die Anfang Oktober ihr Amt antrat, bislang neutral im Machtkampf der Clans. Ihr Vorgänger López Obrador hingegen wurde von den Medien der Nähe zu den Chapos bezichtigt, ohne dass dafür Beweise vorgelegt wurden. Unter Sheinbaum haben die Sicherheitskräfte jedenfalls beiden Seiten empfindliche Verluste zugefügt.
Wie Ende Oktober, als mit El Max die rechte Hand von El Mayo verhaftet wurde. Die Sicherheitskräfte erschossen damals 19 Menschen. Iván fotografierte den Tatort mit einer Drohne. Doch auf den Bildern sind die Gesichter der Toten nicht zu sehen. Als Reporter folge er den Protokollen, die die Arbeit der Reporter und Fotografen in Culiacán sicherer machen sollen: nie vor der Polizei am Tatort sein, keine Namen und Daten der Opfer nennen, keine Gesichter fotografieren und keine Bande öffentlich für das Geschehen verantwortlich machen.
Immer wieder piepst Iváns Handy. Über eine Whatsapp-Gruppe für Journalisten kommen Meldungen herein. Es gibt den ersten Toten des Wochenendes. Das war es dann wohl mit der Waffenruhe, sagt Iván.
Der Hydra wachsen die Köpfe nach
Tatsächlich sollte der Kampf zwischen den Mayos und den Chapos in den darauffolgenden Tagen wieder an Fahrt gewinnen. Mitte November musste eine Landwirtschaftsmesse in Culiacán nach Drohungen der Mayos abgesagt werden. Denn hinter den ausstellenden Betrieben sollen die Chapos stehen.
Wenig später wird der Anführer einer Viehzüchtervereinigung mit Folterspuren tot in einem Dorf südlich von Culiacán aufgefunden. In der Nähe finden die Behörden am gleichen Tag weitere sieben zu Tode gefolterte Personen. Einigen wurden die Köpfe abgeschnitten. Und so geht es weiter, Tag für Tag.
Wirklichen Frieden werde es in Sinaloa wohl nie geben, sagt der Reporter Iván. Denn wenn man der Hydra einen Kopf abschlage, wüchsen andere nach. Aber vielleicht komme man wieder zu einer Situation wie in den Zeiten, als ein Toter pro Tag normal war. Doch dazu müsste wohl erst einer der beiden Clans völlig ausgelöscht werden.

