Der Radrennsport für Frauen wird immer populärer. Doch hinter den Kulissen ist die Realität nicht nur glamourös. Für viele Fahrerinnen sind die Verhältnisse prekär.
Es ist ein kalter Dezembertag, als ich den ersehnten Anruf erhalte. Am Telefon ist mein zukünftiger Teammanager, und er sagt mir, dass ich 2024 für das italienische Continental-Team Bepink-Bongioanni fahren dürfe. Im Frauenradsport gibt es derzeit zwei internationale Ligen: die World Tour und die Continental Tour, mein neues Team tritt in der zweitobersten Stufe an.
Drei Tage später sitze ich vor der Deepl-Übersetzung des Vertrags, er ist auf Italienisch verfasst. Von einem Lohn ist darin keine Rede. Nur meine Spesen werden vollständig übernommen, ich muss also nichts für Reisen, Übernachtungen oder die Verpflegung bezahlen. Und mir wird das gesamte Material zur Verfügung gestellt.
Unter diesen Bedingungen kann man den Lebensunterhalt zwar nicht bezahlen. Trotzdem sind sie nicht in allen Teams selbstverständlich. Nur World-Tour-Teams, also solche der höchsten Liga, sind verpflichtet, ihren Athletinnen einen Mindestlohn von 35 000 Euro im Jahr zu bezahlen. In einigen wenigen Ländern gibt es auch für Continental-Teams gesetzliche Mindestlohnvorgaben von rund 20 000 Euro. Ein männlicher Profi in einem World-Tour-Team hingegen kann mit mindestens 60 000 Euro pro Jahr rechnen. Trotz fehlendem Lohn unterschreibe ich den Vertrag, schliesslich kann ich ohne Team keine internationalen Strassenrennen fahren.
Der Rennalltag wird von Budgetkämpfen und Improvisation geprägt
Der Unterhalt eines Radteams kostet viel Geld. Jedes Jahr gehen mehrere Continental-Teams ein, weil sie finanziell nicht über die Runden kommen. Im Verlauf der Saison, die von Februar bis Oktober dauert, wird mein Team mehr als fünfzig Rennen absolvieren. Zu jedem dieser Rennen reisen sechs Fahrerinnen mit je zwei Fahrrädern und drei Staff-Mitgliedern. Das ist die Low-Budget-Variante. World-Tour-Teams reisen meist mit deutlich mehr Personal und Material an, um sicherzustellen, dass den Athletinnen nichts fehlt.
Bei nur drei Staff-Mitgliedern sind die Rollen schnell verteilt: Der sportliche Leiter und der Mechaniker sitzen im Begleitfahrzeug, während der Masseur den Transporter lenkt und für die Verpflegung auf der Strecke sorgt. Bei hohen Temperaturen reicht das bei weitem nicht aus: In dieser Saison musste ich während der Rennen oftmals andere Teams um Trinkflaschen bitten. Hinzu kommt, dass das Personal nicht immer ausreichend geschult ist. Ein Beispiel: Da unser Teammechaniker wegen seines Vollzeitjobs nicht bei jedem Rennen verfügbar war, schlüpfte oft ein Pizzakurier in die Rolle des Mechanikers. Da verwundert es kaum, dass unsere Bremsen manchmal schleiften oder die Gangschaltung nicht sauber funktionierte.
Von alledem dürfen wir Fahrerinnen uns nicht beirren lassen. Wir wurden angestellt, um Resultate für das Team zu liefern. Von uns werden Top-Leistungen erwartet – unabhängig davon, wie viel wir verdienen oder wie professionell wir unterstützt werden. Als Athletin ohne Gehalt stehe ich regelmässig neben Fahrerinnen am Start, die gut vom Radsport leben können – und sogar einigen wenigen, die bis zu einer Million Euro im Jahr verdienen.
Manchmal holt niemand Wasser für die andern
Die grosse Lohnschere innerhalb des Frauenfeldes wirkt sich vor allem bei kleineren Mannschaften auf die Teamtaktik aus. Denn viele Fahrerinnen haben nur einjährige Verträge und fahren entsprechend um ihre eigene Zukunft – und weniger fürs Team. So entsteht eine Konkurrenzdynamik unter den Fahrerinnen des gleichen Teams. Die Athletinnen aus kleineren Equipen hoffen, durch ein gutes persönliches Ergebnis im nächsten Jahr einen besseren Vertrag zu erhalten.
Schaffen sie den Sprung in ein World-Tour-Team nicht, bedeutet das für viele das Ende der Radsportkarriere. Denn die meisten können es sich nicht leisten, jahrelang gratis für ein Team zu fahren. Vergleicht man die Teamtaktik der Frauen mit jener der Männer, so fahren Athletinnen eines Teams weniger häufig eng als Formation miteinander. Stattdessen ist regelmässig zu beobachten, wie sie gegeneinander sprinten.
In meinem letzten Strassenrennen holte keine der Fahrerinnen Wasser vom Begleitfahrzeug für die anderen. Das hätte zu viel Energie gekostet. Schliesslich wollten am Saisonende alle noch einmal ein gutes Ergebnis für sich selbst erzielen. In kleineren Teams wie meinem kommt das häufiger vor. Je besser die finanzielle Situation und Struktur einer Equipe ist, desto besser funktionieren die Athletinnen als Team.
Athletinnen rutschen in eine Essstörung ab
Und dann ist da noch die Sache mit dem Gewicht. Im Radsport gilt: Je besser das Verhältnis zwischen Wattzahl – also wie kräftig jemand in die Pedale treten kann – und Gewicht ist, desto schneller kommt diese Person einen Berg hoch. So weit die Theorie. Daraus ist der Glaubenssatz erwachsen, dass Radsportlerinnen (und natürlich auch Radsportler) möglichst wenig wiegen sollten, um Rennen zu gewinnen.
Auch mir wurde schon geraten, einige Kilo abzunehmen – manchmal verbunden mit der Drohung, dass ich sonst nicht für ein Rennen aufgeboten werde. Dabei bin ich eine Spezialistin für Bahnrennen und keine Kletterin. Ich brauche meine schwere Muskulatur, um Sprints zu gewinnen. Ausserdem benötige ich als Frau einen minimalen Fettanteil, damit mein weiblicher Zyklus normal funktioniert.
Auch beim Thema Gewicht beobachte ich, dass die Unterschiede zwischen den Equipen grösser nicht sein könnten. Einerseits gibt es Teams, die für jede Athletin wissenschaftlich genau berechnen, wie viele Kalorien sie zu welchem Zeitpunkt zu sich nehmen muss. An einem Renntag spricht man von 4000 bis 6000 Kilokalorien pro Athletin. Andererseits erlebe ich Teams, die schauen, dass ihre Fahrerinnen nach dem Rennen fünf Stunden lang nichts essen und sich beim Abendessen mit einem Caesar-Salat begnügen.
Das Thema Essen ist für Radsportlerinnen in vielen Momenten sehr präsent. Es überrascht daher kaum, dass viele Athletinnen in eine Essstörung abrutschen oder untergewichtig werden. Das Perfide daran ist, dass sich ein kleiner Gewichtsverlust zunächst positiv auf die Leistung auswirken kann. Viele berichten, sie seien eine Saison lang «geflogen» am Berg. Doch danach mussten sie entweder vor Erschöpfung aufhören oder benötigten Jahre, um wieder ihr früheres Leistungsniveau zu erreichen.
In Teams, die nur Einjahresverträge anbieten, ist der Druck auf die Athletinnen, Gewicht zu verlieren, höher. Solche Teams freuen sich über jene, die eine Saison lang «fliegen». Häufig sind sich gerade junge Fahrerinnen der langfristigen psychischen und körperlichen Risiken nicht bewusst, die mit einem Gewichtsverlust verbunden sind.
Für mich bleibt zu hoffen, dass sich der Frauenradsport im Umgang mit der Ernährung weiter professionalisiert und der Glaubenssatz verschwindet, nach dem leichter gleich schneller ist.
Darf ich deine Trinkflasche haben?
Ein kleines Mädchen zupft an meinem Trikot. Ich drehe mich um. Sie zeigt auf meine Trinkflasche und fragt, ob sie den Bidon haben darf. Obwohl der Frauenradsport noch immer viel Entwicklungspotenzial hat, sind die Rahmenbedingungen heute bereits deutlich besser als zu jener Zeit, in der ich so alt war wie dieses Mädchen.
An den Rad-WM in Zürich wird nichts von der Prekarität des Frauensports zu sehen sein. Das Rennen wird im Glanz einer modernen Stadt ausgetragen, die Fahrerinnen werden im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen. Das ist gut so. Ich werde das WM-Rennen der Frauen am Samstag vor dem Fernseher verfolgen.
Die Baslerin Cybèle Schneider, 28-jährig, ist Eliteradsportlerin. Sie gehört dem Bahn-Nationalteam an und fährt seit einem Jahr Strassenrennen für die italienische Equipe Bepink-Bongioanni. Seit letztem Mai konzentriert sich die Juristin, die an der HSG studiert hat, auf den Radsport.