Stolze 700 Seiten umfasst der neue Roman von Tore Renberg. Darin begibt er sich auf unbekanntes Terrain: Ein Norweger schreibt einen umfassenden historischen Roman, der in Deutschland spielt. Sein Vorbild ist Per Olov Enquist.
Welche Romane «moderner» sind, die dicken oder die dünnen, über dieses gewichtige Problem der Weltliteratur hat der Connaisseur Rolf Vollmann einmal in seinen gewitzten «Wunderbaren Falschmünzern» sinniert; zu einem Ergebnis kommt er natürlich nicht, der Buchumfang ist schlicht kein Kriterium.
Der Norweger Tore Renberg, geboren 1972 in Stavanger, liebt eher das Dicke. Die früheren Romane aus seiner Heimatstadt («Wir sehen uns morgen») sind umfangreich, die Sprache ist ausufernd und hemmungslos. Sind sie modern? Nun, vielleicht eher «metamodern». Denn seine Helden, alle irgendwie Desperados, sind Leute von heute: Romantische Sehnsucht und postmoderne Skepsis kriegen sie problemlos unter einen Hut.
Gottlob nicht barock
Auch sein neues Werk hat stolze 700 Seiten, aber sonst betritt Renberg damit unbekanntes Terrain, im doppelten Sinn: Der Norweger schreibt einen historischen Roman, der in Deutschland spielt. Wir befinden uns im Barock, in der kursächsischen Messestadt Leipzig, etwa dreissig Jahre nach dem Dreissigjährigen Krieg, dem bis heute längsten Krieg auf deutschem Boden. Das Buch ist schön übersetzt, leicht historisierend in manchen Wörtern, gepflegt und gottlob nicht barock. Bloss ein Arzt, der 1675 praktiziert, kann das nicht in Bratislava getan haben, den Ortsnamen gab’s damals noch gar nicht; es muss Pressburg heissen.
Im Mittelpunkt steht ein anfangs etwa fünfzehnjähriges Mädchen namens Anna Voigt, das 1681 des Kindsmordes angeklagt ist, ein Tatbestand, der laut römisch-deutschem Strafgesetzbuch von 1532, der sogenannten Carolina, nur mit dem Tod gesühnt werden konnte; dafür gab es verschiedenste Hinrichtungsarten.
Der Fall selbst ist für die Zeit im Grunde nichts Besonderes, derlei Anklagen gegen Frauen waren nach der Reformation geradezu eine Obsession weltlicher und vor allem kirchlicher Stellen. Das Besondere an diesem Fall ist, dass Anna, die sich aus Naivität, vielleicht auch Neugier mit einem Knecht eingelassen hat, aus wohlhabendem Hause kommt, ihr Vater ist Gutsbesitzer. Verzweifelt setzt er sich für sein «Herzenskind» ein und heuert einen jungen Leipziger Rechtsanwalt an, der sich durch seine draufgängerische Art bereits einen Namen gemacht hat.
Christian Thomasius ist ein ehrgeiziger, angriffslustiger, auch ein wenig eitler Jurist. Wichtiger noch: Er ist ein früher Aufklärer – Gegner von Folter und Hexenprozessen, Befürworter der Trennung von Staat und Kirche. Trotzig wendet er sich gegen das straffe lutherische Regiment seiner Stadt, er sieht sich als Vertreter einer neuen Zeit.
Mächtige intrigante Widersacher machen ihm Arbeit und Leben schwer – besonders ein Amtmann, der aus Neid die ganze Familie Voigt zugrunde richten will, und der Pfarrer der Thomaskirche Carpzov, der aus persönlichen und theologischen Gründen gewillt ist, den jungen Thomasius aus dem Weg zu räumen. Der aber hat einen Trumpf in der Hand: den Arzt Schreyer, wissbegieriger und belesener Stadtphysicus von Zeitz, der beim Leichnam von Annas Kind die sogenannte Lungenschwimmprobe anwendet, mit der nachgewiesen werden kann, ob ein Kind tot oder lebend geboren wurde. Geht die Lunge im Wasser unter, enthält sie keine Luft, das heisst, das Kind hat nie geatmet. Die Probe gilt als Beginn der modernen, auf Naturgesetzen gründenden Rechtsmedizin.
Enquist als Vorbild
Renbergs Buch ist ein ebenso kurioses wie faszinierendes Werk zwischen fiktivem Roman und historischer Forschung. Verbürgt sind die Personen und der Fall selbst (ein Link hinten im Buch führt zu Personenregister und Literaturverzeichnis). Meistens sind wir mitten im Geschehen, oft kommt unser Blick von aussen. Die Charakterisierungen der Personen, ihre Gespräche und Gedanken aber sind Erfindungen des Autors.
Manchmal bewegt sich der Text sogar in Richtung Autobiografie oder Tagebuch. Dann erlaubt Renberg Einblicke in sein Inneres, seine Faszination, fast Besessenheit für das Thema. Fast abenteuerlich sind die eingestreuten Kapitel, die den grausamen Rachefeldzug von Annas Vater 1695/96 gegen jene schildern, die das Dasein seiner Tochter so radikal zerstört haben. Eine ganze Familie ist dadurch zerrüttet worden, dem Vater wird alles sinnlos, er will nur noch «so tun, als wäre das Leben nie passiert».
Also kein üblicher historischer Roman. Aber hüten wir uns vor vorschnellen Vergleichen. Unsere heutige Zeit unterscheidet sich von der damaligen in allen Punkten. Nur in einem ewig gültigen nicht. Wenn Glaube zu Ideologie wird, wenn Tugendhaftigkeit in Unmenschlichkeit umschlägt, dann wird es kritisch.
Geistesverwandt ist Renberg mit dem Schweden Per Olov Enquist, einem absoluten Meister historischer Romane. Das Motto von Renbergs Buch stammt aus Enquists «Lewis Reise», das sich ähnlich wie hier zwischen religiösem Glauben und säkularer Welt abspielt. Enquist ist ein Vorbild, aber im Gegensatz zu ihm, der keine Quellen nennt, will Renberg immer offenlegen, was uns bekannt ist und was nicht. Zuweilen merkt er sogar an, er wisse nicht, ob sich die Szene so abgespielt habe wie eben geschildert.
Der Epilog besteht aus einem Gespräch zwischen einem kleinen Mädchen und seiner Mutter. Ohne zu verraten, um wen es sich hier handelt, nur so viel: Es ist der Versuch, Anna Voigts Leben, das durch Kleingeist und Willkür kirchlich-weltlicher Gewalt zunichtegemacht wurde, doch noch einen Sinn und vor allem eine Fortsetzung zu geben.
Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe. Roman. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe und Ina Kronenberger. Luchterhand-Verlag, München 2024. 704 S., Fr. 36.90.