Samstag, November 23

Die Jahresbilanz des Restaurantkritikers.

Je voller der Bauch von der Völlerei der Festtage, desto weniger empfänglich ist der Geist für die detaillierte Schilderung von Restaurantbesuchen. Also verzichte ich in diesem Fall darauf, zugunsten einer kleinen Jahresbilanz aus subjektiver Kritikersicht.

2023 ist das erste Jahr seit Ausbruch der Pandemie, das von keinerlei Corona-Schutzmassnahmen tangiert war. Und doch hat man sich von einigen liebgewonnenen Lokalen verabschieden müssen, etwa der urgemütlichen «Trichtenhausermühle» in Zollikerberg und ihrer 150-jährigen Tradition als Gasthaus. Solchen Schliessungen stehen einige spektakuläre Eröffnungen gegenüber, wie neulich jene der prächtigen «Brasserie Süd» im Zürcher Hauptbahnhof, welche die Renaissance des klassischen Beinamens «Brasserie» in der Limmatstadt fortsetzt.

Weit kurzlebiger ist so mancher heuer ausgerufene Trend, der schon wieder verebbt und somit nicht der Rede wert ist. Wie lange sich wohl die Awareness-Programme halten werden, die dem Partyvolk vor dem Einlass in Klubs einen Crashkurs in Sozialverträglichkeit angedeihen lassen? Mein Alter Ego, der Nachtfalter, ist jedenfalls kürzlich in Luzern zum ersten und hoffentlich letzten Mal in den Genuss einer solchen Behandlung gekommen. Er nahm’s mit Humor.

Keine Eintagsfliege ist der Boom der fleischlosen Küche. Und sowenig mir missionarische Ansätze dieser Bewegung gefallen und ihre Versuche, traditionelle Fleischgerichte zu imitieren, so sehr bin ich überzeugt: Eine Beschränkung der Mittel hat die Kreativität schon immer beflügelt, von der Dicht- bis zur Kochkunst. So verleiht auch das Vegetariertum, dem ich mehr abgewinnen kann als dem Veganismus, gerade der Spitzengastronomie frische Impulse. Nicht zufällig zählte ein Besuch im fleischlosen «Magdalena» in Schwyz zu meinen kulinarischen Höhepunkten 2023. Das gilt auch für einen der raren Abstecher ins nahe Ausland: Das Grotto Sant’Anna in Cannobio am Lago Maggiore machte uns so rundum glücklich wie kein anderer Gastbetrieb.

Umgekehrt erfährt man als Restauranttester natürlich auch Enttäuschungen. Die wohl grösste in diesem Jahr bescherte mir die «Clouds Kitchen» hoch oben im Prime Tower: Das Protokoll dieses Besuchs, pünktlich zum Frühlingsbeginn unter dem Titel «Absturz mit Aussicht» erschienen, spiegelte ein paar absurde Fehlleistungen. So gingen beim Pilzrisotto die Pilze vergessen, wurden dann auf meine höfliche Bitte nachgereicht – und am Ende separat verrechnet.

Es war wahrlich eine abstruse Form von Upselling – womit wir bei einem Begriff wären, der zu meinen (Un-)Wörtern des Jahres im gastronomischen Bereich zählt. Er geisterte spätestens in Köpfen und Gaststuben herum, als im August der Zürcher Gastrokönig Michel Péclard der «NZZ am Sonntag» das umsatzabhängige Lohnsystem einzelner seiner Betriebe mit dem Vorzug anpries, das Servicepersonal sei nun ganz persönlich um Umsatzsteigerung bemüht. Es fiel das Stichwort «Upselling», was hiesse, dass den Gästen eine kostspieligere Wahl aufgeschwatzt wird. Allerdings handelt es sich wohl meist eher um Cross-Selling, also den Absatz zusätzlicher Produkte.

«Das sind einfache Verkäufertricks», räumte Péclard ein – und behauptete: «Aber sie werden von der Kundschaft geschätzt.» Das ist zu bezweifeln. Will mir ein Kellner partout den teureren Wein aufschwatzen, wirkt das nicht gerade vertrauensfördernd auf mich. Ich werde ja schon zum notorischen Nein-Sager, wenn ich bei jedem simplen Sandwich-Kauf im Sprüngli gefragt werde, ob’s noch etwas Süsses dazu sein dürfe, oder am «Tibits»-Tresen beim Bestellen des Kaffees freundliche Versuche abwimmeln muss, mir ein Gipfeli anzudrehen.

Hätte ich ein Verlangen nach etwas Zusätzlichem, käme ich gewiss von allein auf die Idee. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Menschen froh sind, wenn sie sich auf einem der teuersten Pflaster der Welt wenigstens einen Kaffee leisten können: Zürich ist nun in internationalen Preis-Rankings ja wieder an der Spitze angelangt, was zu den Schlagzeilen dieses Jahres zählte. Die Aussagekraft ist beschränkt, aber die Leute lieben halt Ranglisten, da sie die Illusion lieben, diese komplexe Welt sei zu ordnen und leicht auszurechnen.

Und Medien nutzen die Gelegenheit, ihre Leserschaft sofort mit neuen Listen zu füttern, nämlich mit Tipps, wo man in Zürich noch billig essen oder trinken könne (die Qualität ist dann meist zweitrangig). Fest steht: Selbst an der Bahnhofstrasse gibt’s noch einen formidablen Espresso zum moderaten Preis von 4 Franken (den Doppio für einen Fünfliber), nämlich in der «Bar 45».

Damit wären wir beim Wunsch für 2024 an eine herausgeforderte Branche zwischen Fachkräftemangel und Margendruck: Die Gäste werden ausgabefreudig bleiben, solange die Qualität stimmt – also auch die Gastfreundschaft, die noch immer zu oft vernachlässigt wird. Aufs neue Jahr!

Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.

Die Sammlung der NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.

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