Montag, September 16

Ein höheres Rentenalter, eine Steuerreform und mehr Binnenmigration: die wichtigsten fünf Punkte aus Chinas neustem Reformplan.

Chinas wichtigster Reformplan ist da. Die Erwartungen an den Bericht mit den über 300 Beschlüssen des Zentralkomitees waren tief – und die Reaktionen ausländischer Unternehmen fielen bisher verhalten aus. So viel vorweg: Der grosse Reformschub kommt nicht. Der Partei- und Staatschef Xi Jinping hat im vergangenen langen Jahrzehnt seiner Herrschaft demonstriert, dass ihm eine engmaschige Kontrolle durch die Kommunistische Partei wichtiger ist als mehr Freiheiten für die Wirtschaft. Chinas Wirtschaft bleibt also fest unter staatlicher Führung.

Und doch gibt es innerhalb des Reformpakets einige bemerkenswerte neue Antworten auf die drängenden ökonomischen Probleme des Landes. Sie deuten an, wohin sich China in den nächsten fünf Jahren entwickeln könnte, wenn die Behörden und Lokalregierungen die Beschlüsse in konkrete politische Massnahmen umsetzen. Die NZZ hat die wichtigsten fünf Reformvorschläge herausgegriffen.

1. Urbanisierung, Urbanisierung, Urbanisierung

Xi Jinping hat in seiner Erklärung zum Reformpaket anerkannt, dass «grosse Unterschiede in der Entwicklung und Einkommensverteilung zwischen städtischen und ländlichen Gebieten sowie zwischen den Regionen bestehen». Die Unterschiede sind so frappant, dass in China die meisten Statistiken zweimal ausgestellt werden, einmal für die Städte und einmal für ländliche Regionen – der Durchschnitt von beidem wäre nichtssagend aufgrund der grossen Unterschiede beim Lohnniveau und den Sozialleistungen wie den Renten.

China unterscheidet auch administrativ zwischen Land- und Stadtbürgern. Erstere dürfen eigenes landwirtschaftliches Nutzland erwerben und bewirtschaften, sie haben aber, wenn sie in die Städte ziehen, oft kein Recht auf die dortigen Sozialleistungen wie Arbeitslosenversicherung, Krankenkasse oder eine Schulbildung für ihre Kinder.

Das soll sich nun Schritt für Schritt ändern. Grundlegende Sozialleistungen sollen die Städte künftig allen Einwohnern bieten können, auch den Wanderarbeitern. Gewisse «qualifizierte» Wanderarbeiter sollen gar dieselben Rechte erhalten wie die Städter – zum Beispiel beim Erwerb von Wohneigentum. Wer sich denn nun qualifizieren kann und auf welche Weise, wird im Bericht jedoch nicht ersichtlich.

Das Ziel ist eine neue Urbanisierungswelle, wovon sich die Regierung wohl eine Erhöhung der Produktivität und einen höheren Konsum verspricht. Wie Chinas Gigametropolen das mit den bestehenden Ressourcen bewerkstelligen sollen, ist unklar. Die Regierung ordnet jedenfalls an, die Quoten für Zuwanderung zu erhöhen sowie neues Bauland für die zu erwartende Binnenmigration zu schaffen.

2. Hilfe für die verschuldeten Lokalregierungen

Das Zentralkomitee deutet im Bericht eine bedeutsame Steuerreform an. Es geht um die notorisch hochverschuldeten Lokalregierungen. Diese müssen ihre Schulden zurückzahlen, haben jedoch immer weniger Einnahmen durch Immobilien- und Grundstückverkäufe.

Nun sollen die Quellen für die Steuereinnahmen ausgeweitet werden und mehr Einnahmen an die Lokalregierungen fliessen statt wie bisher direkt nach Peking. Es geht also im Kern um eine Umverteilung der Einnahmen weg von der Zentralregierung hin zu den Lokalregierungen. Was die Ausgaben betrifft, so soll die Zentralregierung die Provinzen und Städte stärker entlasten.

3. Mehr soziale Wohlfahrt

Ein Grossteil der chinesischen Bevölkerung ist sozialversichert. Nun wird der Sozialstaat weiter ausgebaut, damit auch Wanderarbeiter und Tagelöhner unter das System fallen. Zudem sollen die Beiträge erhöht werden – denn die Leistungen decken oft nicht einmal das Minimum an den Kosten. Profitieren vom geplanten Ausbau werden wohl zuerst die älteren Chinesinnen und Chinesen: deren Renten sollen erhöht werden. Zudem will der Staat die enormen Unterschiede zwischen den Regionen ausgleichen.

Doch für die ältere Generation gibt es auch schlechte Neuigkeiten: Das Rentenalter will die Partei «schrittweise» anheben. Das ist zwar schon der Plan seit zehn Jahren, doch konkrete Massnahmen gab es nie, wohl aus Furcht vor dem gesellschaftlichen Unmut. Nun vermuten Experten, dass Chinas Regierung mit Anreizen arbeiten könnte. Wer termingerecht in Pension geht, erhält eine niedrigere Rente als jemand, der noch ein paar Jahre weiterarbeitet.

Nebst der Überalterung will die Partei auch weitere gesellschaftliche Probleme angehen und etwa mehr bezahlbaren Wohnraum sowie mehr Anstellungsmöglichkeiten für die Jugend schaffen. China kämpft seit einigen Jahren mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit.

4. Absicherung gegen Strafzölle und De-Risking

«Die Versuche von aussen, China zu unterdrücken und einzudämmen, eskalieren gerade», sagte Xi Jinping in seiner Erklärung zum Reformpaket. Und weiter: «Wir sind weiterhin im Übermass abhängig von Schlüsseltechnologien, über die andere die Kontrolle haben.»

Es stimmt, Chinas Wirtschaftsmodell ist vermehrt unter Druck – einerseits wandern immer mehr ausländische Firmen im Rahmen ihrer De-Risking-Strategie ab, andererseits haben die USA Beschränkungen des Exports von Hochleistungschips ausgesprochen und die Niederlande und Japan mit in die Pflicht genommen. Seit Donald Trumps Handelskrieg sind auf einer Vielzahl chinesischer Produkte hohe Strafzölle, die auch unter einer möglichen Regierung von Kamala Harris nicht fallen dürften. Auch die EU hat Importzölle auf chinesische Elektrofahrzeuge erhoben.

Nun will China, so steht es im Dokument, vollständig autarke Industrien und Lieferketten aufbauen – in strategisch wichtigen Bereichen wie bei Chips oder bei medizinischen Produkten.

Gleichzeitig verspricht das Dokument auch mehr Öffnung. Hürden für Investoren aus dem Ausland sollen fallen, Gelder und Know-how aus dem Ausland sollen Chinas Streben nach Autarkie und Resilienz schliesslich weiter unterstützen. «Wir denken, dass eine grössere Öffnung Chinas und stärkere Integration ins globale Wirtschaftssystem für Chinas Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren immer wichtiger werden wird angesichts des Risikos einer weiteren Runde des Handelskriegs mit den USA», schreiben Analysten von der UBS.

5. Bessere Bedingungen für Privatfirmen

Der Bericht des Zentralkomitees weist der Privatwirtschaft eine «entscheidende Rolle» zu. Der Wettbewerb zwischen privaten und staatlichen Firmen soll fairer werden. So sollen etwa in Zukunft auch Privatfirmen die Chance haben, sich für nationale Schlüsselprojekte zu bewerben. Zudem sollen die rechtlichen Bedingungen für Privatfirmen verbessert und die staatlichen Unternehmen weiter reformiert werden. Es wird auch angedeutet, dass die Aufsichtsbehörden die staatlichen Unternehmen stärker überwachen – deren Führung sowie Leistung soll neu bewertet werden.

In Zukunft sollen sich die Staatsfirmen und das staatliche Fördergeld vor allem auf Industrien konzentrieren, die für die nationale Sicherheit und das Funktionieren der chinesischen Wirtschaft unabdingbar sind. Auch strategische Sektoren sollen weiterhin staatliche Subventionen erhalten: künstliche Intelligenz, die Luftfahrt, erneuerbare Energien, Biomedizin, neue Materialien und Quantentechnologie.

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