Die Regierung präsentiert ihr 14-Punkte-Paket zum Lohnschutz im Inland. Damit will sie vor allem die Gewerkschaften ins Boot der Befürworter des Ausbaus der EU-Beziehung holen.
Ausbau oder Abbruch der Beziehungen mit der EU? Der Bundesrat war am Freitag an beiden Flanken beschäftigt. Zuerst begründete Justizminister Beat Jans vor den Medien in Bern die Ablehnung der SVP-Volksinitiative zur 10-Millionen-Schweiz, welche früher oder später die Personenfreizügigkeit Schweiz-EU und die damit verbundenen Verträge beenden würde. Kurz danach präsentierte Wirtschaftsminister Guy Parmelin das Lohnschutzpaket der Regierung, das vor allem die Gewerkschaften besänftigen soll, um die Chancen des ausgehandelten EU-Vertrags an der Urne zu erhöhen.
Der Lohnschutz-Teil des EU-Vertrags betrifft im Prinzip nur einen kleinen Ausschnitt der Arbeitnehmerschaft. Es geht um Mitarbeiter, die von ihren EU-Arbeitgebern vorübergehend in die Schweiz entsandt werden. Das kann zum Beispiel ein polnischer Bauarbeiter sein, der von seinem Arbeitgeber in Warschau für drei Monate auf eine Schweizer Baustelle geschickt wird. Hauptbetroffen ist der Bausektor.
Die Schweiz hatte im Rahmen der «flankierenden Massnahmen» zur Personenfreizügigkeit ein Kontroll- und Sanktionsregime aufgebaut. Dieses soll das Lohnkartell absichern, so dass auch aus dem Ausland entsandte Mitarbeiter nach Schweizer Lohn- und Arbeitsregeln behandelt werden. Die Verhandlungen zum neuen Vertrag EU-Schweiz verankerten zentrale Prinzipien dieses Regimes – so etwa den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» wie auch die Art der Kontrollen durch Sozialpartner und Kantone. Der Vertrag verankert zudem, dass die Schweiz allfällige künftige Lockerungen im EU-Entsenderecht nicht nachvollziehen müsste.
Kompensation der Lockerungen
Der Vertrag bringt indes im Vergleich zum Status quo in der Schweiz einzelne Lockerungen. So wird die Voranmeldefrist für ausländische Firmen, die in der Schweiz Dienstleistungen erbringen wollen, von acht Kalendertagen auf vier Arbeitstage verkürzt. Zudem müsste ein Entsendebetrieb künftig nur dann eine Kaution leisten, wenn er bei früheren Einsätzen in der Schweiz Zahlungspflichten nicht nachgekommen ist. Und die Spesen sind vom Prinzip «gleiche Bedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort» ausgenommen. Schickt zum Beispiel ein polnischer Betrieb einen Arbeiter nach Deutschland, wären in Deutschland gemäss EU-Entsenderegeln im Prinzip polnische Regeln massgebend. Viele EU-Länder halten sich zwar nicht daran, doch die EU wollte oder konnte die Schweiz offiziell nicht besser stellen als die EU-Länder.
Das vom Bundesrat präsentierte Lohnschutzpaket enthält ein Bündel von elf Massnahmen, welche die Lockerungen aus dem EU-Vertrag direkt oder indirekt kompensieren sollen. Über diese Massnahmen herrscht im Grundsatz Einigkeit bei den Sozialpartnern. Dazu gehören unter anderem die Automatisierung des Meldeverfahrens, Dokumentationspflichten vor Ort für ausländische Entsendebetriebe, Sanktionen bei Nichtleisten geforderter Kautionen, Tragepflicht für einen Baustellenausweis mit Informationen zu Lohn- und Arbeitsbedingungen auf öffentlichen Baustellen und Haftung der Erstunternehmer für Sanktionen und Kontrollkosten auch betreffend Subunternehmen.
Zur Lösung der Spesenfrage will der Bundesrat im Einklang mit der Haltung der Sozialpartner die Verankerung des Prinzips «Schweizer Spesen in der Schweiz» auch für aus dem Ausland entsandte Mitarbeiter im hiesigen Gesetz verankern. Das Gesetz soll zwar zunächst auf das Herkunftsland verweisen, doch wenn dessen Spesensätze die Kosten in der Schweiz nicht decken, wäre die Differenz durch den Arbeitgeber zu zahlen. Auf den ersten Blick würde die Schweiz damit quasi im eigenen Gesetz verankern, dass sie sich in diesem Punkt nicht an den EU-Vertrag hält. Laut Bundesvertretern lassen der ausgehandelte Vertrag und die EU-Entsenderichtlinie in der Spesenfrage grosse Spielräume offen.
Besitzstandswahrung für GAV
Zusätzlich schlägt der Bundesrat drei Massnahmen vor, die direkt nichts mit dem EU-Vertrag zu tun haben. Zwei von diesen haben für viel Diskussionsstoff gesorgt. So will die Regierung den Bestand der allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge (GAV) bewahren. Im Grundsatz kann der Bundesrat laut Gesetz einen GAV nur dann allgemeinverbindlich erklären, wenn die GAV-Beteiligung über gewissen Schwellenwerten liegt. So müssen mindestens 50 Prozent aller Arbeitgeber in der betroffenen Branche beim GAV mitmachen, und diese müssen mindestens die Hälfte aller Arbeitnehmer in der Branche beschäftigen. Gemäss einer Zusammenstellung des Bundes gab es im Juni 2024 total rund 65 GAV, die auf nationaler oder kantonaler Ebene allgemeinverbindlich sind.
Der Bundesrat schlägt nun namentlich eine Senkung der Schwellenwerte der notwendigen Mindestbeteiligung für bestehende allgemeinverbindliche GAV vor. Die Ungleichbehandlung von GAV mit bestehender Allgemeinverbindlichkeit und anderen GAV verstösst gegen das Prinzip der Rechtsgleichheit, doch sie spiegelt den politischen Kompromiss – den gemeinsamen Nenner der Sozialpartner.
Bis zehn Monatslöhne?
Keinen gemeinsamen Nenner gibt es bei der 14. und letzten Massnahme im Lohnschutzpaket: dem Ausbau des Kündigungsschutzes für gewählte Personalvertreter, Mitglieder von Pensionskassen-Organen und gewisse gewerkschaftlich aktive Mitarbeiter. Der Ausbau für Gewerkschafter bezieht sich auf Mitglieder nationaler Branchenvorstände, die im Rahmen eines allgemeinverbindlichen GAV tätig sind.
Schon nach geltendem Recht ist eine Kündigung solcher Mitarbeiter missbräuchlich, wenn der Arbeitgeber den Betroffenen wegen deren Tätigkeit als Personalvertreter oder Gewerkschafter kündigt. Wie bei anderen missbräuchlichen Kündigungen erhalten in solchen Fällen Betroffene vor Gericht eine Entschädigung von bis zu sechs Monatslöhnen. Die Gewerkschaften erachten dies als zu wenig. Sie haben deswegen schon vor über zwanzig Jahren bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) Klage gegen die Schweiz eingereicht, da das Land gegen ILO-Grundsätze verstosse. Die Klage ist immer noch hängig.
In der Praxis sprechen Richter längst nicht immer die Maximalentschädigung aus. Laut einer älteren Zusammenstellung von rund fünfzig Fällen waren in je etwa einem Viertel der Fälle Entschädigungen von zwei, vier bzw. sechs Monatslöhnen ausgesprochen. Der Rest verteilte sich auf andere Entschädigungen zwischen einem und fünf Monatslöhnen.
Der Bundesrat kommt nun den Gewerkschaften entgegen. Er will einen Ausbau der maximalen Entschädigung für missbräuchliche Kündigungen von Personalvertretern und gewerkschaftlich tätigen Mitarbeitern von sechs auf zehn Monate.
Zudem sollten Arbeitgeber verpflichtet werden, vor der Kündigung solcher Mitarbeiter eine Art Konsultationsverfahren durchzuführen, das bis zu zwei Monate dauern kann. Letzteres verlängert faktisch die Kündigungsfrist.
Konkreteres bis Ende März
Das Staatssekretariat für Wirtschaft soll laut Bundesrat die Gespräche mit den Sozialpartnern und den Kantonen weiterführen und bis Ende März die Ausgestaltung aller Massnahmen konkretisieren.
Der Gewerkschaftsbund begrüsste den Ausbau des Kündigungsschutzes. Dieser decke aber nicht alle betroffenen Personen ab. Für die Gewerkschaft Travail Suisse ist das gesamte Lohnschutzpaket ein «akzeptabler Kompromiss». Die Arbeitgeber haben den Ausbau des Kündigungsschutzes bekämpft. Deutlich ist der Widerstand vor allem beim Gewerbeverband, während der Arbeitgeberverband etwas zurückhaltender opponiert. Die Hauptkritikpunkte: Der vorgeschlagene Ausbau des Kündigungsschutzes habe nichts mit dem EU-Vertrag zu tun und könne zudem ein Einfallstor für den Ausbau auch bei anderen Mitarbeitergruppen sein.
Die Schattierung zwischen den zwei grossen Dachverbänden der Arbeitgeber dürfte vor allem die Unterschiede in der Einschätzung des EU-Vertrags spiegeln. Im Gewerbeverband ist die generelle Skepsis deutlich grösser: Für die vielen binnenorientierten Gewerbebetriebe hat die Absicherung des Marktzugangs in der EU direkt kaum ersichtlichen Nutzen.
Die Hoffnung des Bundesrats: Die Gewerkschaften werden mit diesem Lohnschutzpaket auf eine offizielle Opposition gegen den EU-Vertrag verzichten, und für die Arbeitgeber ist das Paket nicht schlimm genug, um sie ins Lager der Vertragsgegner zu treiben. Die beteiligten Sozialpartner halten sich bei der Gesamtbeurteilung des EU-Vertrags noch zurück. Mindestens bis die detaillierten Vertragstexte veröffentlicht sind.