Dienstag, November 26

Ein Streit in einem Bergdorf zeigt, warum der nationale Solarexpress stockt. Ein Besuch am Tag der grossen Abstimmung.

Selbst die Landschaft ist hier oben gespalten.

Auf der einen Seite der Südhang hinter dem Bergdorf Savognin: grün, schneefrei, gefühlte Temperaturen wie im Frühsommer. Auf der anderen Seite die Nordseite: schneeweiss, makellose Skipisten, dahinter die glitzernde Wintersonne.

Hier soll eine der grössten Solaranlagen der Schweiz entstehen, eine gigantische Anlage, 93 Fussballfelder gross. Gebaut von den Elektrizitätswerken der Stadt Zürich (EWZ).

Strom aus den Bergen für die Menschen im Mittelland: Diese Idee spaltet die Gemeinde Surses, zu der Savognin zusammen mit acht kleineren Ortschaften gehört. Sie spaltet aber auch das ganze Land.

Das nationale Parlament ist dafür. Doch lokal sieht es anders aus. Disentis, Melchsee-Frutt, Saas-Grund, Ovronnaz, Ilanz: Überall hat die lokale Bevölkerung kürzlich Nein gesagt zu einem alpinen Grossprojekt. Es gibt zwar auch Pläne, die durchkommen, aber die sind meist kleiner.

Für die Schweizer Energiewende ist das ein Problem. Denn: Das Klima verändert sich, menschengemacht – auch in Savognin auf 1207 Meter über Meer. Als der Gemeindepräsident, Daniel Wasescha, ein kleiner Bub war, malte er jedes Jahr am 6. Dezember den Samichlaus. Immer war der Hintergrund weiss. «Heute malen ihn die Kinder grün», sagt Wasescha, unterdessen 50-jährig, und leichte Besorgnis schleicht unter seine buschigen Augenbrauen.

Etwas muss geschehen – das sieht auch die Bundespolitik so. Als vorletztes Jahr eine konkrete Strommangellage drohte, beschloss das Parlament den «Solarexpress»: Bis zu 60 Prozent der Investitionskosten für alpine Solaranlagen werden damit vom Bund gedeckt. Weil diese Anlagen ideal sind, um die Stromlücke im Winter zu schliessen und nebenbei etwas fürs Klima zu tun.

Aber muss es ausgerechnet hier sein?

Das ist die Frage, die sich Fadri und Janine Arpagaus stellen. Sie führen das «Berghuus Radons», ein Boutique-Hotel mit Restaurant oben am Rand des Skigebiets von Savognin. «Die Natur ist unser Kapital», sagen sie. «Natürlich muss man etwas machen für die Energiewende, aber dieses Projekt ist das falsche.»

Dann zeigen sie hoch nach oben, dorthin, wo der alpine Solarpark entstehen soll. Gleich hinter einer Skipiste wäre ein Streifen davon sichtbar. Den Rest hinter der Bergkuppe würden vor allem Wanderer und Skitourenfahrer bemerken.

Die Anlage, geplant von den Elektrizitätswerken der Stadt Zürich (EWZ), wäre 660 000 Quadratmeter gross. 66 Gigawattstunden pro Jahr soll sie produzieren, genug, um rund 20 000 Haushalte mit Energie zu beliefern.

Oder alle Schneekanonen der Schweiz ein Jahr lang zu betreiben.

Für die EWZ ist die Anlage in Surses ein Prestigeprojekt, ein zentrales Element der städtischen Netto-null-Politik. Für die lokale Bevölkerung wäre sie lukrativ. Rund eine halbe Million würde sie jährlich in die Gemeindekasse spülen, einfach so.

Aber wie so oft, wenn das ganz Grosse auf das ganz Kleine trifft, ist es nicht so einfach. An diesem sonnigen Tag, in den Stunden vor der alles entscheidenden Gemeindeversammlung, wird in Savognin zwischen dem schneelosen und dem tief verschneiten Hang die Grundfrage der Schweizer Klimapolitik diskutiert: Ist Notfall – oder tun wir nicht eigentlich schon genug?

Ein Unternehmer erkennt sein Dorf nicht mehr

Deutliche Worte findet an diesem Tag Enrico Uffer, der grösste Unternehmer der Gemeinde. Er sagt: «Man kann immer sagen: ‹Es passt grad nicht.› Aber wir haben beim Klima viel zu lange nichts gemacht. Und wo soll es denn passen, wenn nicht hier?»

Uffer ist 52, Chef einer Holzbauunternehmung mit 120 Angestellten, ein freundlicher Mann ohne Allüren. Nur eines scheint er nicht zu mögen: faule Ausreden. Eines nach dem anderen zählt Uffer die Argumente der Solar-Gegner auf, voller Verständnis. Und zerpflückt sie dann.

Argument 1: Schlecht für den Tourismus, schlecht für die Natur. Die lokale Tourismusgesellschaft fürchtet um Gäste. Ihr Slogan für den Ferienort Savognin lautet «So nah an einer anderen Welt». «Welche Welt soll das sein?», fragt Uffer. «Ich kennen nur eine, und die ist in einem schlechten Zustand.»

Argument 2: Warum genau bei uns? Sollen die Zürcher ihren Solarpark doch auf dem Üetliberg bauen! «Ohne Solidarität gibt es keine Schweiz», sagt Uffer. «Gerade wir in den Bergen leben seit Jahrzehnten davon.» Er meint: vom Finanzausgleich, von der Wirtschaftskraft des Mittellandes – von Städten wie Zürich.

Argument 3: Das ist doch ein Tropfen auf den heissen Stein. Was kann Surses ausrichten gegen Emissionsgiganten wie China? «Das sind Ausreden», sagt Uffer. «Wir sind nicht für China zuständig, sondern für uns. Ich bin kein Gutmensch, gehöre nicht zur grünen Welle, aber nichts tun ist schlicht keine Option.»

Er hätte auch lieber keine Solarpanels in der Natur, sagt Uffer. «Aber es wäre ein Beitrag gewesen, den wir hätten leisten können.» Gewesen: Uffer spricht einen halben Tag vor der Entscheidung, als sei sie schon gefallen. Er kennt seine Gemeinde und glaubt: Die «Angstmacherei» der Gegner, wie er es nennt, wird Erfolg haben.

Ob er sich da nicht täuscht?

Ein Wirt fürchtet um seine Zukunft

Fadri und Janine Arpagaus sind sich nicht so sicher. Sie sitzen oben an der Sonne – und fürchten, dass der Grössenwahn ihre Gemeinde überkommen hat. «Da können wir ganz Graubünden tapezieren, und es wird keinen Unterschied machen», sagt er. «Es ist ja schön, wenn die Leute dank so einem Projekt gut schlafen können. Aber gegen den Klimawandel wird es nichts ausrichten. Wir sind aus globaler Sicht einfach zu klein.»

Der Nutzen: unsicher, unfassbar, abstrakt. Der Schaden: konkret, direkt vor der eigenen Haustür. Das ist für die Familie Arpagaus das Problem mit dem Solarprojekt, ja mit dem Solarexpress insgesamt.

«Knochenjob», «Herzblut», «Spitzensport»: So spricht Fadri Arpagaus über das Dasein als alpiner Gastro-Unternehmer. Er arbeite rund um die Uhr, er tue das nicht für sich, sondern für dieses Tal, in dem er aufgewachsen sei, das er am Leben halten wolle. Vor vier Jahren hat er das «Berghuus Radons» übernommen. Erst kam der Umbau, dann Corona, dann ein Winter ohne Schnee. Und jetzt die Helikopter mit den Solarpanels?

Ein Boutique-Hotel, das Multimillionäre und Älpler zusammenbringen will. Die Zimmer im «Berghuus Radons» kosten zwischen 300 und 600 Franken pro Nacht.

«Das läuft allen unseren Konzepten zuwider», sagt Janine Arpagaus. Naturnah und komfortabel zugleich will das Berghuus sein. Ein Refugium für alle, die unberührte Gipfel vor und den Skilift direkt hinter dem Haus wollen. Und die sich ein Zimmer für 300 bis 600 Franken pro Nacht leisten können. Der Multimillionär sitze hier neben dem Älpler, schwärmt der Gastgeber, der Raver neben dem Hackbrett-Klub aus Appenzell. 24 Betten hat das Hotel – die seien durch das Projekt in Gefahr.

24 konkrete Betten hier, im Betrieb eines lokalen Unternehmers, den alle kennen. Und 20 000 anonyme Haushalte dort, die durch den Solarstrom beliefert werden könnten.

Ist so ein Kampf überhaupt zu gewinnen?

Eine unheilige Allianz organisiert den Widerstand

Das EWZ, so hört man im Dorf immer wieder, habe es jedenfalls gar nicht richtig versucht. Philippe Heinzer, Leiter Energie beim Zürcher Energieriesen, wird am Ende dieses Tages selbst einen bemerkenswerten Satz sagen: «Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe, für solche Projekte zu lobbyieren.»

Ganz anders die Gegenseite: Dort hat sich eine in Umweltfragen unterdessen bekannte Allianz gebildet, eine unheilige.

Da sind zum einen die Naturschützer von Pro Natura Graubünden. Sie haben im Vorfeld der Abstimmung einen Flyer in jeden Briefkasten der Gemeinde geschickt. Darauf wälzt sich eine Solarwelle bedrohlich Richtung Tal, vor ihr ein besorgtes Auerhuhn.

Obwohl das Projekt keine geschützten Landschaften tangiert, vom Tal aus nicht sichtbar wäre und ohne Betonfundament auskäme, ist die Botschaft geradezu apokalyptisch.

Den zweiten Teil der unheiligen Allianz bilden die lokalen Touristiker. Oder besser: bildet Luzi Thomann. Er hat sein Geld im Unterland gemacht, mit Wartung und Verkauf von Nutzfahrzeugen. Gewohnt hat er aber immer hier oben. Heute ist er 66 und Verwaltungsratspräsident der örtlichen Tourismus AG – eine Art Ehrenamt, wie er sagt. «Einmal im Leben musst du einen Beitrag leisten. Das ist meiner.»

Am Tag der Entscheidung wirkt Thomann ziemlich entspannt. «Alles ist offen», versichert er. «Es steht fünfzig zu fünfzig.» Und doch spricht er, als habe er schon gewonnen. Erklärt etwa, was nötig gewesen wäre, um das Projekt durchzubringen: verbindliche Investitionen in den Tourismus, die Prüfung alternativer Anlagen, etwa auf Hausdächern, und Rückstellungen für Härtefälle.

Das Solarprojekt des EWZ sieht er als «Schnellschuss», als «Kopfgeburt» von Leuten, die das Geschäft mit Gästen nicht verstehen. «Wir leben zu 80 Prozent vom Tourismus», sagt Thomann. «Die Leute kommen zur Erholung und wegen der Nähe zur Natur. Es ist schlicht eine Illusion, zu glauben, dass sie weiterhin kommen würden – nur aus Dank, dass wir hier einen Teil ihres Stroms produzieren.»

Und das Klima, die Energiewende? «Eigenverantwortung» ist Thomanns Antwort darauf. Sein Tal produziere schon mehr als genug grüne Energie. Statt Solaranlagen in die Berge zu bauen, findet er, sollten die Leute lieber etwas haushälterischer mit Strom umgehen, zum Beispiel öfters das Licht löschen.

Der «Solarexpress» kommt ins Stocken

Diese Haltung wirft eine unbequeme Frage auf: Verteidigen Berggebiete wie Surses gerade ihren Schneetourismus gegen jede Neuerung – und vergessen dabei, dass dieser ohne Schnee nicht besonders viel wert ist?

Ein Anwohner sagte es an einer Infoveranstaltung im vergangenen Herbst so: «Unsere Vorfahren haben seinerzeit Ja gesagt zu den Bahnanlagen, zu den Schneeanlagen. Das waren auch nicht gerade Bijous in der Landschaft, aber wir leben heute gut davon. Beim Strom wird es dasselbe sein.»

Solarenergie als Zukunftsvision für Berggebiete, die langsam, aber sicher Schnee und Einwohner verlieren: Eigentlich passt eine solche Vision in dieses Tal. Früher war man hier radikalen Ideen nicht abgeneigt: Als in den 1950ern der Marmorera-Staudamm erbaut wurde, opferte man ihm kurzerhand ein ganzes Dorf. 1978 ging in Savognin die erste künstliche Beschneiungsanlage von Europa in Betrieb.

Aber, auch das ist in der Solar-Diskussion immer wieder zu hören, reicht es nicht irgendwann mit dem Pioniergeist? War das Opfer von Marmorera nicht genug, um den Zürcher Energiehunger zu stillen?

Glaubt man dem EWZ, so ist das Solarprojekt in Surses das Beste, was unter den Bedingungen des «Solarexpress» möglich ist. An einem bereits durch Skianlagen verbauten Berg gelegen und doch von unten kaum sichtbar. Gross genug, um im Winter einen Beitrag zur Energiesicherheit zu leisten, und schnell genug realisierbar, um die Bundessubventionen zu erhalten. Bis 2025 muss eine Anlage dafür zu zehn Prozent produktionstüchtig sein.

Lassen sich Anlagen wie jene in Surses nicht realisieren, lässt sich wohl auch das Ziel des Bundes nicht erreichen: bis 2030 zwei Terawattstunden Solarstrom pro Jahr mit alpinen Freiflächenanlagen zu erzeugen.

Im Kampf des Konkreten gegen das Abstrakte, des ganz Kleinen gegen das ganz Grosse, hätte Ersteres gesiegt.

Alle reden – einer schweigt

Savognin, Abends um acht. Die Sonne ist längst untergegangen, der letzte Bus ins Tal abgefahren. Und doch ist Bewegung auf den Strassen. Hunderte strömen durch die Dunkelheit in Richtung Gemeindesaal. Glänzende Glatzen sitzen neben coolen Skater-Kappen, hippe Wollmützen neben Lesebrillen, elegant auf die Stirn geschoben.

Die Leute kommen und kommen, bis es keine Sitzplätze mehr hat. Und dann kommen noch mehr. Über 500 werden es am Ende sein, normalerweise sind es höchstens 150.

Kaum sichtbar – und doch höchst umstritten: Viele Freunde hat das EWZ-Solarprojekt im Savogniner Gemeindesaal nicht.

Dann beginnt die Diskussion – und es ist, als würden die zwei Seiten in zwei unterschiedlichen Sprachen sprechen. Da sind zum einen die Gemeindevertreter und eine Abordnung des EWZ. Sie stehen ganz vorne, lesen ihre vorgeschriebenen Voten ab und bombardieren die Versammlung mit Powerpoint-Folien. Darin geht es um alles, von einer Weideprojektstudie bis hin zur Blechabdeckung der Kabelführung unter den Solarpanels.

Nur um eines geht es kaum: den Klimawandel und was er für Bergorte wie Savognin bedeutet.

Auf der anderen Seite steht ein Grossteil der Votanten aus dem Publikum. Sie zeigen das, was vorne zu fehlen scheint: Leidenschaft.

«Das ist unsere Heimat, unsere Natur!», ruft eine Frau. Eine zweite warnt mit bebender Stimme vor einer «Strahlenseuche» und der Zerstörung von «Lebensenergie-Tankstellen». Ein Mann sagt triumphierend, er habe die Sache jetzt zwei Wochen lang durchgerechnet und herausgefunden: «Solarstrom ist gar kein grüner Strom!»

Natürlich ergreifen auch die Meinungsführer aus dem Dorf das Wort. Fadri Arpagaus nennt das Projekt «riesig und riskant». (Applaus.) Luzi Thomann macht einen Witz über seine Frau und sagt dann, was die Gemeinde wirklich braucht: «1000 Hotelbetten!» (Applaus.) Gemeindepräsident Daniel Wasescha warnt vor einer Stromlücke im Winter. (Gelächter.)

Nur Enrico Uffer sitzt im Publikum und sagt nichts.

Die «emotions-, äh, emissionsfreie Produktion»

Als schliesslich Philippe Heinzer vom EWZ nach vorne tritt und für die «Zerreissprobe» um Entschuldigung bittet, vor die das Projekt die Gemeinde gestellt hat – spätestens da ist das Resultat eigentlich klar. Damit wird nichts aus dem, was ein anderer EWZ-Vertreter in einer geradezu freudschen Wendung als «emotions-, äh, emissionsfreie Produktion» bezeichnet hatte.

Gut 70 Prozent – 378 von 553 Anwesenden – stimmen am Ende gegen das Projekt. Der Applaus ist tosend. Der Sitznachbar im Publikum, der vorher gegen die Zürcher Medien geschimpft hat – «Ussa mit dena!» –, ist sehr zufrieden.

Zu Beginn der Debatte hatte Präsident Wasescha seine Gemeinde gefragt: «Was finden wir langfristig schlimmer: grüne Weihnachten in Savognin oder eine Photovoltaik-Anlage in den Bergen?» Die Antwort ist deutlich. Und doch bleibt das Dorf – wie auch die Schweiz – in der Energiefrage gespalten.

«Die Hauptsache ist, dass wir am Schluss wieder zusammen anstossen und Viva machen können», hat Luzi Thomman zuvor über die Zeit nach der Abstimmung gesagt.

Nun ist klar: Es wird ein Viva auf die Natur sein, keines auf das Klima.

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