Montag, Oktober 7

Auf dem Papier scheint es so lukrativ wie noch nie, im Dienst der russischen Armee zu stehen, schreibt die Autorin Sonja Margolina. Trotz hohen Prämien aber gehen Putin die Truppen aus, die in der Ukraine kämpfen sollen.

Der Oberbefehlshaber der französischen Armee, Prinz Louis II de Bourbon-Condé, soll beim Anblick des von Leichen übersäten Schlachtfelds der Schlacht von Seneffe am 11. August 1674 gesagt haben: «Eine Nacht in Paris wird das alles wiedergutmachen.»

Weniger elegant brachte der Generalstabschef der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg, Marschall Georgi Schukow, ein Bauernsohn, sein Verhältnis zum gemeinen Volk zum Ausdruck: «Soldaten nicht schonen. Weiber werden neue gebären.» Allerdings soll dieses denkwürdige Motto, das auch Josef Stalin zugeschrieben wurde, bereits im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 geprägt worden sein.

Sorge ums Kanonenboot

Die Gleichgültigkeit und die Verachtung der militärischen Befehlshaber gegenüber ihren Untergebenen wurden von zeitgenössischen Journalisten und Schriftstellern festgehalten. In seinem Buch «Die Leidenstage von Port Arthur» (1906) erinnerte Pawel Lassman, der Redaktor der Zeitung «Das ferne Land», an sein Gespräch mit dem Konteradmiral Fürst Uchtomski.

Falls die russischen Hilfstruppen nicht die Bucht von Qingzhou erreichten, so die Klage von Lassman gegenüber dem Fürsten, würde sinnlos eine ganze Brigade oder gar eine Division vernichtet. Der Admiral erwiderte, dass solche Verluste keine grosse Bedeutung hätten. Eine Division zähle 16 000 Mann. Die Statistik zeige jedoch, dass russische Frauen diesen Verlust innerhalb von zwei Wochen wieder ausgleichen könnten. Wenn aber, fügte der Admiral hinzu, in dieser Schlacht nur ein Kanonenboot zerstört würde, könnte man es nicht durch Geburten wettmachen. Für dessen Bau brauchte man Jahre.

An Kanonen und Raketen fehlt es Putins Russland nicht mehr. An der Geringschätzung des menschlichen Lebens und der Verachtung des gemeinen Volks hat sich aber kaum etwas geändert. Ungeachtet der demografischen Krise mit sinkenden Geburten- und steigenden Sterberaten werden Abertausende von jungen Männern im voll entfesselten Krieg gegen die Ukraine getötet.

Im Unterschied zu früheren Kriegen werden Männer im kampffähigen Alter jedoch nicht einberufen, sondern durch hohen Sold und zahlreiche Sonderleistungen dazu motiviert, den Kontrakt mit dem Verteidigungsministerium zu schliessen. Dem Buchstaben nach verpflichtet sich der Bürger freiwillig. In der Realität jedoch hat Putins Regime ein System aus Zuckerbrot und Peitsche geschaffen und dieses in den vergangenen zwei Jahren so perfektioniert, dass es für einen durchschnittlichen Bürger schwer möglich ist, sich dem Militärdienst zu verweigern.

Denn der Sold mutet für russische Verhältnisse wie ein Lottogewinn an. Schon beim Vertragsabschluss erhalten Kontraktsoldaten – je nach Region – bis zu zwei Millionen Rubel. Die Chance, eine Million aufs Konto überwiesen zu bekommen, um drückende Schulden bezahlen oder eine Wohnung kaufen zu können, vernebelt das Gemüt. Das Risiko, an der Front getötet zu werden oder schwer verletzt heimzukehren, wird verdrängt. Wer aber für keine noch so hohe Summe sterben möchte, lebt gefährlich. Er könnte in eine Razzia geraten, am Arbeitsplatz oder in einem Wohnheim. Lässt er sich auf den Polizeiposten oder in die Sammelstelle abführen, drohen ihm Prügel oder Folter.

Verbrechen ohne Strafe

Das System von Angebot und Nachfrage im Militärdienst – je höher der Sold, umso attraktiver der Job – ist für die russische Gesellschaft ein Novum. Bislang hatten nur die privaten Söldnergruppen wie die Gruppe Wagner von Jewgeni Prigoschin vergleichbare Leistungen erhalten. Doch als im Sommer 2022 klarwurde, dass die Mär vom Blitzkrieg nicht funktionieren würde, wurde eine Teilmobilisierung beschlossen. Ihre Folge waren eine Massenflucht junger Männer ins Ausland und eine gleichzeitige Erhöhung des Solds für Kontraktsoldaten, um den anfangs nur für die Dauer von sechs Monaten gedachten Vertrag für Männer und ihre Familien attraktiv zu machen.

Gleichzeitig hatte der Wagner-Befehlshaber Prigoschin, dessen Truppe arg dezimiert war, von Putin die Erlaubnis erhalten, verurteilte Straftäter als Söldner zu rekrutieren. Vor laufenden Kameras verkündete Prigoschin, Gewaltverbrecher und mehrfache Mörder zu bevorzugen. Vor der Invasion in die Ukraine befanden sich ungefähr 465 000 Strafgefangene in den russischen Justizvollzugsanstalten (FSIN). Die in Berlin ansässige NGO Russland hinter Gittern geht von 170 000 rekrutierten Häftlingen aus. Von ihnen wurden 50 000 begnadigt und aus der Haft entlassen. Ein Drittel der Begnadigten ist erneut straffällig geworden, wieder verhaftet und erneut für den Krieg angeworben worden.

Kriminelle, die den Zyklus Anwerbung – Fronteinsatz – Begnadigung durchlaufen haben, gelten als «Helden der Spezialoperation» und dürfen nicht «diskreditiert» werden. Sie gehören jetzt zur neuen Elite. Dieses Modell bescherte Russland einen Anstieg an Schwerstverbrechen mit tödlichen Folgen und der Verstümmelung von über 400 Menschen, unter ihnen kleine Kinder. Es wird erwartet, dass die Folgen der Gewalt, die in die Gesellschaft mit Wiederholungstätern, aber auch Tausenden von Soldaten mit posttraumatischen Störungen zurückkehrt, den Staat 0,6 Prozent seines BIP kosten werden.

Ursprünglich sei die Rückkehr der angeworbenen Straftäter in die Gesellschaft gar nicht vorgesehen gewesen, bekräftigt Olga Romanowa, die Leiterin von Russland hinter Gittern. Sie sollten in den besetzten Gebieten oder auf den Schlachtfeldern zurückbleiben. Denn der Krieg sei auch als eine Form der Säuberung der Gesellschaft von asozialen Elementen gedacht gewesen. Doch nachdem Hunderte von entlassenen Schwerverbrechern in Freiheit erneut zu morden und zu vergewaltigen angefangen hatten, wurde klar, dass das Prozedere der Einberufung von Straftätern geändert werden musste.

Stille Mobilisierung

Im März dieses Jahres unterschrieb Putin ein Gesetz zur Befreiung derjenigen Personen von strafrechtlicher Verantwortung, die ein Verbrechen begangen hatten oder ihre Haftstrafe verbüssten, wenn sie zum Militärdienst während der Mobilisierung oder des Kriegs einberufen werden oder den Vertrag mit der Armee abschliessen. Das neue Gesetz ermöglicht die Einberufung von Verdächtigen, gegen die ermittelt wird, sowie von bereits Verurteilten. Je mehr sie mordeten, kommentierte Olga Romanowa das neue Gesetz, desto schneller gelangten sie an die Front.

Tatsächlich leeren sich Dutzende von Strafanstalten. Nicht selten wird das Lagerpersonal, seiner Arbeit verlustig gegangen, auch festgenommen. Denn ohne die Mitarbeiter der Strafkolonien, so Olga Romanowa, kämen die Armee-Einheiten mit den ihnen zugewiesenen Kriminellen nicht klar. Nur diejenigen, die das Strafsystem von innen kennten, seien imstande, den Haufen von unberechenbaren und nach ihren eigenen «Gesetzen» («ponjatja») handelnden Vorbestraften zu disziplinieren.

Das wahre Potenzial des Gesetzes kommt jedoch darin zum Ausdruck, dass strafrechtliche Verfahren gegen unschuldige Menschen eröffnet werden können, die bei Geheimdiensten oder der Polizei denunziert wurden oder denen angebliche Beweise eines Rechtsbruchs untergeschoben wurden. Findet man plötzlich Drogen im Auto oder in der Wohnung, wird der vermeintliche Rechtsbrecher vor die Wahl gestellt, in den Krieg zu ziehen oder für Jahre in einem Straflager zu verschwinden.

Die stalinistische Praxis, Menschen mit fingierten Beweisen in Haft zu bringen, wird dabei durch die Nötigung zum Kontraktdienst als dem kleineren Übel gemildert. Die unendlichen Möglichkeiten fingierter Verbrechen und die Bestrafung in Form einer erzwungenen Teilnahme am Krieg sicherten einen beträchtlichen Nachschub an «Kanonenfleisch». Der aus der Stalinzeit bekannte Spruch – «gibt es eine Person, so lässt sich eine Anklage gegen sie schon finden» – kann dabei eine unerwartete Aktualität bekommen.

Da die Regionen und sogar Kommunen ein Plansoll für die Rekrutierung zu erfüllen haben, müssen sie sich etwas einfallen lassen, wie sie Männer aus den Verstecken und an den Arbeitsplätzen herausfischen. Auch den Unternehmen wird nahegelegt, Mitarbeiter für den Kontraktdienst freizugeben; mit der Androhung einer Gefängnisstrafe, mit Einschüchterungen und Prügeln, aber auch mit folterähnlichen Methoden wird die freiwillig-erzwungene, stille Mobilisierung fortgesetzt.

Die Rekrutierung der Straftäter führt dem Regime vor Augen, dass es ein weiteres potenziell unerschöpfliches Reservoir gibt. Das sind zunächst Arbeitsmigranten, vor allem aus Zentralasien. Mehrere Millionen von ihnen schuften in Russland, oft illegal, um ihre Familien in der Heimat ernähren zu können. Sie werden mit Versprechen enormer Zahlungen und erleichterter Einbürgerung, aber auch mit Einschüchterung und der Eröffnung fiktiver Strafverfahren zum Vertragsabschluss gezwungen. Diejenigen von ihnen, die die russische Staatsangehörigkeit bekommen, werden sofort in die Kriegszone geschickt.

Berichte über Razzien auf Migranten, die sich der Registrierung beim Wehramt entziehen, kommen aus verschiedenen Regionen. In Rostow am Don wurde nach Drückebergern in Hotels und Nachtklubs, im zentralrussischen Woronesch auf den grossen Baustellen gesucht.

Angelockt aus dem Ausland

Seit Februar 2022 seien 1729 nepalesische Bürger mit Studenten- und Arbeitsvisa nach Russland eingereist, berichten Nepals Migrationdienste. Sechs von ihnen sind in der Ukraine gefallen. Wie viele von ihnen rekrutiert wurden, ist nicht bekannt. In diesem März berichteten indische Behörden von einem kriminellen Netzwerk, das arme Inder nach Russland mit dem Versprechen einer gutbezahlten Arbeit gelockt habe.

Nach der Ankunft warteten auf sie eine kurze Militärausbildung und die erzwungene Entsendung an die Front. Bei seinem offiziellen Besuch in Moskau am 7. Juli dieses Jahres bat der indische Premierminister Narendra Modi Putin, indische Bürger, die «in die Irre geführt» worden seien und die an Kampfhandlungen in der Ukraine teilnehmen sollten, aus der russischen Armee zu entlassen.

Letztes Jahr berichtete das amerikanische Institut für Militärforschung (ISW), dass der Kreml sich zudem dazu bereit erklärt habe, 16 000 Kämpfer aus Nahost in die russischen Militäreinheiten zu integrieren. Auch User der syrischen sozialen Netzwerke behaupteten, dass Russen syrische Kämpfer mit halbjährigen Kontrakten angelockt hätten.

Angeblich zeigten Tausende von Syrern ein Interesse an der Teilnahme am fernen Krieg. Bereits im Juli 2022 wurden zehn syrische Bürger, die der Anwerbung von Syrern für russische Kampfeinheiten beschuldigt wurden, von der EU mit Sanktionen belegt.

Das Ansteigen der Prämie für Vertragssoldaten – der Monatssold wurde in den letzten Monaten verdoppelt – führt vor Augen, dass immer weniger Männer sich auf den Krieg einlassen möchten. Das System des freiwillig-erzwungenen Vertragsabschlusses gerät ins Stocken.

Nachdem dem ukrainischen Militär die Besetzung grosser Grenzgebiete in den russischen Regionen Kursk und Belgorod gelungen ist, kommt die russische Armee um die allgemeine Mobilmachung wohl nicht mehr herum. Es sei denn, Putin hält andere Mittel parat, um die «Nazis» in der Ukraine zu bezwingen.

Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin.

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