Die Befürworter wollen, dass abgewiesene Asylbewerber schneller Stipendien erhalten. Die Gegner befürchten, das schaffe ein Bleiberecht durch die Hintertür.
Das Wichtigste in Kürze
- Wer kein Asyl erhält, aber in der Schweiz bleiben darf, muss im Kanton Zürich lange auf Stipendien warten. Erst nach fünf Jahren dürfen vorläufig Aufgenommene einen Zustupf für die Ausbildung beantragen.
- Das will eine Allianz aus Mitte-links-Parteien ändern und hat deshalb im Kantonsparlament die Abschaffung dieser Wartezeit beschlossen. Die Idee: Bildungswilligen keine Steine in den Weg legen und sie rasch integrieren.
- Die SVP hat gegen den Entscheid das Referendum ergriffen. Für die Bürgerlichen sollen vorläufig Aufgenommene nicht bei der Ausbildung unterstützt, sondern zur Rückreise animiert werden.
Worum geht es?
Wer einen Ausbildungsplatz hat, aber nicht das Geld, um sich die Ausbildung zu finanzieren, wird in der Schweiz mit Stipendien unterstützt. Im Kanton Zürich erhalten auch Flüchtlinge und Staatenlose Stipendien, wenn ihre Familie sie nicht unterstützen kann.
Vorläufig Aufgenommene – Migranten, die trotz abgewiesenem Asylgesuch nicht zurückgeschickt werden dürfen – können erst nach fünf Jahren einen Antrag auf Stipendien stellen. Bis dahin verbleiben sie in Tieflohn-Jobs oder der Sozialhilfe.
Am 22. September stimmt die Zürcher Stimmbevölkerung darüber ab, ob auch vorläufig Aufgenommene sofort Stipendien beantragen dürfen. Die Abstimmung geht auf eine Initiative der Grünen im Zürcher Kantonsparlament zurück. Dort wurde das Ansinnen angenommen. Die SVP hat gegen den Beschluss das Referendum ergriffen.
Bei einem Ja könnten jene vorläufig Aufgenommenen, die über einen Ausbildungsplatz – meist in einem Lehrbetrieb – verfügen, ohne Verzögerung beim Kanton um finanzielle Unterstützung ersuchen. Sie wären damit Schweizerinnen und Schweizern sowie anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt.
Bei einem Nein bleibt die jetzige Regel in Kraft. Das heisst: Betroffene können eine Ausbildung entweder nicht beginnen, weil ihnen das Geld fehlt. Oder sie müssen in der Ausbildungszeit von den Gemeinden mit Sozialhilfe unterstützt werden.
Was würde das Ganze kosten?
Der Kanton Zürich rechnet mit Mehrkosten von drei bis vier Millionen Franken pro Jahr. Die Behörden gehen aber davon aus, dass diese Mehrkosten durch Einsparungen bei der Sozialhilfe kompensiert würden. Langfristig dürfte die Vorlage damit kostenneutral oder möglicherweise gar finanziell vorteilhaft sein.
Insgesamt handelt es sich bei Stipendien für vorläufig Aufgenommene um ein Nischenphänomen mit entsprechend beschränkter finanzieller Auswirkung. Im Ausbildungsjahr 2022/23 bezogen lediglich 220 vorläufig Aufgenommene Stipendien. Das sind vier Prozent aller Bezügerinnen und Bezüger.
Würde die Vorlage angenommen, rechnet der Kanton kurzfristig mit einer starken Zunahme von Gesuchen, weil einerseits neu Aufgenommene, andererseits aber auch solche, die während der letzten Jahre ihre Wartezeit absassen, um Geld ersuchen würden.
Auch langfristig dürfte es bei einem Ja mehr vorläufig Aufgenommene mit Stipendium geben; der Kanton spricht von einer Verdoppelung. Dies deshalb, weil Personen, die ihre Lehre derzeit mit Sozialhilfe bestreiten, vermehrt auf Stipendien setzen würden.
Was der Kanton mehr ausgibt, könnte so in den Gemeinden gespart werden. Sie sind für die Sozialhilfe zuständig. Dazu kommen langfristige finanzielle Vorteile, die eine abgeschlossene Ausbildung bringt: Wer über eine solche verfügt, wird tendenziell weniger arbeitslos oder sozialhilfebedürftig und zahlt mehr Steuern.
Was sind eigentlich Stipendien?
Nicht das Portemonnaie, sondern die Leistung soll bestimmen, wer welche Ausbildung macht. Diesem Prinzip folgt in der Schweiz die Stipendienvergabe. Geld erhält, wer selbst und via Familie nicht genügend Mittel aufbringt, um die Kosten einer Lehre oder eines Studiums zu tragen.
Für die Stipendienvergabe sind in der Schweiz die Kantone zuständig. Die Unterschiede sind dabei gross und die Vergabekriterien streng. Von einem Stipendium allein können die wenigsten leben. Es ist meist nur als Zustupf an die Lebenskosten konzipiert und heisst offiziell auch «Ausbildungsbeitrag».
Im Kanton Zürich muss man einen langwierigen administrativen Hürdenlauf absolvieren, um ein Stipendium zu erhalten. Die langen Wartezeiten – in den vergangenen Jahren zum Teil bis zu ein Jahr – werden immer wieder kritisiert. Wer Unterstützung will, muss seine eigenen finanziellen Verhältnisse und jene seiner Eltern lückenlos offenlegen.
Anders als oftmals angenommen werden Stipendien nicht nur für Studierende ausgerichtet, sondern auch für Lehrlinge und Gymnasiastinnen. Im Kanton Zürich ist der Grossteil der Bezügerinnen und Bezüger in einer Berufslehre.
Wer sind «vorläufig Aufgenommene»?
Vorläufig aufgenommen wird in der Schweiz, wer kein Anrecht auf individuelles Asyl hat, aber dennoch nicht zurückgeschickt werden darf. Die Gründe dafür sind vielfältig: ein medizinisches Leiden, ein Krieg in der Heimat, Verfolgung wegen der Flucht aus dem Land oder wegen der Zugehörigkeit zu einer verfolgten Gruppe.
Im Kanton Zürich wohnen rund 7500 vorläufig Aufgenommene. Der Bezeichnung zum Trotz bleiben 90 Prozent von ihnen langfristig in der Schweiz. Entsprechend sind sie auch Teil der Integrationsagenda, auf die sich Bund und Kantone geeinigt haben.
Eines ihrer Hauptziele: Zwei Drittel der vorläufig Aufgenommenen zwischen 16 und 25 sollen sich fünf Jahre nach Ankunft in der Schweiz in einer beruflichen Grundbildung befinden.
Warum werden vorläufig Aufgenommene bei den Stipendien anders behandelt?
Dieser Ausschluss hat im Kanton Zürich eine lange Geschichte. Schon in den 1970er Jahren machte die Rechtsaussenpartei Nationale Aktion das Thema zum Politikum. In zwei Volksabstimmungen erreichte sie 1975 und 1976 die Streichung von Stipendien für Ausländerinnen und Ausländer – unter anderem mit dem Argument, diese seien von Natur aus weniger intelligent.
Erst in den 1980er Jahren schlug die Stimmung um, und das Zürcher Stipendienwesen öffnete sich langsam für Lernende aller Nationalitäten. Damals wie heute ging es bei diesen Diskussionen um überschaubare Beträge. Damals wie heute wurde dabei jedoch ein grundsätzlicher Konflikt verhandelt: jener darüber, wer von Bildung profitieren soll – ein ausgewählter Kreis oder eben alle.
Die Abstimmung über die aktuelle Vorlage ist allerdings weniger bildungs- als asylpolitisch motiviert. Das zeigte sich schon im Zürcher Kantonsparlament, wo das Thema zu einer migrationspolitischen Grundsatzdebatte führte.
Was sagen die Befürworterinnen und Befürworter?
Die derzeitige Wartefrist sei ein Unsinn, eine unnötige Hürde bei der Integration von vorläufig Aufgenommenen: Das ist die Haltung des Ja-Lagers. Im Kantonsparlament fragte eine AL-Parlamentarierin rhetorisch: «Was bringt es, die Asylverfahren zu beschleunigen, die Leute danach aber zum Warten zu zwingen?»
Bildungswillige müsse man fördern, nicht bestrafen, lautet die Argumentation. Stipendien erhalte ja ohnehin nur, wer schon einen Ausbildungsplatz habe. Die Vorlage sei sodann auch im volkswirtschaftlichen Interesse, da sie der Arbeitslosigkeit entgegenwirke und zu Einsparungen bei der Sozialhilfe führe.
Werde vorläufig Aufgenommenen dagegen eine Ausbildung verunmöglicht, landeten sie in einem Teufelskreis aus Tieflohn-Jobs und staatlicher Unterstützung, aus der das Ausbrechen je länger je schwerer werde. Angesichts des Fachkräftemangels sei es zudem auch im Interesse von Unternehmen, Flüchtlinge möglichst rasch in den Arbeitsmarkt einzubinden.
Ein SP-Parlamentarier sagt es so: «Solange diese Leute hier sind, sind sie zu integrieren – statt dass man sie jahrelang in der Sozialhilfe belässt.»
Was sagen die Gegnerinnen und Gegner?
Eine Art Bleiberecht durch die Hintertür – und finanzielle Hilfe für Personen, die eigentlich gar nicht in die Schweiz gehören: Das befürchtet das Nein-Lager im Fall einer Annahme der Vorlage.
Insbesondere die SVP vermutet hinter der Vorlage ein migrationspolitisches Kalkül. Mit dem leichteren Zugang zu den Stipendientöpfen wolle die Ja-Seite den rechtlichen Status der vorläufig Aufgenommenen stärken und damit das Asylrecht unterwandern, so die SVP. Hilfe bei der Ausbildung setze ausserdem falsche Anreize: zu bleiben, statt wieder zu gehen.
Vorläufig Aufgenommene, so die Argumentation, sollten keine zusätzliche Hilfe vom Staat erhalten. Und sie sollten auch nicht dieselben Rechte erhalten wie anerkannte Flüchtlinge. Ein FDP-Parlamentarier formulierte es im Kantonsparlament so: «Der Sinn dieses Status ist nicht die Integration, sondern dass die Leute bei erstbester Gelegenheit den Heimweg antreten.»
Das Nein-Lager kritisiert weiter die Kosten der Vorlage. Bei einer Annahme, so die Befürchtung, würden Stipendien für die betroffenen Ausländerinnen und Ausländer zum Normalfall.
Welche Parteien sind dafür, welche dagegen?
Für die Vorlage sind sämtliche Linksparteien sowie Mitte und GLP, dagegen sind SVP, FDP und voraussichtlich auch die EDU. Der Kantons- und der Regierungsrat sind für die Anpassung des Bildungsgesetzes.