Nachgewürzt

Wolfgang Fassbender


Meinung

Im Gourmetrestaurant ist das Platzieren der Gäste die Norm. Wieso dieses Konzept auch in preisgünstigeren Lokalen immer öfter angewendet wird und worin die Vor- und Nachteile für die Kundschaft und die Gastgeber liegen.

An meinen ersten Besuch in der DDR erinnere ich mich gut. Mit meinen Eltern war ich 1978 zum Kaffeetrinken in Ostberlin. Doch als wir Hunger und Durst bekamen, konnten wir nicht einfach ins nächstbeste Lokal laufen, sondern mussten am Eingang warten, bis uns der diensthabende Oberkellner einen Tisch angewiesen hatte. Eine Schlange bildete sich an der Tür, obwohl noch reichlich Plätze frei waren, und das Personal schien die Machtausübung durchaus zu geniessen.

Nein, dachte ich damals. Das mag ich nicht. Da bevorzugte ich dann doch die aus dem Westen bekannte Freiheit, einfach selbst zu entscheiden, wo ich sitzen wollte. Dass die Tischvergabe in den besseren Restaurants Deutschlands oder der Schweiz allerdings auch in jener Epoche bereits sehr wohl üblich war, wusste ich als Zehnjähriger nicht.

Die Freiheit und die Grenzen der Tischwahl

Tatsächlich hatte sich damals eine fein differenzierte Form des Gästeempfangs etabliert – jedenfalls ausserhalb der streng geregelten Gastronomie des Ostblocks. Wo Oberkellner zum Standard gehörten – etwa in den Restaurants von Fünf-Sterne-Hotels und in den klassischen gehobenen Lokalen ausserhalb der Hotellerie –, wurde platziert. Im Übrigen war es üblich, sich selbst einen Platz zu suchen. Letzteres hatte ausser dem generellen Freiheitsgefühl selbstredend Vorteile, denn während der eine gern am Fenster sass, bevorzugte der andere einen Tisch in einer ruhigen Ecke.

Vollends frei war das Platzsuch- und Essverhalten in Ausflugsrestaurants und in der aufkommenden Fast-Food-Gastronomie. Nur ein paar wenige moderne Betriebe versuchten damals, den amerikanischen Way of Life, in dem das Platzieren fast so üblich war wie in der DDR, auch auf Europa zu übertragen. Bei «Papa Joe’s», das ab 1995 die Schweizer mit amerikanischer Speisenkultur lockte, gehörte (und gehört) das «Wait to be seated»-Schild zum Erlebnis.

Immer mehr Wirte lernen die Platzzuweisung schätzen

Inzwischen allerdings geht auch so manch anderer Betrieb mehr oder weniger konsequent dazu über, nicht mehr auf die Fähigkeit der Gäste zur Selbstauswahl des Sitzplatzes zu vertrauen. Es zeigt sich, dass die kluge Verteilung der hinzuströmenden Kunden angesichts des häufig akuten Mangels an Kellnerinnen und Kellnern Vorteile hat. Lieber jemand, der am Eingang die Arbeit klug verteilt, als ein Chaos an allen Ecken und Enden.

So mancher Gast kennt zudem gar nicht mehr die ungeschriebenen Regeln des Essengehens. Dass man nicht zu zweit einen Sechsertisch blockiert, ist für manche nicht so klar, wie es sich anhört. Und dass mitgebrachten Kindern nicht erlaubt werden sollte, spielend die Gänge zu blockieren, ist für einige Eltern alles andere als selbstverständlich. Dem lästigen Laisser-faire-Trend sollte man begegnen, indem Gästegruppen je nach ihren vermuteten Bedürfnissen separiert werden. Familien nach rechts, Einzelgäste nach links. «Ablaufbeschleunigung» nennen das die Experten.

Ohne Kommunikation geht es nicht

Doch auch die Wirte dürfen sich das Leben nicht zu leicht machen. Die durchaus verbreitete Unsitte, in einem halbleeren Restaurant sämtliche Gäste des Abends in einer Ecke zusammenzupferchen, mehrmals erlebt, mag zwar den Servicekräften einen ruhigen Abend bescheren, hinterlässt bei den Kunden aber ein Gefühl des Befremdens. Auch das obligatorische Aufstellen von «Reserviert»-Schildern auf allen Tisch kann problematisch sein; Gäste merken schliesslich oft, dass diese Vorsichtsmassnahme nicht der Buchungsrealität entspricht, und ignorieren sie folglich.

Und auch das Schild «Wait to be seated» am Eingang wirkt für viele arrogant. Ein Befehl als erster Eindruck vor dem Betreten des Lokals? Lieber nicht. Besser wäre es wohl doch, wohlwollend zu empfangen, persönlich und hilfsbereit. Wie wäre es mit einem «Wir sind gleich für Sie da»? Und auch das Seating könnte mit der Möglichkeit der Wahl zwischen zwei oder drei verschiedenen Tischen verknüpft werden. Auf dass der Kunde sich individuell wertgeschätzt fühle und gar nicht merke, dass ihm in Wirklichkeit ein präzise abgestimmter Platz zugewiesen wird.

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