Montag, Oktober 7

Privatisierungsvorlagen haben einen schweren Stand in der Schweiz. Dies zeigte das Axpo-Debakel in Schaffhausen letzten Sonntag. Dabei ist die Wirtschaft in der Schweiz so offen und international wie in kaum einem anderen Land. Das könnte sich nun aber ändern.

Eine riesige blaue Hand greift nach Schweizer Strommasten, die sich übers Land schlängeln. Die Hand könnte Putin, den Saudi oder den Chinesen gehören, suggerierten die Gegner des neuen Axpo-Vertrages. Dieser wollte den Stromkonzern für private Aktionäre öffnen. Die Propaganda der Gewerkschaften hat beim Schaffhauser Stimmvolk verfangen. Es schickte den neuen Vertrag am letzten Sonntag bachab. Acht Jahre hatten die Axpo-Eignerkantone um das Papier gefeilscht. Nun können sie wieder von vorne beginnen.

Die Schweiz streicht gerne ihre liberale Tradition hervor, wenn es darum geht, sich von der EU abzugrenzen. Bei Privatisierungen hinkt sie der EU aber weit hinten nach. Post, Bahn, Telekom, Strom, Strassen und Wasser sind in der EU zumindest zum Teil in privaten Händen. In der Schweiz sind die Infrastrukturbetriebe hingegen noch staatliche Monopole.

Selbst kleine Öffnungsschritte sind absturzgefährdet, wie das Axpo-Debakel zeigt. An grosse Würfe wagt sich ohnehin niemand mehr heran. Der Wind bläst in die andere Richtung. Die Politik will auch der Privatwirtschaft stärker auf die Finger schauen.

Aufgescheucht durch den Verkauf des Agrochemiekonzerns Syngenta nach China, hatte der Walliser Mitte-Ständerat Beat Rieder vor sechs Jahren eine staatliche Kontrollbehörde für Firmenübernahmen gefordert. In der Herbstsession berät das Parlament nun über eine Gesetzesvorlage. Es brauche eine Bewilligungspflicht, wenn ausländische Konzerne wichtige Schweizer Firmen kaufen möchten, so begründet Rieder seinen Vorstoss.

70 Prozent der Aktien sind in ausländischer Hand

Doch hier stellt sich ein Problem: Die Schweizer Unternehmen sind zum Grossteil bereits ins Ausland verkauft. Von ABB über Nestlé, Novartis, UBS bis zur Zürich-Versicherung befinden sich die Ikonen der Schweizer Wirtschaft längst in ausländischen Händen. Knapp 70 Prozent der Aktien der börsenkotierten Schweizer Unternehmen werden von Ausländern kontrolliert. Der Anteil hat sich in den letzten dreissig Jahren verdoppelt, wie sich aus der Finanzierungsrechnung der Schweiz der Schweizerischen Nationalbank (SNB) ablesen lässt.

Damit ist die Privatwirtschaft das genaue Gegenteil der Infrastrukturbetriebe. Firmen sind in der Schweiz so offen und international wie in kaum einem anderen Land. Während Frankreich seine «champions nationaux» mit Staatsbeteiligungen vor Übernahmen schützt und sich in Deutschland und Italien viele Grossunternehmen in Familienbesitz befinden, kann sich in der Schweiz jeder an einem börsenkotierten Unternehmen beteiligen, der das nötige Kapital mitbringt.

Die grossen Zeiten der «Alpenfestung»

Bis zum Ende des Kalten Krieges war das komplett anders. Die Schweizer Wirtschaft galt im 20. Jahrhundert als hermetisch abgeriegelte «Alpenfestung», wie die Historiker Thomas David und André Mach schreiben. Eine verschworene Elite aus Finanz- und Industriekapitänen hielt mit juristischen Kniffen und Absprachen ausländische Aktionäre fern vom Eingemachten. Ihre Allzweckwaffe hiess Vinkulierung: Der Verwaltungsrat versah die Aktien mit Fesseln (lateinisch «vincula»), die es ihm erlaubten, den Übertrag der Titel auf Ausländer zu blockieren.

Die Abschottung geschah zunächst auf Drängen der Amerikaner und Briten, die nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von Schweizer Firmen den Nachweis der Schweizer Identität verlangten. Nach dem Krieg entdeckten immer mehr Unternehmen die Vorzüge der Vinkulierung: Sie schützte vor aufsässigen Aktionären und garantierte Verwaltungsrat und Direktorium eine maximale Verfügungsmacht.

Abgesichert wurde das wirtschaftliche Reduit durch ein Gentlemen’s Agreement. Als das Bundesgericht die Praxis des Ausschlusses von Ausländern infrage stellte, machte die Elite die Schoten mit einem Abkommen dicht. Die Banken verpflichteten sich darin, «im Namen des übergeordneten nationalen Interesses» Kaufanträge von Ausländern gar nicht erst auszuführen.

Noch 1980 glich die Schweizer Wirtschaft einem kompakten Wollknäuel. Die Firmen waren durch Kapitalbeteiligungen und gegenseitigen Einsitz im Verwaltungsrat verflochten, die Fäden liefen bei Grossbanken und Industriekonglomeraten zusammen.

Bereits im Jahr 2000 war davon nicht mehr viel übrig. Die Alpenfestung war gesprengt, ausländische Aktionäre waren nun hoch willkommen als Kapitalgeber. Im Management hatten ausländische Söldner die Schweizer Offiziere abgelöst.

Kampf zwischen neuen und alten Eliten

Dahinter stand zum einen der Globalisierungsschub nach dem Ende des Kalten Krieges, zum anderen auch ein Machtkampf zwischen alter und neuer Elite. «Neue Akteure wie der Bankier Martin Ebner forderten das alte Establishment heraus», sagt der Lausanner Soziologe Felix Bühlmann. Shareholder Value zählte mehr als Heimatschutz.

Als erste Schweizer Firma strich Nestlé 1988 die Ausländerklausel aus den Statuten. Nicht ganz freiwillig: Der Nahrungsmittelkonzern war international ins Sperrfeuer der Kritik geraten, weil er den britischen Süsswarenhersteller Rowntree’s geschluckt hatte, sich selbst aber abschottete. Andere Schweizer Unternehmen folgten dem Beispiel und führten die Einheitsaktie ein.

Das war das Fanal zum grossen Ausverkauf – und zur grossen Einkaufstour. Schweizer Firmen beteiligten sich an ausländischen Firmen und stiegen zu globalen Playern auf. Für die Aktionäre bedeutete dies eine Bonanza, die Kurse explodierten förmlich. Die Marktkapitalisierung der Schweizer Unternehmen stieg von 1980 bis heute von 76 auf 1878 Milliarden Franken, eine Zunahme von 2400 Prozent.

Dominiert wird das Aktionariat der Schweizer Unternehmen heute von den Fonds-Sparten von UBS und Credit Suisse sowie den amerikanischen Finanzgiganten Blackrock und Vanguard, wie eine Auswertung des Datenanbieters S&P Global zeigt. Sie verkaufen ihren Kunden Anlageprodukte, auf die Geschäftstätigkeit der Firmen nehmen sie keinen Einfluss. Was zählt, ist die Rendite.

Anders liegt der Fall bei anderen Grossinvestoren wie dem norwegischen Staatsfonds Norges Bank und Investor AB der schwedischen Industriellenfamilie Wallenberg. Sie sind zwar langfristig investiert, verfolgen aber auch strategische Ziele. Noch eindeutiger ist dies bei Hedge-Funds wie Cevian Capital, Citadel oder Arrowstreet, die auch einmal das Management einer Firma unter Druck setzen, wenn sie mit dem Kurs nicht einverstanden sind. Auch zahlreiche chinesische Investmentfirmen haben sich am Schweizer Markt eingekauft.

USA fordern Kontrollen in der Schweiz

Für sie könnte die Luft bald dünner werden. Denn die Zeit der grenzenlosen Offenheit der Schweiz neigt sich dem Ende zu. Der Bundesrat will eine Investitionskontrolle einführen. Firmenverkäufe, auch von nicht kotierten Unternehmen, sollen verhindert werden, wenn diese «die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Schweiz gefährden oder bedrohen». Private Finanzinvestoren haben nichts zu befürchten. Staatliche Akteure, die sicherheitsrelevante Schweizer Unternehmen kapern wollen, hingegen schon.

Wollen sie sich etwa an Pharmafirmen, systemrelevanten Banken oder Telekomunternehmen beteiligen, brauchen sie eine Bewilligung. Das gilt auch für Investoren, die zwar wie eine Privatfirma auftreten, aber von einem Staat kontrolliert werden.

Die EU und Industrieländer kennen bereits Investitionskontrollen, die USA ohnehin. Die Schweiz habe Nachholbedarf, sagt Rahul Sahgal, Chef der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer (Swiss Amcham): «Offene Märkte sind wichtig, aber wir müssen sicherstellen, dass Schweizer Firmen nicht für Umgehungsgeschäfte missbraucht werden können», sagt er.

Konkret soll verhindert werden, dass etwa russische oder chinesische Firmen Schweizer Unternehmen kaufen und sich über diese dann an amerikanischen Firmen beteiligen, ohne dass jemand ihren tatsächlichen Eigentümer kennt. Sollte die Schweiz nicht mitziehen, so Sahgal, könnten Schweizer Firmen den Zugang zu High-Tech-Sektoren in anderen Ländern verlieren.

Dies zeigt, wie fundamental sich die Grosswetterlage verändert hat. Wie vor 80 Jahren machen erneut die USA Druck auf die Schweiz. Nicht mehr die Marktöffnung ist die Voraussetzung, um auf dem Weltmarkt mitspielen zu können, sondern die Garantie wirksamer Investitionskontrollen. Geopolitik ist wichtiger geworden als offene Märkte.

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