Freitag, Januar 10

Sind die Deutschen ein Volk von Drückebergern? Der Krankenstand ist jedenfalls vor allem seit zwei Jahren sehr hoch. Deshalb hat Allianz-Chef Oliver Bäte eine Diskussion über die Wiedereinführung eines Karenztages losgetreten. Ist das eine zielführende Idee?

Sie lesen einen Auszug aus dem Newsletter «Der andere Blick am Abend», heute von Michael Rasch, Wirtschaftskorrespondent der NZZ in Frankfurt am Main. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.

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Disziplin, Fleiss und Zuverlässigkeit galten einst als deutsche Tugenden. Im Jahr 1982 parodierte die Band Geier Sturzflug mit dem Lied «Bruttosozialprodukt» («Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt») das deutsche Arbeitsethos. In dem Nummer-1-Hit hiess es beispielsweise: «Die Krankenschwester kriegt ’n Riesenschreck. Schon wieder ist ein Kranker weg. Sie amputierten ihm sein letztes Bein. Und jetzt kniet er sich wieder mächtig rein.»

Diese Zeiten scheinen vorbei, denn nun wird in Deutschland über den hohen Krankenstand und die vielen Fehltage debattiert. Die Diskussion entfacht hatte jüngst Oliver Bäte. Der oft provokative und unverblümte Konzernchef der Allianz schlug angesichts der Krankheitszahlen in einem Interview die Wiedereinführung eines Karenztages vor. Am ersten Krankheitstag würden Arbeiter und Angestellte dann keinen Lohn mehr erhalten. Sind die Deutschen ein Volk von Blaumachern und Drückebergern geworden?

Angst um den Arbeitsplatz hat Folgen

Die Zahlen seit der Wiedervereinigung geben das nicht her. Ökonomisch gesichert ist vor allem der Zusammenhang des Krankenstandes mit der Konjunktur und der Arbeitslosenquote. Wer Angst um seinen Arbeitsplatz hat, meldet sich weniger krank. Das bestätigt auch die langfristige Analyse. Gemessen ab der Wiedervereinigung war die Anzahl der durchschnittlichen Krankheitstage pro Beschäftigten und pro Jahr am niedrigsten im Zeitraum von 2003 bis 2009.

Damals galt das Land als der kranke Mann Europas, die Regierung unter Gerhard Schröder führte die Hartz-IV-Reformen ein, und später kam die Finanzkrise hinzu. Danach stiegen die Krankheitstage jedoch wieder deutlich an, erreichten in den 2010er Jahren aber nie das Niveau von Anfang der 1990er Jahre. Den gleichen Verlauf weist der durchschnittliche Krankenstand der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung auf.

Absolut richtig ist jedoch die Beobachtung, dass die Zahlen seit dem Jahr 2022 förmlich explodiert sind; stark getrieben wurde die Entwicklung von Infektionskrankheiten wie Bronchitis, Corona und Grippe. Dafür ist eine Mischung von Gründen verantwortlich. Die stark forcierte Ansteckungsvermeidung während der Corona-Pandemie hat wohl dazu geführt, dass die Abwehrkräfte gegen Erkältungskrankheiten gesunken sind, was sich jetzt negativ bemerkbar macht. Ferner hat sich das Bewusstsein der Menschen vermutlich erhöht, dass sie andere anstecken könnten. Man bleibt vielleicht auch deshalb eher einmal zu Hause.

Zugleich macht es die telefonische Krankschreibung bei Erkältungssymptomen den Beschäftigten viel leichter, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erhalten. Dies kann dazu geführt haben, dass die sogenannte Bettkantenentscheidung bei Husten, Schnupfen, Heiserkeit vermehrt zugunsten der Option «zu Hause bleiben» ausgefallen ist. Hinzu kommen könnte auch ein statistischer Effekt, weil es durch die im Jahr 2021 eingeführte elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung inzwischen eine lückenlose Erfassung von Krankmeldungen gibt.

Sollte man nicht trotzdem zum Karenztag zurückkehren? In Ländern wie Spanien und Schweden gibt es ihn. In Schweden ist bei Krankheit ferner gesetzlich nur eine Mindestfortzahlung von 80 Prozent des Lohns vorgesehen. Zugleich gilt der Krankenstand in Deutschland im internationalen Vergleich als eher hoch, und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist äusserst grosszügig. Umfragen zeigen darüber hinaus, dass die Arbeitsmotivation im europäischen Vergleich inzwischen unterdurchschnittlich ist.

Nicht zuletzt weisen Statistiken einige Auffälligkeiten aus: So sind jüngere Menschen der Altersgruppe 15 bis 25 Jahre rund doppelt so oft krank wie ältere ab 35 Jahren. Und in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen war im Jahr 2023 der Krankenstand unter Mitgliedern der Betriebskrankenkassen rund 50 Prozent höher als in Baden-Württemberg und Bayern.

Mediziner sollten sich als Wächter verstehen

Nun, ein Karenztag mag die Arbeitsmotivation erhöhen, denn Menschen reagieren auf Anreize. Zugleich würde der Gesetzgeber aber die Ehrlichen bestrafen, die dann unter dem Missbrauch einer kleinen Gruppe litten. Zudem meinen Ökonomen, dass Gewerkschaften den Karenztag in Zeiten knapper Arbeitskräfte in Tarifgesprächen wegverhandeln würden. Und ferner könnten die Krankheitszeiten sogar steigen, wenn auch tatsächlich Kranke vermehrt zur Arbeit gingen und ihre Kollegen ansteckten.

Die Gemengelage ist also komplex. Es würde sicherlich helfen, wenn Ärzte sich stärker als Wächter sähen. Zumindest anekdotisch haben doch viele Menschen schon mitbekommen, dass mancher Mediziner sehr schnell die gewünschte Bescheinigung ausstellt. Dabei könnte es helfen, die während der Pandemie eingeführte telefonische Krankschreibung bei Atemwegsinfektionen wieder abzuschaffen. Das hätte allerdings den Nachteil, dass die ohnehin oft schon überlaufenen Praxen noch voller würden.

Am besten dürfte daher soziale Kontrolle funktionieren, etwa durch Kollegen, Teamchefs und Abteilungsleiter sowie Betriebsärzte. Eine einfache Ansprache nach der Rückkehr zur Arbeit – im Sinn von «Wie geht es dir?», «Fühlst du dich wieder völlig fit?» oder bei einer Häufung auch «Du bist ja nun schon öfters ausgefallen in diesem Jahr» – erweckt nicht nur den Eindruck des Interesses, sondern auch der Beobachtung. Das wirkt ebenfalls.

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