Samstag, November 30

100 Ideen für ein besseres Leben: Frugalisten verzichten über Jahre auf mehr als die Hälfte ihres Einkommens und legen es in Wertschriften an: Was sich einfach anhört, erfordert in Wirklichkeit harte Entscheidungen.

100 Ideen für ein besseres Leben

Wo lebt es sich am angenehmsten in der Schweiz? Warum sind die Finnen so glücklich? Und wie genau geht’s weiter für jene, die zu viel riskiert und alles verloren haben? Die «NZZ am Sonntag» publiziert 100 Geschichten, die Ihnen helfen, durch nicht ganz einfache Zeiten zu navigieren.

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Lars Hattwig hat laut eigenen Angaben geschafft, wovon andere träumen: Der 53-jährige Berliner ist nicht mehr auf einen Job angewiesen. Weder hat er einen Chef, noch trägt er Verantwortung für Angestellte. Er kann arbeiten, wenn er will. Aber er muss nicht. Der Ursprung seiner Freiheit hat einen Namen: Frugalismus. Auf Deutsch bedeutet das lateinische Wort «frugalis»: wirtschaftlich, genügsam, sparsam.

Begonnen hat alles in den nuller Jahren. Hattwig war Anfang dreissig und arbeitete als Meteorologe, leitete sogar ein eigenes Team, als er spürte, dass er nicht sein Leben lang von einem festen beruflichen Einkommen abhängig sein wollte.

Doch das Ziel eines Lebens ohne Chef und Arbeitgeber war damals eine Utopie. Sein Kontostand lag nahe bei null. Was er verdiente, gab er sofort wieder aus. Hattwig machte sich oft Sorgen, dass ihn ein unvorhergesehenes Ereignis in finanzielle Nöte bringen könnte. Ein defekter Kühlschrank oder ein kaputtes Auto wäre ein Desaster gewesen.

Hattwig entwickelte einen Plan: Er begann damit, akribisch zu erfassen, wie viel er für was ausgibt. Er wollte alle unnötigen Ausgaben aus seinem Leben streichen. Er hörte auf zu rauchen, verzichtete auf Markenkleider und verbannte auch alle anderen unnötigen Ausgaben aus seinem Leben. Das so angehäufte Geld wollte Hattwig anlegen, in der Hoffnung, eines Tages von den Erträgen seiner Anlagen leben zu können.

Ohne es zu ahnen, gehörte er mit seinem Lebensmodell zu den Pionieren des modernen Frugalismus.

Die Finanzkrise als grosse Chance

In Nordamerika wurde die systematische Sparsamkeit ab 2011 unter dem Namen «Fire» (eine Abkürzung für: Financial Independence, Retire Early) populär. Die Anhänger der Bewegung sparen teilweise deutlich über die Hälfte ihres Einkommens und investieren es in Aktien, Immobilien und andere Anlagen. Ihr Ziel: das 25-Fache ihrer jährlichen Ausgaben gewinnbringend auf die Seite legen.

Dann, so die Theorie, sollte es möglich sein, jedes Jahr 4 Prozent aus dem Vermögen zu entnehmen, ohne dass dieses schrumpft. Schliesslich legt das investierte Kapital im langjährigen Durchschnitt weiter an Wert zu. Und es fallen Einnahmen in Form von Dividenden und Zinsen an.

Kritiker der «Fire»-Bewegung halten diese Annahmen für übertrieben optimistisch. Denn sie berücksichtigen Transaktionsgebühren und die immer höhere Lebenserwartung nicht. Doch es gibt viele Frugalisten, die daran glauben, dass es möglich sein muss, weit vor dem ordentlichen Rentenalter finanziell unabhängig zu werden. So auch Hattwig, der auf seinem Weg in die Unabhängigkeit zeitweise über seine persönliche Schmerzgrenze hinausging.

Als während der globalen Finanzkrise 2008 die Aktienkurse an den Börsen einbrachen, sah er seine Chance gekommen. Die meisten Wertpapiere waren so günstig bewertet wie schon lange nicht mehr. Er reduzierte seine Ausgaben radikal und versuchte, jeden Cent, den er verdiente, direkt am Aktienmarkt anzulegen.

Finanziell lohnte sich der Ausflug in die extreme Sparsamkeit. Dennoch würde Hattwig die damalige Phase nicht mehr wiederholen. Wer über eine längere Zeit mit so wenig Geld lebe, zahle einen hohen psychischen Preis. «Man stellt sich darauf ein, dass man arm ist. Das ist keine gute Lebenshaltung.»

«Ein unglaubliches Glücksgefühl»

Im Jahr 2015, gut ein Jahrzehnt nach Beginn seiner finanziellen Lebensumstellung, erreichte Hattwig sein Ziel. Er konnte seinen Job als Meteorologe kündigen. Seither lebt er laut eigenen Angaben von den passiven Einnahmen aus seinem Wertschriftenportfolio und seiner Tätigkeit als selbständiger Börsencoach. «Manchmal arbeite ich einige Wochen durch. Wenn ich Lust habe, kann ich aber auch einfach frei machen. Denn völlig egal, was ich tue, das Geld kommt rein. Die Freiheit, meine Zeit so einzuteilen, wie ich möchte, gibt mir ein unglaubliches Glücksgefühl.»

Das Leben als finanziell Unabhängiger hat aber auch Nachteile. Wer von Dividenden und Kapitalerträgen lebt, ist den Gezeiten an den Finanzmärkten ausgesetzt. Wenn es an der Börse wie bei der Corona-Krise Anfang 2020 zu grösseren Abwärtsbewegungen kommt, löst das rasch Existenzängste aus. «In der ersten Zeit, nachdem ich meinen Job aufgegeben hatte, fehlte mir die Sicherheit eines geregelten Lohns», sagt Hattwig.

Das Leben ohne die feste Struktur eines geregelten Jobs ist auch nicht jedermanns Sache. Den meisten Frugalisten ist bewusst, dass sie auch nach Erreichen ihres Ziels eine Struktur brauchen, um nicht in ein psychisches Loch zu fallen. Viele sind wie Hattwig in irgendeiner Form selbständig tätig, oft im Bereich Finanzberatung. Kritiker der Frugalisten-Bewegung sagen deshalb, die finanzielle Unabhängigkeit sei vor allem ein Modebegriff für Selbständigkeit.

Einen Porsche hat Hattwig bis jetzt nicht gekauft, obwohl er könnte. Die Sparsamkeit aus seinen Zeiten als Frugalist ist immer noch da. Aber er leistet sich auf Reisen auch einmal ein Fünf-Sterne-Hotel, was er in seiner aktiven Phase nicht getan hätte.

Per Dauerauftrag in die finanzielle Unabhängigkeit

Hattwig ist überzeugt, dass es jedem guttut, in einem gewissen Ausmass frugalistisch zu leben. «Wer alles Geld sofort ausgibt, das reinkommt, sollte seine Lebensweise hinterfragen.» Als schlechte Vorbilder sieht er prominente Fussballer, die in ihrer Karriere Millionen verdient haben und irgendwann aufgrund ihres exzessiven Lebensstils mit nichts mehr dastehen. «Das ist das Gegenteil von Frugalismus.»

Man müsse auch nicht gleich aufs Ganze gehen. Für Familien mit mehreren Kindern seien hohe Sparquoten schwer machbar. Doch 100 oder 200 Franken monatlich zur Seite zu legen, sei immer noch besser, als einfach von der Hand in den Mund zu leben. Am besten richte man ein «finanzielles Unabhängigkeitskonto» ein, auf das monatlich per Dauerauftrag ein fixer Betrag eingezahlt werde. Hattwig: «Der Automatismus ist zentral – mit der Zeit merkt man gar nicht mehr, dass man spart.»


100 Ideen für ein besseres Leben

Wo lebt es sich am angenehmsten in der Schweiz? Warum sind die Finnen so glücklich? Und wie genau geht’s weiter für jene, die zu viel riskiert und alles verloren haben? Die «NZZ am Sonntag» publiziert 100 Geschichten, die Ihnen helfen, durch nicht ganz einfache Zeiten zu navigieren.

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