Donnerstag, Oktober 10

Zehn Tage nach Kiews überraschendem Vorstoss auf russisches Gebiet herrscht dort eine Mischung aus Chaos und Zensur. Der Vormarsch geht zwar weiter. Doch die Soldaten wissen: Er hat seinen Preis.

Die Besitzerin des kleinen Dorfladens im Nirgendwo macht seit zehn Tagen den Umsatz ihres Lebens. Zwischen den Regalen und der Vitrine mit dem Fisch und dem Joghurt drängen sich die ukrainischen Soldaten. Sie kaufen Wasser, stangenweise Zigaretten, Süssigkeiten, Feuchttücher und Tassen. Eine Verkäuferin bestellt am Handy Waren nach, die andere tippt unablässig auf der Kasse. Es muss schnell gehen: Draussen warten die Pick-ups. Sie bringen die Männer über die russische Grenze, in die Region Kursk.

Dmitro hat seinem Kameraden einen Energydrink mitgebracht. Sie gehören zu einer Einheit von Funkaufklärern. «Brutal schwierig» seien die Kämpfe. «Die Russen schiessen mit Raketen und Drohnen auf uns.» Kürzlich zerstörten sie den Lastwagen, der ihnen das Essen bringen sollte. «Zwei Tage lang sassen wir hungrig in unserer Stellung. Aber wir haben es ihnen hart gegeben.»

Es ist eine spezielle Stimmung, die seit Beginn der ukrainischen Invasion in der Grenzregion Sumi herrscht. Die Freude, nach Monaten des Rückzugs an fast allen heissen Frontabschnitten vorzupreschen, ist spürbar. Die Soldaten lachen, sprechen mit Journalisten, obwohl sie das nicht dürfen: Das Militärkommando hat eine Nachrichtensperre verhängt und lässt keine Medien mehr in die 20 Kilometer breite Grenzzone hinein. Kontrollieren lässt sie sich nur punktuell. Es herrscht kreatives Chaos.

Die löchrige ukrainische Nachrichtensperre

Am Donnerstag hatte der Oberbefehlshaber Olexander Sirski erklärt, seine Soldaten kontrollierten im Nachbarland 1150 Quadratkilometer. Militärexperten glauben, dass die Ukrainer einen Teil des Gebiets nur lose halten, mit mobilen Einheiten und Sabotagetrupps, die Kreuzungen halten, von dort Vorstösse gegen schwache Verteidigungsstellungen machen und sich bei zu viel Widerstand wieder zurückziehen. Die Analysten von Deep State Map weisen gut 500 Quadratkilometer als besetzt aus – und 640 als umkämpft.

Dmitro, der mit seiner dünnen Zigarette im Mund ungebremst redet, schildert eine unübersichtliche Lage. «Zwei Russen suchten ihre Stellung und landeten bei unserer. Sie riefen ‹Guten Tag!›. Wir nahmen sie gefangen.» Beide Seiten berichten über gezielte Versuche der Ukrainer, den Gegner in die Irre zu führen, indem sie russische Uniformen anziehen oder auf gekaperten Funkkanälen Falschmeldungen absetzen.

Allerdings fällt auch ihnen die Orientierung nicht leicht. In Kursk funktioniert Starlink nicht, normalerweise das Rückgrat der Kommunikation in den ukrainischen Stellungen. «Redet bitte mal mit Musk», ruft einer der Männer den Journalisten aus der Schweiz zu. Die Gruppe grölt. Doch die Ukrainer wissen, dass sie verwundbar sind, zumal viele Fahrzeuge ungenügend gegen Drohnenangriffe geschützt sind: Im Gegensatz zum Donbass haben nicht alle Antennen auf dem Dach, die Störsignale senden, um die Drohnen von ihrem Kurs abzubringen.

Auch der Bergepanzer, der auf einem imposanten Tieflader aus Deutschland aufgebockt ist, wurde durch einen Treffer beschädigt. Gerade ist ein Leutnant angekommen, um den Transport zu koordinieren. Ob das Gefährt repariert ist, weiss er zunächst nicht. «Ich sass die letzten Tage in einem Erdloch und habe wenig mitgekriegt.»

Noch während der Offizier redet, rollt der Bergepanzer rückwärts von der Ladefläche. Ein Mechaniker meldet, man sei bereit zur Weiterfahrt. «Das ist unser Taxi nach Kursk», sagt der Offizier und verabschiedet sich. Der Fahrer startet den ohrenbetäubend lauten Motor und setzt den Panzer in Bewegung. Zurück bleibt eine pechschwarze Rauchwolke.

Das unübersichtliche Schlachtfeld von Kursk

Die Geheimhaltung und das unübersichtliche Gefechtsfeld der Operation bedeuten, dass weiterhin wenig bekannt ist über deren Zweck. Doch wer auf den Strassen der Region Sumi unterwegs ist, sieht sofort, dass Nachschub unterwegs ist. Überall verkehren Militärfahrzeuge. Das deutet darauf hin, dass die Ukraine zumindest einen Teil des eroberten Gebiets halten will. Kiew hat zudem einen Militärkommandanten ernannt, der auch für zivile Aufgaben zuständig ist. Die Bevölkerung soll humanitäre Hilfe erhalten, in der Stadt Sumi stehen Fahrzeuge der Uno und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz bereit.

Die Aussagen der ukrainischen Führung lassen eine Mischung aus militärischen und politischen Zielen erahnen. So hiess es diese Woche aus dem Büro des Präsidenten, die Invasion in Kursk solle den Krieg ins Land des Feindes verlagern und die Unfähigkeit der Führung im Kreml aufzeigen. Kiew will ausserdem die Artillerie des Feindes auf Distanz halten und russische Versorgungslinien stören.

Mit dem letzten Ziel ist auch die Hoffnung verbunden, dass der ukrainische Einmarsch Moskau vor allem an der Donbass-Front schwächt und zwingt, Reserven abzuziehen. Dort rücken die Russen seit Monaten vor, im August gar mit erhöhter Geschwindigkeit. Zwar gibt es Meldungen, wonach einzelne ihrer Einheiten verlegt worden seien. Allerdings sind diese laut Experten klein, und auch die Ukraine muss Truppen nach Kursk verschieben.

Im Donbass stehen die Verteidiger unter Druck

Medienberichte und Gespräche der NZZ im Donbass lieferten bisher keine Hinweise darauf, dass die Angriffe abgeflaut sind. So beschreibt Bohdan Janusch, ein Major der 79. Brigade in der belagerten Stadt Kurachowe, intensive Kämpfe. Der Gegner greife mit Panzerkolonnen an und «mit so vielen Drohnen, dass der Himmel aussieht wie über einem Flughafen». In den letzten Wochen trug er als Schütze an einem Granatwerfer dazu bei, mehrere Grossangriffe abzuwehren.

Das Hauptproblem sei, dass der Feind viel mehr Munition habe. Zwar habe sich die Lage dank Lieferungen aus dem Westen jüngst verbessert. «Aber in diesem Krieg verbrauchen wir sehr schnell alles, was neu kommt.» Der Aussage der ebenfalls bei Pokrowsk stehenden 110. Brigade, wonach sich die Knappheit seit der Invasion in Kursk verschärft habe, stimmt Janusch nicht zu. Es bleibe einfach anhaltend schwierig.

Die Frage, ob andere Frontabschnitte durch die Verlegung grosser Material- und Truppenbestände in den Norden übermässig geschwächt werden, bleibt aber auch politisch heikel. Präsident Selenski versicherte deshalb am Donnerstagabend, im Donbass sei zusätzlicher Nachschub eingetroffen. Die russischen Vorstösse gehen aber weiter.

Vieles hängt davon ab, ob es gelingt, die Russen in Kursk nachhaltig zu schwächen. Die Verluste Moskaus sind zweifellos sehr gross, und die Ukrainer nutzen ihre neuen Positionen, um feindliche Militärkolonnen, Logistik-Knotenpunkte und Militärflughäfen weit im Hinterland ins Visier zu nehmen. Der wohl grösste Erfolg Kiews ist aber die Gefangennahme einer präzedenzlos grossen Zahl von gegnerischen Soldaten. Viele dieser Einheiten wurden umzingelt und mussten sich ergeben, über hundert Mann alleine am Donnerstag.

Psychologisch ist das sehr bedeutsam für die Ukrainer, da sie so Trumpfkarten in die Hand bekommen, um die eigenen, viel zahlreicheren Gefangenen auszutauschen. In die Verhandlungen ist in den letzten Tagen eine neue Dynamik gekommen. Für die Einheit von Dmitro, die in Kursk gekämpft hat, ist das eine entscheidende Motivation. «Wir holen so viele der Unsrigen raus wie möglich.»

Die Verluste der Ukrainer

Dmitro glaubt, dass die Ukraine keine andere Wahl hatte, als in Kursk anzugreifen. «Wir müssen die Russen so weit wie möglich zurücktreiben. Aber wir haben grosse Verluste.» Im Hinterland in Sumi richten die feindlichen Gleitbomben grosse Schäden an. Am Donnerstag gelang es den Russen gar, einen wertvollen Himars-Raketenwerfer in Grenznähe zu zerstören. Die ukrainischen Soldaten werden sofort wortkarger und verstecken ihre Fahrzeuge im Wald.

Auch Dmitro und seine Leute steigen in ihren Pick-up. Sie recken die Faust zum Abschied in die Luft. Die Einheit ist erschöpft und wird nun erst einmal einige Tage zur Erholung in der Region Sumi verbringen. Danach kehrt sie zurück nach Kursk – im Wissen, dass sich der Vorstoss verlangsamt hat und die Russen Nachschub herbeischaffen. Die nächste Kraftprobe beginnt in dem Moment, da die Ukrainer die besetzten Gebiete auch halten müssen.

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