Dienstag, April 22

Obwohl Ursula von der Leyen mit Giorgia Meloni befreundet ist, wachsen in Italien die Zweifel an einer zweiten Amtsdauer der EU-Kommissions-Präsidentin. Schlägt die Stunde für «Super-Mario»?

Ein Vortrag von Mario Draghi in Belgien hat in Italien die Spekulationen befeuert, wonach der frühere Regierungschef und ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank nach den Europawahlen vom kommenden Juni an die Spitze der EU-Kommission gewählt werden könnte. Draghi hatte bei seinem Auftritt in La Hulpe bei Brüssel erstmals einen Einblick in einen Bericht gewährt, den er im Auftrag der amtierenden EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen ausarbeitet und nach den Wahlen vorstellen wird.

Von Draghis Bericht erwartet die EU-Spitze wichtige Hinweise darauf, wie die Wettbewerbsfähigkeit der Union verbessert werden könnte. Die EU sieht sich zunehmend herausgefordert durch China, aber auch durch ein unberechenbarer gewordenes Amerika und ganz generell durch ein konfrontativeres geopolitisches Umfeld.

Das Organisationsmodell der EU, ihre Entscheidungsprozesse und ihre Finanzierung seien veraltet, sagte Draghi auf der Konferenz, konzipiert für eine andere Zeit, jene vor der Pandemie und vor dem Krieg in der Ukraine. Es brauche einen neuen Integrationsschub mit mehr Mehrheitsentscheidungen, gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen und Leadership, vor allem im Bereich der digitalen Innovationen. Kurzum: Die EU brauche einen radikalen Wandel.

Italiens wichtige Rolle

In Italien hat man den Auftritt sogleich als eine Art «Wahlprogramm» interpretiert. Draghis klare Sicht auf die europäischen Herausforderungen mache ihn zum besten Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten – gerade in der jetzigen unruhigen Zeit.

Nun wird sein Name in Italien immer wieder genannt, wenn es um die Besetzung von nationalen und internationalen Spitzenpositionen geht. Draghi ist in seiner Heimat ein unangefochtener Star. Über alle Parteigrenzen hinweg wird seine Umsicht, Kompetenz und Entscheidungsfreudigkeit gelobt. Und hinter vorgehaltener Hand wünscht sich mancher Unternehmer Draghi zurück in den Palazzo Chigi, den Sitz des Regierungschefs in Rom, wo der frühere EZB-Präsident von Februar 2021 bis Oktober 2022 gewirkt, Italien aus der Covid-Krise und zurück in den inneren Kreis der grossen europäischen Nationen geführt hat.

Dass er jetzt wieder prominent gehandelt wird, ist also nicht erstaunlich. Aber es handelt sich um mehr als eine Gedankenspielerei. Italien dürfte bei der Besetzung der EU-Kommissions-Spitze eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Alle drei Koalitionsparteien der Regierung von Giorgia Meloni – Fratelli d’Italia, Forza Italia und Lega – werden nach aller Voraussicht zu den Wahlsiegern gehören. Sie sind jedenfalls Mitglieder von Parteienfamilien im Europaparlament, denen ein gutes Abschneiden vorausgesagt wird.

Die Fratelli d’Italia zählen zu den Europäischen Konservativen und Reformern, die von Aussenminister Antonio Tajani geführte Forza Italia gehört zur Europäischen Volkspartei (EVP) von Ursula von der Leyen, die Lega von Matteo Salvini wiederum zur weit rechts stehenden Parteienfamilie «Identität und Demokratie».

Lange stand für Giorgia Meloni und Tajani ausser Frage, dass sie von der Leyens Wiederwahl unterstützen würden. Meloni und von der Leyen verbindet eine persönliche und politische Freundschaft, und Tajani gilt als EVP-Mann ohnehin als Verbündeter seiner Parteifreundin.

Doch in letzter Zeit sind auch Meloni und Tajani zurückhaltender geworden. Die Einleitung von Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft gegen die Kommissionspräsidentin wegen angeblich zweifelhafter Deals bei der Beschaffung von Covid-Impfstoffen sowie umstrittene Personalentscheide von der Leyens sind nicht ohne Folgen geblieben. Zudem haben ihr «Green Deal» und die damit verbundene angekündigte Abkehr vom Verbrennungsmotor in der EU im Autoland Italien für erheblichen Unmut gesorgt.

«Nonno» im Dienst der Institutionen

Von der Leyens Popularität sinkt – trotz ihren zahlreichen Auftritten in Italien. Tajani sagte vor zehn Tagen gerade noch, die Deutsche sei «im Moment» die Kandidatin der EVP, und fügte hinzu: «Wir werden sehen.» Und Meloni will sich als schlaue Strategin nicht vorwerfen lassen, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben. Ausserdem muss sie mit Matteo Salvini einen Koalitionspartner im Zaun halten, der schon jetzt aktiv Wahlkampf gegen von der Leyen macht.

In dieser Situation kommt der Name von Mario Draghi allen gelegen. Selbst Salvini könnte es sich kaum leisten, sich querzulegen. Gerade in den Lega-Stammlanden im Norden Italiens geniesst Draghi einen hervorragenden Ruf. Meloni wiederum hat als frühere Oppositionspolitikerin immer konstruktiv mit ihm zusammengearbeitet. Die beiden verstehen sich gut, ausserdem stellt es sich Meloni wohl angenehmer vor, mit jemandem an der Spitze der Kommission zu verhandeln, der die komplexen Verhältnisse Italiens gut kennt, als mit einem Rigoristen aus Nordeuropa.

Und was sagt Draghi selbst zu einer möglichen Kandidatur? Nichts. Er lässt nur durchblicken, dass er nicht im Rennen sei. Ähnlich tönte es allerdings vor seinem Einzug in den Palazzo Chigi. Und als man ihn Ende 2021 fragte, ob er sich für das Staatspräsidium zur Verfügung stelle, antwortete er, damals 74 Jahre alt: «Ich habe keine besonderen Ambitionen, weder in die eine noch in die andere Richtung. Ich bin ein Mann, ein Grossvater, wenn Sie so wollen, der im Dienste der Institutionen steht.» Man deutete es damals als – wenn auch etwas verklausulierte – Kandidatur.

Draghi: «Sono un uomo, un nonno al servizio delle istituzioni»

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