Beraterbanken des Börsenneulings ziehen den Vergleich zu den Kursraketen Wolters Kluwer und Relx, doch der trügt. Ein Fälschungsskandal zeigt die Risiken des Geschäfts auf. Abschreckend wirkt die Entmachtung der Neuaktionäre durch die Alteigner mittels einer raren Rechtsform.
Die Springer-Nature-Aktien werden sieben Wochen nach dem Börsengang am 4. Oktober bei 25 € gehandelt, rund 10% über dem Ausgabepreis von 22.50 €. Der Börsenwert des Wissenschaftsverlags von damals 4,8 Mrd. € war der höchste bei einer Frankfurter Neuemission seit dem Start von Porsche vor zwei Jahren.
Das Interesse der Anleger wirkt auf den ersten Blick verständlich. Die Konsortialführer Deutsche Bank, JPMorgan und Morgan Stanley vergleichen den Neuling nicht zuletzt mit zwei veritablen Kursraketen: Wolters Kluwer und Relx.
Die oben dargestellten Informationsdienstleister besitzen Daten, die für Wirtschaft und Wissenschaft unverzichtbar sind. Digitalisierung und künstliche Intelligenz sollen neue Wege schaffen, diese Daten zu nutzen.
Das Gewinnwachstum des Führungsduos hat mit der Begeisterung der Anleger indes nicht mithalten können.
Mitte November haben Banken erstmals ausführliche Studien zum Börsenneuling veröffentlicht. Springer Nature ist demnach deutlich niedriger bewertet als das Spitzenduo.
Aber das Geschäft ist sehr unterschiedlich. Bei genauem Hinsehen ist Springer Nature besser vergleichbar mit dem US-Wissenschaftsverlag John Wiley und weist kaum in den Medien thematisierte Risiken auf.
Die nicht am Börsengang beteiligte Investmentbank Barclays hat den Anteil des Geschäfts mit wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern bei verschiedenen Informationsdienstleistern untersucht. Er liegt teils weit niedriger als in Studien der zuvor mandatierten Banken.
Co-Konsortialführer Deutsche Bank gibt zum Beispiel an, dass der Geschäftsteil WK Health von Wolters Kluwer 27% des Umsatzes und 31% des bereinigten Gewinns ausmache. Das relevante Geschäft mit «Health Learning, Research and Practice» (HLR&P) erzielt aber lediglich 44% des Umsatzes der Sparte Health, was den unten in unserer Tabelle genannten Wert von 12% ergibt.
Die Zahlen zeigen, dass nur Springer Nature und der US-Rivale Wiley das Gros ihres Umsatzes als Wissenschaftsverlage erzielen. Wolters Kluwer und Relx dagegen leben von Finanz- und Rechtsinformationen für Unternehmen. Und das, obwohl Relx dank Elsevier mit 22% Marktanteil führend bei wissenschaftlichen Zeitschriften ist, noch vor Springer Nature (14%).
Wiley zeigt, was bei Wissenschaftsverlagen alles schiefgehen kann. Am 9. März 2023 kappte das US-Unternehmen die Jahresprognose. Die 2021 übernommene Tochter Hindawi in London hatte massenhaft gefälschte Forschungsergebnisse veröffentlicht. Bis heute musste Wiley rund 12‘000 Artikel von Hindawi zurückziehen.
Infolge der Probleme fiel Wileys Aktienkurs vom Zwischenhoch bei fast 50 $ im Februar 2023 zeitweise auf weniger als 30 $.
Das Risiko, zum Opfer von massenhaftem Betrug zu werden, besteht auch bei Springer Nature. Die Fälscher bei Hindawi waren «Paper Mills» (Artikelfabriken), die gegen Bezahlung für Möchtegern-Autoren Studien generieren und einschleusen.
Im Börsenprospekt legt Springer Nature einen grossen Betrugsfall im eigenen Haus offen. «In diesem Jahr haben wir eine bedeutende Zahl von uns veröffentlichter Artikel identifiziert, die möglicherweise infiltriert waren», heisst es dort. «Die Ermittlungen dauern an und könnten viele Rücknahmen von Artikeln zur Folge haben, was unserer Reputation schaden könnte.» Auch Ende Oktober weiss Springer Nature offenbar noch nicht, wie viele Zeitschriften und Artikel betroffen sind. «Weil der Prozess der Überprüfung wie beschrieben fortlaufend ist, können wir derzeit leider keine belastbaren Zahlen benennen», teilte das Unternehmen mit.
In der Wirtschaftspresse blieb der Grossbetrug bei Springer Nature weitgehend unbeachtet. In der Wissenschaft ist er jedoch ein vielbeachteter Skandal. «Springer Nature hat noch immer diese umfangreichen Rückrufe. Sie müssen handeln, um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden wie Wiley», sagt der Mediziner und Medienwissenschaftler Ivan Oransky von der New York University. Er ist einer der Betreiber der Internetseite Retraction Watch. Dort sind mehr als 800 zurückgerufene Artikel für Springer-Nature-Publikationen im Jahr 2024 dokumentiert.
Als Risikofaktor für Springer Nature bezeichnet Oransky das Ende 2022 übernommene Start-up Cureus, das eine Online-Community-Plattform für «schnellere und kostengünstigere Veröffentlichungen» nutzt, wie es in einer Pressemitteilung heisst. «Cureus scheint ernsthafte Probleme mit der Qualitätskontrolle zu haben», kritisiert Oransky. Der Branchenkenner sieht dennoch keine signifikante Beschädigung der Reputation von Springer Nature, insbesondere wegen der Strahlkraft der wichtigsten Marke Nature. «Der Ruf von Nature hat sich als recht kugelsicher erwiesen», sagt Oransky. Die meisten Wissenschaftler würden immer noch wollen, dass ihre Arbeit in Nature-Zeitschriften erscheint.
Zur Bedrohung durch die Fälscher kommt ein weiteres Risiko: Das Geschäftsmodell befindet sich in einem grundlegenden Umbruch zu frei zugänglichen Artikeln (Open Access). Schon 40% des Umsatzes der Branche stammen von Forschern und ihren Universitäten, die eine Gebühr für die Veröffentlichung bezahlen.
Das negative Szenario hat Springer Nature als Risikofaktor im Börsenprospekt ausformuliert: «Der wachsende Gebrauch von Open-Access-Modellen könnte die Nachfrage nach abobasierten Zugangsvereinbarungen reduzieren. Die Verarbeitungsgebühr für Artikel kann diesen Nachfragerückgang eventuell nicht kompensieren.»
Nach der optimistischen Sicht in den Analystenberichten ist die Revolution eine Chance. Weil Universitäten meist mehr Geld für Forschung bereitstellen als für Bibliotheken, werde sich das Branchenwachstum von 2,5 bis 3% pro Jahr auf 3 bis 4% beschleunigen, prognostiziert JPMorgan. Dafür spricht aus Sicht der Grossbank, dass Universitäten «typischerweise» 2900 € pro Artikel je Veröffentlichung durch Springer Nature zahlen. Der durchschnittliche Umsatz pro Artikel sei nur etwa halb so hoch (1500 €).
Der Abo-Umsatz pro Artikel bei Springer Nature ist demnach aber nur halb so hoch wie im Rest der Brache (2985 €). Ein Hauptgrund: Rund 40% der Zeitschriften bei Springer Nature gehören wissenschaftlichen Gesellschaften. Die Verträge laufen meist drei bis sieben Jahre. JPMorgan bezeichnet die «relative Abhängigkeit von Society Journals» als Schwäche, weil sie die Marge begrenze und die Vertragsverlängerungen unsicher seien.
In den ersten neun Monaten 2024 ging der Umsatz von Springer Nature 1,1% auf 1,4 Mrd. € zurück. Das bereinigte Betriebsergebnis verharrte bei 380 Mio. €. Das liege vor allem am Verkauf eines Teilgeschäfts Mitte 2023 und an Währungseffekten, erklärte das Unternehmen. Die bei Bloomberg erfassten Analysten prognostizieren, dass der Umsatz von 2025 bis 2028 jedes Jahr mehr als 3,7% steigt. Das Ebitda soll mehr als 5% zulegen.
«Das Wachstum von Springer Nature ist relativ niedrig», sagt Baki Irmak, Gründer und Chief Investment Officer des Digital Leaders Fund. «Daran gemessen ist die Bewertung nicht sonderlich günstig, trotz der erfreulich hohen Marge.» Dazu kommt: Auch nach Einsatz des Emissionserlöses von 200 Mio. € zum Schuldenabbau ist das Unternehmen mit dem 2,5-fachen des Ebitda recht hoch verschuldet.
Geradezu abschreckend für Investoren ist eine Sonderregel, mit der die Alteigentümer von Springer Nature ihre Macht zementiert haben. Das Unternehmen in seiner heutigen Form ist 2015 entstanden, als die Holtzbrinck Publishing Group und die Beteiligungsgesellschaft BC Partners ihre Wissenschaftsverlage fusionierten. Nach dem Börsengang halten sie zusammen 86,6% der Aktien: Holtzbrinck besitzt 50,6% und BC Partners 36%.
Springer Nature hat 2018 die Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) als Rechtsform gewählt. Neben der börsengehandelten KGaA steht jedoch als wahres Machtzentrum eine Springer Nature Management AG, an der nur Holtzbrinck und BC Partners Anteile besitzen. Es gibt gleich zwei Aufsichtsgremien. An den entscheidenden Stellen finden sich jedoch hier wie dort meist Haupteigentümer Stefan von Holtzbrinck, BC-Partners-Führungskraft Nikos Stathopoulos oder langjährige Vertraute wie Ex-Merck-Chef Stefan Oschmann.
Der AG-Aufsichtsrat kontrolliert die operative Unternehmensführung. Die mehrheitliche Zustimmung der fünf AG-Kontrolleure ist bei vielen entscheidende Fragen nötig: bei der Festlegung des Budgets, bei Veränderungen der Geschäftsstrategie, bei Übernahmen und bei Verträgen mit wichtigen Angestellten, schreiben Deutsche Bank und JPMorgan.
Nur wenn der gemeinsame Anteil der Altaktionäre unter 20% fallen sollte, wird die KGaA in eine AG umgewandelt, schreibt JPMorgan-Analyst Daniel Kerven. Am Sinn des Status Quo hat er keinen Zweifel: «Hauptmerkmal der Struktur ist, dass sie den Altaktionären die operative Kontrolle über das Unternehmen sichert, falls ihr Anteil unter 50% fallen sollte.»
In der Presseberichterstattung zum Börsengang blieb die ungewöhnliche Struktur unbeachtet. Springer Nature nennt das Thema dagegen als Risikofaktor im 499 Seiten langen Börsenprospekt. Nur wenige börsengehandelte Unternehmen hätten die KGaA-Struktur für sich gewählt: «Die Kapitalmärkte könnten nicht vertraut sein mit dieser Rechtsform, was den Aktienkurs negativ beeinflussen könnte.»
Springer Nature ist erheblichen Risiken ausgesetzt. Die Gefahr massenhafter Fälschungen ist real. Dagegen ist offen, ob die Revolution des Bezahlmodells den Verlagen hilft oder schadet.
Selbst wenn es Springer Nature gelingen sollte, den Umsatz seiner wissenschaftlichen Publikationen mittelfristig um 5 bis 6% pro Jahr zu steigern, wie JPMorgan prognostiziert, und die Marge so hoch bleibt wie zuletzt, erscheint der Preis dafür recht hoch. Springer Nature weist einen beträchtlichen Bewertungsaufschlag zum relevantesten Wettbewerber Wiley auf. Ausserdem sind die Minderheitsaktionäre vom fairen Verhalten der beiden Haupteigentümer abhängig.
Eine Investition drängt sich daher nicht auf.