Im vergangenen Jahr suchten deutlich mehr Menschen Hilfe beim Beratungsnetz für Rassismusopfer. Dies ist Ausdruck eines verbesserten Angebots für Betroffene – aber auch einer aufgeheizten Stimmung.
Dieser Vorfall ist schon fast grotesk. Ein unbescholtener Mann sitzt in einer Schweizer Stadt in seinem Stammrestaurant. Plötzlich stehen Uniformierte vor ihm, kontrollieren ihn, führen ihn in Handschellen ab. Die Polizei hält ihn stundenlang auf dem Revier fest. Er muss eine Leibesvisitation hinnehmen. Angeblich soll der Mann einem Dieb gleichen. Als die Fahnder ihm das Bild des Verdächtigen zeigen, wird die Situation absurd: Die Polizei sucht einen weissen Mann. Der Abgeführte ist dunkelhäutig.
So beschreibt das Beratungsnetz für Rassismusopfer einen Fall aus dem vergangenen Jahr. 1211 Mal suchten Betroffene rassistischer Diskriminierung Hilfe bei den 24 kantonalen Stellen. Das zeigt die neuste Auswertung, die das Beratungsnetz neulich veröffentlichte. Im Vergleich zu 2023 stiegen die gemeldeten Vorkommnisse um 40 Prozent.
Als häufigsten Grund nannten die Betroffenen Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit (35 Prozent). Die meisten von ihnen erlebten diese Ausgrenzung an ihrem Arbeitsplatz. An zweiter Stelle folgt Rassismus gegen Schwarze. Davon waren vor allem Kinder in der obligatorischen Schule betroffen.
Ist die Schweizer Bevölkerung fremdenfeindlicher geworden? Das lässt sich aus diesen Daten nicht schliessen. Auch die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) betont dies. «Wir sind zurückhaltend», sagt die EKR-Geschäftsleiterin Alma Wiecken. «Es wäre falsch, zu sagen, dass Rassismus um 40 Prozent zugenommen hat.» Dennoch liefern die neusten Daten eine Aussage über die Lage im Land. Sie zeigten: «Rassismus ist ein reales Problem.»
Die Daten der Beratungsstellen sind ein Anzeichen, die Studie des Bundesamts für Statistik ein weiterer Anhaltspunkt. In der Erhebung «Zusammenleben Schweiz» vom August 2024 gaben 16,7 Prozent der Befragten an, sich in den letzten fünf Jahren rassistisch diskriminiert gefühlt zu haben. 2010 waren es noch 7,4 Prozent.
Multikrisen und Frustration
Die Gründe für den sprunghaften Anstieg sieht die EKR in einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Die kantonalen Stellen führen Veranstaltungen durch, um Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Seit 2016 gibt es in allen Schweizer Regionen entsprechende Anlaufstellen. Je länger diese bestehen, desto bekannter wird ihr Angebot. Opfer von Diskriminierung suchten heute häufiger und schneller Hilfe, so Wiecken.
Doch das alleine erkläre den starken Anstieg an gemeldeten Fällen nicht. Er bleibt bemerkenswert. «Ein Grund dafür ist die politische Grosswetterlage», sagt Wiecken, «die allgemeine Stimmung ist aufgeladen, und Hemmungen, sich rassistisch oder antisemitisch zu äussern, sinken.» Pandemie, Ukraine, Nahost. Die Zeit der Multikrisen belastet viele Menschen. Im Jahresbericht sind auch Fälle mit Gewalt dokumentiert. Frauen mit Kopftuch seien beschimpft, ihr Kopftuch sei heruntergerissen worden. Die Hemmungen sänken. Das werde auch bei Vorfällen im Netz sichtbar, so Wiecken.
Was darf gesagt werden, wo sind die Grenzen? Es scheint, dass sich die Normen wieder verändern. Cancel-Culture, Wokeness und kulturelle Aneignung sind ein Teil der Anti-Rassismus-Bewegung. Und sie stehen stark in der Kritik, gerade durch den Rechtspopulismus, der in grossen Teilen Europas und auch in den USA an Zuspruch gewinnt. Bemühungen der Anti-Rassismus-Arbeit würden instrumentalisiert und ins Lächerliche gezogen, beobachtet Wiecken. Man dürfe nichts mehr sagen, poltern die Gegner.
Und deshalb wird vielleicht wieder stärker rassistisch gewettert. Obwohl die Welt globaler wird, die Schweiz durchmischter. Das macht die Menschen nicht gleichzeitig toleranter. «Globalisierung führt auch zu Ängsten», sagt Wiecken. Am stärksten nahm im vergangenen Jahr antimuslimischer Rassismus zu. Die Anlaufstellen behandelten 209 Fälle, was 17 Prozent aller Fälle entsprach. Antisemitismus blieb mit 66 Fällen auf konstant hohem Niveau. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) schreibt auf Anfrage, dass die Fälle im EKR-Bericht nur einem Teil der Realität entsprächen. Die eigene Meldestelle registrierte mehr als 500 Meldungen. Im Zuge des Nahostkriegs hätten sich die Vorfälle auf beispiellos hohem Niveau verfestigt. Zudem seien die Übergriffe intensiver geworden.
Zahlreiche Fälle an Schulen
Wie auch im Jahr 2023 stammten 2024 die meisten gemeldeten Fälle beim Beratungsnetz für Rassismusopfer mit 19 Prozent des Gesamtanteils aus Schulen. Rassistisch motiviertes Mobbing, eingeritzte Hakenkreuze auf Schulbänken, gegrölte Lieder aus der NS-Zeit. «Das muss ein Alarmzeichen für die Gesellschaft sein», sagt Wiecken. Es brauche mehr Prävention.
Die neusten Zahlen zu Rassismus in der Schweiz erstaunen den Aktivisten Kanyana Mutombo nicht. «Sie sind die Realität», sagt der Spezialist für internationale Beziehungen und ehemalige Beauftragte des Anti-Rassismus-Programms bei der Unesco. Mutombo sagt: «Man packt den Stier nicht bei den Hörnern, sondern streichelt ihn nur ein wenig, damit er nicht zu brutal wird.» Wie jüngste Daten belegen, sieht auch der Leiter der afrikanischen Volkshochschule Genf Handlungsbedarf bei den Jüngsten, in der Schule. In der Pädagogik werde noch zu wenig unternommen.
Er selbst hat in mehreren Westschweizer Kantonen Schulen besucht und Projekte geleitet. Dabei hat er mit den Kindern oft eine Kurzgeschichte Friedrich Dürrenmatts gelesen: «Die Virusepidemie in Südafrika». Im damals von der Apartheid geprägten Land werden die Weissen von einer Epidemie befallen, die alle schwarz werden lässt. Die Geschichte zeigt: Wir alle sind gleich. An den Schulen könne man viel erreichen. Er erkenne aber noch zu wenig Wille dazu.