Dienstag, Oktober 22

Trotz strengerem Gesetz bei Vergewaltigungen bestehe im Umgang mit Sexualstraftaten in der Schweiz ein gesellschaftlicher Nachholbedarf. Das sagt Patrizia Krug, Erste Staatsanwältin im Kanton Baselland.

Seit knapp drei Monaten ist das neue Sexualstrafrecht in Kraft. Inwiefern macht sich dies bei Ihrer Arbeit bemerkbar?

Dafür ist es noch zu früh. Fälle, die vor dem 1. Juli stattgefunden haben, werden ja noch nach altem Recht beurteilt. Und die Anzahl der Anzeigen, die seit dem Inkrafttreten des neuen Rechtes bei uns eingegangen sind, ist bis jetzt überschaubar geblieben. Urteile nach neuem Recht gibt es noch keine. Wir stellen aber fest, dass es zu neuen Abgrenzungsproblemen kommen könnte.

Inwiefern?

Das neue Recht folgt einer etwas anderen Konzeption. Es stellt sich deshalb für uns die Frage, wo die Grenze zwischen einer sexuellen Belästigung und einem sexuellen Übergriff genau verläuft. Bei Fällen, die früher als sexuelle Belästigung gewertet wurden, werden wir im Zweifel neu von einem sexuellen Übergriff ausgehen müssen. Dabei handelt es sich um ein Offizialdelikt, das mit einer höheren Strafe bedroht ist. Aber für eine abschliessende Beurteilung ist es auch hier noch zu früh.

Was erhoffen Sie sich von der Revision auf längere Sicht?

In anderen Ländern zeigt sich, dass die Zahl der Anzeigen nach der Revision zugenommen hat. Davon gehen wir grundsätzlich ebenfalls aus. Aus meiner Sicht wäre dies zu begrüssen – aber es würde auch bedeuten, dass wir mehr Arbeit bekämen.

Zeichnet sich eine solche Entwicklung schon ab?

Bis jetzt nicht. Und die Frage bleibt, ob eine Änderung des Gesetzes dafür ausreicht. Es gibt Studien, die zeigen, dass 60 Prozent der Opfer aus Scham nicht zur Polizei gehen. Wir haben es also mit einem gesellschaftlichen und nicht in erster Linie mit einem juristischen Problem zu tun.

Das Bundesgericht hat letzte Woche in einem neuen Urteil klargemacht, dass sich die kurze Dauer einer Vergewaltigung nicht strafmildernd auswirken darf. Was bedeutet das für die Praxis?

Wir sind daran, dieses Urteil genau zu analysieren. Wir gehen aber davon aus, dass das Bundesgericht seine Praxis inhaltlich nicht geändert hat. Es hat vielmehr einen früheren Entscheid für missverständlich erklärt: Es hat klargemacht, dass die Bezeichnung «Vergewaltigung von kurzer Dauer» ein Unding darstellt und eine kurze Dauer nie zugunsten der Täterschaft verwendet werden darf. Zu Recht, denn die Verletzung des Opfers findet vom ersten Moment der sexuellen Handlung an statt.

Die Dauer einer Vergewaltigung spielt also keine Rolle?

Eine kurze Dauer darf sich jedenfalls nicht strafmindernd auswirken. Das geschützte Rechtsgut ist von Anfang an verletzt. Umgekehrt kann sich eine wirklich lange Dauer straferhöhend auswirken. Im Strafgesetz ist sogar ausdrücklich vorgesehen, dass eine Vergewaltigung mit mindestens drei Jahren Freiheitsentzug bestraft wird, wenn die Täterschaft besonders grausam handelt. Es kommt allerdings bei der Strafzumessung längst nicht nur auf die Dauer der Tat an.

Sondern?

Beurteilt wird das gesamte Verhalten der Täterschaft. Schliesslich wird bei einer Vergewaltigung das Rechtsgut nicht «nur» durch die Penetration verletzt, sondern insgesamt durch die Verletzung der sexuellen Integrität und der Selbstbestimmung. Es geht um die durch die Täterschaft geschaffene Zwangslage, das Ausgeliefertsein, die Machtlosigkeit, die Demütigung und den sexuellen Übergriff insgesamt. Und beurteilt wird schliesslich auch die Täterschaft.

Und wie wird das Verhalten des Opfers berücksichtigt?

Ein Strafmilderungsgrund kann gemäss dem Strafgesetzbuch sein, wenn die Täterschaft durch das Verhalten der verletzten Person ernsthaft in Versuchung geführt wird. Das wird teilweise von der Verteidigung vorgebracht. Ich persönlich finde das im Bereich der Sexualdelikte unangebracht.

Es fällt auf, dass die Gerichte die Strafrahmen oft nur zu einem kleinen Teil ausschöpfen. Ist die Justiz im Umgang mit Sexualstraftätern zu milde?

Ich bin dieser Ansicht, ja. In sehr vielen Fällen wird eine Strafe von zwei bis vier Jahren ausgesprochen. Ich frage mich oft, was es braucht, damit das Gericht höhere Strafen ausspricht. Immerhin sieht das Gesetz für Vergewaltigung eine Strafe von bis zu zehn Jahren vor! Selbst bei Taten, die so brutal sind, dass ich mir gar nichts Schlimmeres vorstellen kann, sehen die Gerichte oft von der Höchststrafe ab.

Wieso beantragen Sie keine höheren Strafen?

Das tun wir. Auch wir müssen uns an ähnlich gelagerten Fällen orientieren, können aber versuchen, die Praxis für die Zukunft zu ändern.

Wie beurteilen Sie die Forderung nach Anhebung der Mindeststrafen für Sexualdelikte?

Aus der Sicht der Staatsanwaltschaft könnte dies durchaus sinnvoll sein. Andere Länder haben dies getan, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Reform des Sexualstrafrechtes nicht zu höheren Strafen geführt hat. Aber es ist ein zweischneidiges Schwert.

Weshalb?

Die Palette der Sexualstraftaten ist sehr gross. Von leichten Übergriffen bis zur brutalen Vergewaltigungen gibt es eine sehr grosse Bandbreite. Das rechtfertigt einen grossen Strafrahmen, den wir bereits heute haben. Er müsste einfach vermehrt ausgeschöpft werden.

Wie hat sich der Umgang mit Sexualstraftätern in den letzten Jahren aus Ihrer Sicht verändert?

Mein Eindruck ist, dass das Bewusstsein für die Lage der Opfer bei den Ermittlungsbehörden und bei den Gerichten grösser geworden ist. Wenn ich gewisse Urteile lese, muss ich allerdings sagen: Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ich möchte jetzt keine einzelnen Urteile zitieren. Aber es ist kein Zufall, dass in den letzten Jahren Urteile in Vergewaltigungsfällen immer wieder zu Diskussionen geführt haben. Manchmal vermisse ich den Fokus auf die Täterschaft und auf das, was sie getan hat.

Wo sehen Sie den grössten Nachholbedarf?

In der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Sexualität und im Umgang mit sexuellen Übergriffen. Solange sich immer noch die Opfer statt die Täterschaft schämen müssen, sind wir noch lange nicht am Ziel. Die Gerichte können hier mit sensibleren Formulierungen in ihren Urteilen eine Vorbildfunktion übernehmen. Aber der Wandel muss in der Gesellschaft stattfinden: Es muss noch viel deutlicher werden, dass die sexuelle Integrität des Gegenübers in jedem Fall geschützt werden muss.

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