Die Kommunikation des Bundes zu den EU-Verträgen war zum Teil unglücklich. Auch diese Woche wieder in Sachen Schutzklausel. Doch das sollte nicht vom Wesentlichen ablenken.

Da soll noch einer sagen, in der Schweiz habe im Tiktok- und Youtube-Zeitalter niemand mehr Lust zum Lesen. Zumindest politisch interessierte Kreise scheinen derzeit danach zu lechzen, einen garantiert staubtrockenen Wälzer von etwa 800 Seiten zu verschlingen – die Texte der Verträge Schweiz – EU, die das künftige bilaterale Verhältnis vor allem in Sachen gegenseitiger Marktzugang regeln sollen. Der Bundesrat verlangt hier vom Publikum offenbar fast Unmenschliches: Geduld bis im Juni. Dann will er die Vertragstexte zum Start der Vernehmlassung veröffentlichen, zusammen mit den notwendigen Gesetzesanpassungen im Inland.

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Seit dem vergangenen Dezember liegen zwar Faktenblätter des Bundes mit der Beschreibung von zentralen Elementen der Verträge vor. Doch manche Interessenten wollten der Sache nicht trauen und stattdessen möglichst rasch die Vertragstexte im Original sehen. Der Bund reagierte mit der Offerte eines Kurzeinblicks für einige auserwählte Eminenzen etwa aus Parteien, Verbänden und Gewerkschaften. Der Schuss ging indes nach hinten los: Exponenten des gemeinen Fussvolks, namentlich «normale» Parlamentarier, konnten sich darüber aufregen, dass sie offiziell Bürger zweiter Klasse waren. Eine Einladung war dies vor allem für die Kritiker des EU-Vertrags. Das Aussendeaprtement zeigte sich diesen Mittwoch einsichtig und gewährte allen Parlamentariern das Einsichtsrecht.

Absolut oder relativ

Doch am selben Mittwoch gab es erneut Ärger – mit einer Fehlinformation vor laufenden Kameras. Bundesrat Beat Jans und sein Migrations-Staatssekretär Vincenzo Mascioli informierten über die vorgesehene Schutzklausel zur Begrenzung der EU-Einwanderung. Mascioli nannte vier konkrete Schwellenwerte, die der Bundesrat vorschlagen will. Beim Erreichen von nur schon einem dieser Schwellenwerte müsste der Bundesrat laut dem Vorschlag die Auslösung der Schutzklausel prüfen. Drei der Schwellenwerte beziehen sich auf die Veränderung des Grenzgängerbestands, die Erhöhung der Arbeitslosigkeit und die Zunahme der Sozialhilfebezüger aus der EU – jeweils innert Jahresfrist.

Am meisten zu reden gab der genannte Schwellenwert zur Nettoeinwanderung aus der EU. Der vorgeschlagene Wert beträgt 0,74 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz am Ende des Vorjahrs. 2024 belief sich die EU-Nettozuwanderung auf rund 54 000 Personen – was 0,6 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung Ende 2023 ausmachte. Der Schwellenwert wäre in dieser Lesart bei einer EU-Nettoeinwanderung von etwas über 66 000 erreicht worden.

Doch diese Lesart ist laut Masciolis Darstellung vom Mittwoch falsch. Es gehe hier nicht um das Einwanderungsniveau, sondern «um eine rasche Veränderung der Zuwanderung» – denn Probleme zeigten sich eher bei einer raschen Zunahme als bei konstanter Zuwanderung. Das hat eine gewisse Logik, doch eine Zunahme der Nettoeinwanderung um über 66  000 innert Jahresfrist erscheint unrealistisch.

Doppelte Klarstellung

Eine vom Staatssekretariat für Migration (SEM) ebenfalls am Mittwoch verschickte E-Mail war derweil widersprüchlich: Sie sprach einerseits von einer «ausserordentlichen Zunahme der Nettoeinwanderung», doch gemäss dem gelieferten Zahlenbeispiel ist nur die absolute EU-Nettoeinwanderung relevant. Auf Nachfrage der NZZ stellte das SEM am Donnerstag klar: Es geht um die absolute EU-Nettoeinwanderung, und die Aussage des Staatssekretärs vom Mittwoch war falsch.

Der Zuger SVP-Nationalrat und Fraktionschef Thomas Aeschi streute am Freitag eine E-Mail, in der er eine Klarstellung vom SEM erbat und auf seinen bevorstehenden Auftritt in der TV-«Arena» zur Schutzklausel vom Freitagabend verwies. Gegenüber der NZZ bestätigte das SEM am Freitag nochmals die am Vortag gelieferte Lesart.

Keine Frage: Die Bundesvertreter machten in dieser Episode eine schlechte Figur. Die Kritiker der EU-Verträge werden dies auszuschlachten wissen. Doch letztlich sind die Possen zum Fehler des Staatssekretärs und zum Lesezugang zu den Vertragstexten Nebenschauplätze, die vom Wesentlichen ablenken – den Inhalten der Verträge. Man zählt deshalb die Tage, bis das Publikum die 800 Seiten Vertragstext endlich zu Gesicht bekommt. Bleibt nur zu hoffen, dass die Texte dann auch eifrig gelesen werden.

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