Mittwoch, Oktober 2

Der Zughersteller hat in den fünf Jahren seiner Börsenexistenz die Erwartungen enttäuscht. Seine Aktien notieren heute nahe ihrem Tiefst, und die Frage lautet, ob sich ein Einstieg auf diesem Niveau lohnt: Die Argumente, die dafür und dagegen sprechen.

Kein Zweifel, Stadler Rail löst unter Anlegern in der Schweiz Emotionen aus. Das war schon beim Börsengang im April 2019 der Fall, als Patron und Grossaktionär Peter Spuhler davon sprach, er wünsche sich eine Volksaktie – es hat sich allerdings gezeigt, dass es selbst für Anlagespezialisten eine Herausforderung darstellt, sich ein adäquates Urteil über Stadler Rail zu bilden.

Vieles ist seit dem IPO nicht wie geplant verlaufen. Verglichen zum damaligen Emissionspreis von 38 Fr. haben die Aktien, inklusive Dividenden, eine Gesamtrendite von minus 15% gebracht. Der Swiss Performance Index (SPI), der die Dividendenzahlungen ebenfalls berücksichtigt, hat im selben Zeitraum 43% zugelegt. Nachdem die Stadler-Titel vor Ausbruch der Coronakrise 2020 ein Hoch von 50.35 Fr. erreicht hatten, notieren sie nun unter 28 Fr., nicht weit weg vom Tiefst von 25.78 Fr. im Oktober 2022.

«Zu hohe Ziele definiert»

Daniel Lenz, Manager des Schroder (CH) Swiss Small & Mid Cap Fund, hält fest, dass die operative Leistung des Unternehmens in den vergangenen fünf Jahren enttäuscht habe. Ein Grund dafür sei, dass man beim IPO «schlicht zu hohe Ziele definiert» habe.

Auch Marc Possa, Manager des Fonds SaraSelect, bekommt immer wieder den Vorwurf zu hören, dass der Zughersteller es seit dem Börsengang nicht geschafft habe, die Erwartungen zu erfüllen. Dennoch hat er die Beteiligung an Stadler zu den aktuell tieferen Kursen erhöht.

Die Auftragslage war nie das Problem des Unternehmens aus Bussnang. Im letzten Jahr lag der Auftragseingang mit 6,8 Mrd. Fr. erneut klar über der strategischen Zielgrösse von 1,5-mal den Vorjahresumsatz. So hat der Auftragsbestand weiter zugenommen: Von 2016 bis 2023 ist er um fast 15% pro anno auf 24,4 Mrd. Fr. gewachsen. Damit hat sich der Zughersteller über Jahre eine gute Auslastung gesichert, sagt Possa.

Die Probleme von Stadler beginnen beim Umsatz. Beim IPO 2019 stellte die Unternehmensführung in Aussicht, dass er bereits im darauffolgenden Jahr auf 4 Mrd. Fr. steigen könne – dieser Wert ist bis heute nicht erreicht worden. Obwohl jeweils ein hoher Prozentsatz des Umsatzes durch bestehende Aufträge gesichert ist, sind die Vorgaben wiederholt verfehlt worden, wie zuletzt.

Das Kernproblem

Für 2023 hatte Stadler einen Umsatz in der Spanne von 3,7 bis 4 Mrd. Fr. prognostiziert. Effektiv nahm er um 4% auf 3,6 Mrd. Fr. ab und lag damit auch unter dem Analystenkonsens. Negative Währungseffekte kosteten knapp 100 Mio. Fr. Umsatz.

Das Kernproblem von Stadler aber ist die Entwicklung des Betriebsgewinnes: Trotz guter Auftragslage ist der Ebit im Zeitraum von 2019 bis 2023 nicht gestiegen, sondern gut 5% gesunken. Entsprechend stark schrumpfte die Marge: Zuletzt betrug sie 5,1%, nur im Covid-Jahr 2020 fiel sie ebenso tief aus. Der höchste bekannte Wert datiert von 2016, als eine Ebit-Marge von 8,7% resultierte.

Natürlich schlagen sich die Währungseffekte auch hier nieder: Wie Lenz von Schroders ausführt, hatte der starke Franken 2023 einen negativen Einfluss auf die Marge von rund 0,5 Prozentpunkten. Die Währungsveränderungen können indes die über Jahre schwache Entwicklung des Ebit nur zum Teil erklären.

Anteil an SBB-Aufträgen sinkt

Lenz verweist auf einen weiteren Punkt, auf den der Kapitalmarkt beim IPO wohl zu wenig vorbereitet worden sei und den vielleicht auch die Führung von Stadler unterschätzt habe. Das Unternehmen ist seit 2017 international stark gewachsen. Die Produktivität in seinen Fabriken ausserhalb der Schweiz sei aber geringer, meint Lenz. «Vor allem hat das Wachstum ausserhalb des Heimmarkts dazu geführt, dass der Anteil von Aufträgen der SBB und anderer Schweizer Bahngesellschaften am Total gesunken ist.»

Auch wenn es nie vom Unternehmen kommuniziert worden ist, vermuten informierte Kreise, dass die SBB-Aufträge für Stadler deutlich höhere Margen bringen und mit tieferen Risiken verbunden sind. Gemäss Lenz gebe der internationale Markt einfach weniger her und die grossen Ausschreibungen seien hart umkämpft. Aus diesem Grund ist der Fondsmanager skeptisch, ob Stadler die mittelfristigen Ziele erreichen kann.

Irritationen über den Cashflow

Ein Punkt, der immer wieder für Unsicherheit im Markt sorgt, ist die Entwicklung des Cashflows. Im Januar sorgte die UBS für Aufregung, als sie die Stadler-Aktie von «Kaufen» auf «Verkaufen» zurückstufte, worauf der Kurs an einem Tag 8% einbrach. Der zuständige Analyst gab dabei seine Meinung kund, dass sich die vorangegangene Erholung des Cashflows bei Stadler weitgehend erledigt habe.

Fondsmanager Possa sagt dazu, es sei für Analysten schwierig einzuschätzen, wie die Entwicklung von Umsatz und Cashflow bei Stadler zusammenwirken. Das hängt mit der Buchungspraxis zusammen. Sie ist konservativ: Der Zughersteller erfasst grundsätzlich den Umsatz erst nach Auslieferung einer Einheit, bei der Schlüsselübergabe.

Geld fliesst aber schon vorher: Nach Vertragsunterzeichnung nimmt Stadler von den Kunden gemeinhin Anzahlungen von 10 bis 30% des Auftragswerts an. Während der Auftragsabwicklung, die bis fünf Jahre dauern kann, werden weitere Meilensteinzahlungen in Höhe von 70 bis 75% fällig. Die Restzahlung bei Auslieferung der Einheiten beläuft sich durchschnittlich noch auf 5 bis 15%.

Bei Kunden mit geringerer Bonität fallen die Anzahlungen höher aus. Dagegen leisten Topkunden kaum eine Anzahlung, sondern zahlen erst am Schluss bei Abnahme der Einheiten. Wann genau das Geld fliesst, hängt damit auch vom Kundenmix ab.

Die Crux mit der Umsatzerfassung

Die Arbeit der Analysten wird insofern weiter erschwert, als es auch Situationen gibt, in denen Umsatz erfasst wird, bevor Anspruch auf eine Rechnungsstellung besteht. In solchen Fällen bilanziert Stadler einen entsprechenden Entschädigungsanspruch: So werden Umsätze gebucht, bevor Geld fliesst.

Von 2017 bis 2020 hat sich die Differenz zwischen Entschädigungsansprüchen für schon als Umsatz verrechnete, aber noch nicht fakturierte Einheiten und darauf erhaltenen Anzahlungen stark ausgeweitet. Zugleich stieg Stadlers Umsatz kräftig, doch der operative Cashflow war negativ. Das hat manche Beobachter irritiert.

Weil die Zusammenhänge von Umsatz und Cashflow schwierig zu interpretieren sind, meint Possa von SaraSelect: «Letztlich müssen wir Marktteilnehmer der Führung von Stadler vertrauen, dass sie den Geldfluss im Griff hat.»

Fondsmanager Lenz merkt an, der Cashflow sei zurzeit «nicht das Hauptproblem» von Stadler. Dieser habe sich nach einigen enttäuschenden Jahren seit 2021 verbessert und 2023 zum ersten Mal positiv überrascht, vor allem dank hohen Kundenvorauszahlungen. Problematisch sei vielmehr, dass der Ebit nicht gestiegen sei.

Eine Reihe von Ausnahmejahren

Mit Blick auf die zuletzt erneut enttäuschende Entwicklung gibt Possa zu bedenken, «dass Stadler im Grunde vier oder gar fünf Ausnahmejahre hintereinander erfahren hat». Angefangen mit dem Covid-Jahr 2020, als der Ebit fast ein Fünftel einbrach. Infolge des Ukrainekriegs gab es Probleme mit der Aktivität in Weissrussland. Es folgten Inflation und ungünstige Währungsveränderungen. Possa beurteilt ein Unternehmen aber auch danach, wie es mit Externalitäten umzugehen weiss. Seiner Meinung nach hat es Stadler gemessen an den Umständen «sehr gut gemacht».

Der Fondsmanager hält den Zughersteller sowohl für sehr gut positioniert wie sehr gut geführt. In jüngerer Vergangenheit gab es im Management indes Unruhe: Im Mai 2020 trat Thomas Ahlburg als CEO nach nur gut zwei Jahren im Amt per sofort ab. Der Grund dafür waren Differenzen auch mit Patron Spuhler, der ihn übergangsweise ersetzte. Seit Anfang 2023 hat Stadler mit Markus Bernsteiner, bereits seit 1999 im Unternehmen, wieder einen festen CEO. Diesmal stimme die Chemie, weiss Possa.

Chance dank Neutralität

Grundsätzlich agiert Stadler in einem vielversprechenden Markt: Der öffentliche Schienenverkehr hat grosses Ausbaupotenzial und wird staatlich gefördert. Possa sagt zudem, dass die Bestrebungen in den USA und dem Westen, sich von China unabhängiger zu machen, grosse Chancen eröffnen. «Stadler könnte, wie andere Schweizer Unternehmen, gegenüber chinesischer Konkurrenz von einem Neutralitätsbonus profitieren.»

Eine strategische Lücke im Angebot hat Stadler geschlossen: Seit 2022 werden Signalling-Lösungen als ein eigenes Berichtssegment ausgewiesen. Die Bahnsicherungs- und Signaltechnik dient dem Zusammenspiel zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur und verfolgt den Zweck, Zugreisen sicherer und effizienter zu machen. Sie wird umso mehr zu einem kritischen Erfolgsfaktor, je mehr das automatisierte Fahren (Automatic Train Operation) an Bedeutung zunimmt.

Früher musste Stadler Signalling-Lösungen von direkten Konkurrenten wie Alstom einkaufen. Ab 2016 begannen die Bussnanger, sich selbst in diesem Geschäft zu etablieren und es auszubauen. Heute zählen sie sich zu den Komplettanbietern. 2023 wuchs der Umsatz des Segments Signalling um 28% auf 64 Mio. Fr.

Tauziehen um Talgo: keine Lösung für Stadler

Nicht im strategischen Fokus liegt bisher das Marktsegment für Züge der Kategorie «Very High Speed». Es scheint aber eine Chance für einen Einstieg zu geben: Um den spanischen Konkurrenten Talgo, der im Segment für superschnelle Züge tätig ist, gibt es ein Tauziehen, und der Investmentfonds Trilantic Capital Partners soll seinen indirekt gehaltenen Aktienanteil von 40% daran bereits Stadler zum Kauf angeboten haben. Würde eine Übernahme für die Schweizer Sinn machen?

Das Urteil von Fondsmanager Lenz ist klar: Stadler solle sich auf die Verbesserung ihrer operativen Resultate konzentrieren. Er verweist darauf, dass die Aktien von Talgo sich seit dem IPO 2015 fast halbiert haben und das Unternehmen langfristig keinen Wert für die Aktionäre generieren konnte: «Aus meiner Sicht löst Talgo die Probleme von Stadler nicht.»

Possa gibt daneben zu bedenken, dass Talgo offenbar mit technologischen Problemen zu kämpfen habe. Aus seinen Gesprächen mit Involvierten hat er herausgehört, dass Stadler weiterhin kein Interesse habe, in das enge Marktsegment «Very High Speed» einzusteigen. Er ist überzeugt, dass eine Übernahme von Talgo für Stadler weder sinnvoll ist noch infrage kommt.

Zweifel bleiben

Uneins sind sich die beiden Fondsmanager in ihrem Fazit über Stadler und die Kurschancen. Das Unternehmen selbst prognostiziert bis 2025 eine Umsatzzunahme auf mindestens 4 Mrd. Fr. 2026 soll er dann weiter auf 5 bis 5,5 Mrd. Fr. steigen. Bis dahin soll die Ebit-Marge, die dieses Jahr auf tiefem Niveau stagnieren dürfte, zudem auf 7 bis 8% klettern – wobei sich die Führung überzeugt gibt, dass unter normalen Rahmenbedingungen mittelfristig ein Wert von 8 bis 9% zu erreichen sei.

Lenz meint dazu, dass Stadler mit solch einer Marge Wert schaffen könne, aber 5 bis 6% würden dafür nicht reichen. Obwohl er seine Zweifel hat, ob die Margenziele erreichbar sind, will er das Unternehmen auch nicht abschreiben: «Mit einer Rendite auf das investierte Kapital von über 10% verdient es seine Kapitalkosten.»

Was die Aktie betrifft, hält er eine kurzfristige Kurserholung für möglich, auch weil der momentan etwas schwächere Franken die Marge stützt. Mittel- bis langfristig bleibt er skeptisch, zumal die Aktie selbst auf dem aktuell tiefen Kursniveau «nicht richtig günstig bewertet ist».

Possa stimmt zwar zu, dass die Stadler-Aktie nicht wirklich günstig sei. Die Kursschwäche, die die Verkaufsempfehlung der UBS im Januar ausgelöst hatte, hat er dennoch als eine Chance für Zukäufe gesehen. Ihm gefällt die starke Position des Zugherstellers in einem Markt, der dank dem Trend vom Individual- hin zum öffentlichen Verkehr langfristiges Wachstum verspricht. Zudem werde die Umsatzverschiebung vom Segment Rolling Stock (Schienenfahrzeuge, Umsatzanteil 2023: 85%) hin zu den Segmenten Signalling (2%) und Service & Components (13%) wieder zu höheren Margen führen.

Der Faktor Unternehmensführung

Vor allem schätzt es Possa auch, wenn bei Unternehmen die Interessen der Unternehmensführung mit denen der Aktionäre übereinstimmen. Das ist bei Stadler der Fall, da Spuhler als exekutiver VR-Präsident mit einem Anteil von 42% grösster Aktionär ist. Spuhler bürge für Kontinuität und die nötige Ruhe im Unternehmen.

The Market ist der Ansicht, dass das aktuelle Leistungsniveau wie auch die Schwierigkeiten bei der Analyse des Unternehmens nicht zugunsten eines Engagements in diesen Aktien sprechen. Wer sie dennoch kauft, setzt auf die Qualitäten des Managements – getreu der Devise des Investors Martin Ebner: Wer Aktien kauft, kauft das Management.

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